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01. Nov. 2013

Partner auf Augenhöhe

Die Bundeswehr hat aus dem Afghanistan-Einsatz viel gelernt

Zwölf Jahre Afghanistan haben zu gewaltigen Veränderungen in der Bundeswehr geführt, die vor allem von den Soldaten im Einsatz angestoßen wurden. Deshalb verfügt Deutschland heute über eine gut ausgerüstete und hochprofessionelle Armee, die vielfältig einsetzbar ist und auf Augenhöhe mit den Alliierten kooperieren kann.

Der Einsatz in Afghanistan war für die Bundeswehr ein Erfolg – obwohl die Mission an sich als gescheitert gelten kann, das Land alles andere als stabil ist, die Gefahr eines langanhaltenden Bürgerkriegs fortbesteht und man mit einer erneuten Machtübernahme durch die Taliban rechnen muss. Während ihres zwölf Jahre dauernden Engagements in Afghanistan hat sich die Bundeswehr von einer Armee der Territorialverteidigung und des robusten Peacekeeping (Friedenssicherung) zu einer Einsatzarmee weiterentwickelt, die heute das gesamte Spektrum militärischer Aufgaben einschließlich des Gefechts abdecken und ausüben kann.

Das Besondere an diesem Prozess ist, dass er politisch weder intendiert noch gewollt war, sondern das Ergebnis der Erfahrungen im Einsatz ist. Seine Protagonisten waren Soldaten, die mit ihrer Einsatzerfahrung aus Afghanistan und dem Wissen um die Notwendigkeit der Veränderung der deutschen Armee zurückgekehrt sind. Ausgelöst wurde dieser Prozess der Anpassung und Transformation – wie so oft im Krieg – durch die Realität im Einsatzland.

Als der Bundestag Ende 2001 auf Antrag der rot-grünen Bundesregierung den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan beschloss, schickten die Abgeordneten eine Armee nach Afghanistan, die zwar Einsatzerfahrung aufweisen konnte (insbesondere in Bosnien und im Kosovo). Ihr Schwerpunkt aber war auf Einsätze ausgerichtet, die, grob gesprochen, dem breiten Spektrum des Peacekeeping zugeordnet werden konnten. Darüber hinaus ging die deutsche Einsatzphilosophie davon aus, dass militärische Einsätze eine stabilisierende Funktion haben und den politischen Prozess der Konfliktregulierung absichern sollten. Aus dieser Einsatzphilosophie resultierte die Tatsache, dass das Einsatzspektrum deutscher Streitkräfte in Tätigkeiten wie der Trennung von Konfliktparteien und der Absicherung von Wiederaufbaumaßnahmen bestand, immer unter der Annahme, dass der Einsatz unparteiisch sei und von der Zivilbevölkerung willkommen geheißen würde.1

All diese Voraussetzungen waren in Afghanistan jedoch nicht gegeben. Der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der ISAF-Mission, aber auch anfänglich der Operation Enduring Freedom, erfolgte in einem „feindlichen Umfeld“. Von Beginn an war die Bundeswehr Teil einer Konfliktpartei, nämlich der Nordallianz sowie den Gefolgsleuten von Präsident Hamid Karsai. Von der Zustimmung großer Teile der Bevölkerung zum Einsatz der internationalen Koalition kann nur bedingt gesprochen werden.

Zu diesen veränderten politischen Rahmenbedingungen des Einsatzes deutscher Streitkräfte kam noch ein verändertes operatives Umfeld. Denn zum ersten Mal befand sich die Bundeswehr in einem Einsatz, der fernab der Heimat und damit auch der Nachschubdepots war; in einem regionalen Umfeld, in dem es keine Verbündeten gab, und in einem Land, das in sozialer, politischer und ökonomischer Hinsicht fremd war und noch heute ist. Zugleich wurden der Bundeswehr, wie auch anderen europäischen Streitkräften, bestimmte Einsatzbeschränkungen (Caveats) auferlegt, was ihre Beteiligung an der ISAF-Mission äußerst schwierig machte. So wurden für die Soldaten restriktive Bedingungen für den Gebrauch von Schusswaffen erlassen oder es war ihnen verboten, auf flüchtende Gegner zu schießen, wenn diese von einem Angriff ablassen sollten.

Die Bundesregierung widerstand erfolgreich jeglichen Versuchen der alliierten Partner, allen voran der USA, ihre Einsatzrestriktionen zu lockern oder die Bundeswehr auch in anderen Teilen Afghanistans, insbesondere in den umkämpften Südprovinzen, einzusetzen. Die deutsche Haltung begann sich erst in dem Moment zu ändern, als deutsche Truppen von den Gegnern angegriffen und Soldaten verletzt und getötet wurden.

Die Transformation

Als wichtigste Beispiele für die Anpassung der Bundeswehr an die neue Lage in Afghanistan müssen die Änderung der berühmten „Taschenkarte“, die Entwicklung einer deutschen Counterinsurgency-Doktrin (COIN) sowie die direkte Beteiligung deutscher Soldaten an militärischen Gefechtsoperationen genannt werden.2

Die „Taschenkarte“, ein Dokument für Soldaten, das die Regeln für die Streitkräfte zum Einsatz von Gewalt und Zwangsmaßnahmen bei einer Operation festhält, war zu Beginn des Einsatzes äußerst restriktiv gehalten und sah den Gebrauch von Schusswaffen nur im Falle eines direkten Angriffs vor. Nachdem sich die Sicherheitslage in den von der Bundeswehr kontrollierten Gebieten durch Anschläge auf das deutsche Kontingent verschlechterte, forderten die Soldaten, die in der Taschenkarte enthaltenen Regeln für den Einsatz von Schusswaffen anzupassen.
Dieser Druck von unten führte letzten Endes im Jahr 2009 zu einer Veränderung der Taschenkarte. Neben der Erlaubnis, auf fliehende Angreifer zu schießen, wurde auch festgehalten, dass der Gebrauch von Schusswaffen nicht mehr angekündigt werden muss, wenn es die Situation nicht ermöglicht. Dadurch wurde eine Angleichung an die bei den meisten ISAF-Partnern üblichen Regeln erreicht. Auf der taktischen Ebene wurden die Sicherheit deutscher Soldaten und das präventive Element des deutschen Einsatzes gestärkt. Auch die in der Folgezeit reduzierten Caveats für den Einsatz deutscher Soldaten trugen dazu bei, die Bundeswehr in ihrer ­Tätigkeit in Afghanistan ISAF- und NATO-kompatibler werden zu lassen.3

Im Bereich der Counterinsurgency tat sich die deutsche Verteidigungs­bürokratie sowie die deutsche Politik schwer, entsprechende Anpassungsmaßnahmen durchzuführen. Zu sehr belasteten die Erinnerungen an die Partisanenbekämpfung durch die deutsche Wehrmacht die Diskussionen. Auch hätte das Eingeständnis, dass es in Afghanistan eines militärischen und zivilen Konzepts der Aufstandsbekämpfung bedürfe, das vorherrschende Narrativ ad absurdum geführt, wonach es sich bei diesem Einsatz um eine „Stabilisierungs- und Unterstützungsmission“ handele.

Der steigende Druck der aus Afghanistan zurückkehrenden Kommandeure, endlich der Realität im Einsatzgebiet ins Auge zu sehen, führte zu einer ersten zögerlichen Diskussion um eine deutsche COIN-Strategie. Elemente einer solchen flossen in der Folgezeit auch in verschiedene Doktrinen der Teilstreitkräfte der Bundeswehr, insbesondere des Heeres, ein.4 Dabei hat die deutsche Politik den Begriff Aufstandsbekämpfung gemieden, denn, so wurde es offiziell begründet, Aufstandsbekämpfung beziehe den Schutz der Bevölkerung vor Aufständischen nicht mit ein, wie es das NATO/ISAF-COIN-Konzept vorsehen würde.5 Es gibt aber aus politischen Gründen kein in sich geschlossenes deutsches COIN-Konzept.

Interessant ist jedoch, dass auf der Ebene des Trainings Veränderungen eingeführt wurden, die sich nur mit der wichtiger werdenden Aufgabe der Aufstandsbekämpfung erklären lassen. Das neue Schieß- und Ausbildungskonzept, welches das Training unter Einsatzbedingungen simulieren soll und insbesondere das Schießen aus naher Distanz übt, ist nur ein Ausdruck davon. Und auch die unter Verteidigungsminister Theodor zu Guttenberg initiierte Bundeswehrreform sah eine Stärkung der Infanterie vor. Die von den Kommandeuren vor Ort vermittelte Einsatzerfahrung führte zu einer intensivierten Beschäftigung mit Elementen einer deutschen COIN-Strategie. Sie schlägt sich in Dokumenten wie der Heeresdienstvorschrift (Hdv) 100/100, Truppenführung von Landstreitkräften, nieder, die den Begriff COIN zwar nicht verwendet, jedoch Elemente einer deutschen COIN-Strategie enthält. Papiere wie das Dokument „Konzeptionelle Grundlagen zur Wahrnehmung militärischer Aufgaben im Rahmen von Counterinsurgency“, das 2008 geschrieben wurde und auf die Etablierung einer deutschen COIN-Strategie abzielte, scheiterten jedoch: Der Generalinspekteur, und damit die höchste militärische Stelle, verweigerte im Jahr 2009 die Unterschrift.6

Der dritte Aspekt, anhand dessen sich die Transformation der Bundeswehr durch den Einsatz in Afghanistan ablesen lässt, ist der möglicherweise politisch sensitivste. Er betrifft den Einsatz deutscher Streitkräfte in Gefechten. Nicht nur, dass deutsche Soldaten sich gegen direkte Angriffe zur Wehr setzen – sie nehmen darüber hinaus auch aktiv an Gefechten gegen Aufständische teil. Von der deutschen Öffentlichkeit ist fast unbemerkt ein paradigmatischer Wandel in Afghanistan eingeleitet worden: Sukzessiv ging man von der „force protection“ zur „force presence“ über. Dieser Wandel in der deutschen „force posture“ hatte zur Folge, dass deutsche Soldaten immer wieder in Gefechte mit dem Feind verwickelt wurden.7 Neben diesen kleineren Feuergefechten beteiligten sich deutsche ­Soldaten aber auch an größeren militärischen Offensivoperationen. Hervorzuheben ist die Operation Herekat Yolo II 2007, die vom damaligen Brigardegeneral Dieter Warnecke kommandiert wurde. Es handelte sich dabei um die erste offensive Militär­operation unter deutscher Führung seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Ihr Ziel war es, die von den Taliban im Norden Afghanistans gehaltenen Provinzen Faryab und Badghis zurückzuerobern sowie dem Feind eine vernichtende Niederlage zuzufügen. Obgleich diese Operation erfolgreich verlief, bemühte sich die Bundesregierung, ihre Bedeutung gegenüber der deutschen Öffentlichkeit herunterzuspielen.

Wahrnehmung in der Öffentlichkeit

Das Auseinanderklaffen zwischen dem von der Politik immer wieder betonten Stabilisierungsauftrag in Afghanistan und dem unter Beteiligung der Bundeswehr geführten Krieg am Hindukusch blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis der Bundeswehr zur bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt bis heute den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ab, und der Soldat im Einsatz vermisst die Rückendeckung für sein „wirkliches“ Tun in Afghanistan durch Politik und Gesellschaft. Diese Konstellation hat sich unter den Verteidigungsministern zu Guttenberg und Thomas de Maizière verbessert, da beide Minister sich nicht scheuten, klare Worte hinsichtlich des tatsächlichen Einsatzes zu finden. Trotzdem bleibt das Spannungsverhältnis bestehen. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere hinsichtlich der Würdigung des Einsatzes in Afghanistan für den einzelnen Soldaten in den vergangenen Jahren eine Art militärischer Erinnerungskultur, wenn auch nur in Ansätzen, geschaffen wurde. Auch sie ist ein Teil des Normalisierungsprozesses, den die deutsche Verteidigungspolitik durch ihren Einsatz in Afghanistan durchlaufen hat.

Der Anstoß ging wiederum nicht von der Politik, sondern von den ­Soldaten aus. Sie waren es, die ihren gefallenen Kameraden die Ehre er­wiesen, indem sie einen Ehrenhain errichteten und sie durch ein Ehrenspalier verabschiedeten. Die Notwendigkeit, gefallene Soldaten zu würdigen, wurde vom Ministerium, insbesondere vom Planungsstab, recht früh erkannt und führte zu einer Veränderung deutscher Erinnerungskultur – so nahmen auch hochrangige Politiker an den Trauerfeiern für gefallene Soldaten teil. Dadurch rückte der Soldatentod in die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit.

Weitere wichtige Schritte zur Etablierung einer Einsatz- und Erinnerungskultur in Deutschland sind die Errichtung eines Ehrenmals für die Gefallenen (gegen den Vorschlag von Teilen der Oppositionsparteien, die dieses Ehrenmal auch auf die im Einsatz ums Leben gekommenen Polizisten und Feuerwehrmänner ausweiten wollten) sowie das 2009 eingeführte Ehrenkreuz der Bundeswehr für ­Tapferkeit und die 2010 eingeführte Einsatzmedaille Gefecht. Diese Maßnahmen sollen die politische und gesellschaftliche Anerkennung für den Einsatz der Soldaten im Afghanistan-Konflikt ausdrücken.

Trotz allem eine Erfolgsgeschichte

So makaber es klingen mag, aber Afghanistan war für die Bundeswehr eine Training-on-the-job-Erfahrung. Obgleich das übergeordnete Ziel, die Stabilisierung des Landes, durch den Einsatz nicht erzielt wurde – und wohl auch zukünftig nicht zu erzielen sein wird –, löste der Einsatz der Bundeswehr eine gewaltige Transforma­tion aus, die dazu führte, dass die Bundeswehr heute eine für alle Einsatzspektren einsetzbare, gut ausgerüstete und hochprofessionelle Armee geworden ist. Sicher gibt es auch Defizite zu beklagen. So war es nicht immer möglich, der Bundeswehr die Ausrüstung zur Verfügung zu stellen, die sie für eine optimale Durchführung ihrer Mission gebraucht hätte, und bestimmt gibt es auf der operativen und taktischen Ebene noch Verbesserungsbedarf, sollte die Bundeswehr zukünftig in einen ähnlichen Einsatz geschickt werden. Dies alles darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erfahrungen, die die Bundeswehr in den vergangenen zwölf Jahren in Afghanistan gemacht hat, und die Lehren, die sie bislang aus dem Einsatz gezogen hat, dazu beigetragen haben, eine beispiellose Transformation der Truppe in Gang zu setzen, die sie in die Lage versetzt hat, mit Alliierten und Verbündeten auf Augenhöhe in Einsätze zu gehen.

Prof. Dr. Carlo Masala lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München.

  • 1Vgl. Timo Noetzel: Germany’s Small War in Afghanistan: Military Learning amid Politico-Strategic Inertia, in: Contemporary Security Policy, Dezember 2010, S. 486–508, hier S. 486f.
  • 2Vgl. ausführlicher die demnächst erscheinende Dissertationsschrift von Caroline Hilpert: Accidental Combatants: German Strategic Culture and the Bundeswehr’s Deployment to Afghanistan, Ms., München 2012, S. 216–232. Andere institutionelle Anpassungsleistungen sind z.B. die Errichtung des Einsatzführungsstabs, der dem Generalinspekteur direkt unterstellt ist, sowie die Beschleunigung des Prozesses zur Anpassung des Materials an die Einsatzrealität.
  • 3Vgl. Rainer Glatz: ISAF Lessons Learned: A German Perspective, PRISM, 2/2011, S. 169–176, hier S. 173.
  • 4Vgl. für die Anfangszeit: Timo Noetzel und Benjamin Schreer: Missing Links: The Evolution of German Counterinsurgency Thinking, The RUSI-Journal, 1/2009, S. 16–22.
  • 5Vgl. ISAF Headquarters Kabul (Hg.): ISAF Commander’s Counterinsurgency Guidance, Kabul 2009, abrufbar unter: http://www.nato.int/isaf/docu/pressreleases/2009/08/pr090827-643.html.
  • 6Vgl. Benjamin Schreer: Political Constraints: Germany and Counterinsurgency, Security Challenges, Herbst 2010, S. 97–108, hier S. 105.
  • 7Vgl. Hans-Christoph Grohmann: Führung im Gefecht. Erfahrungen und Gedanken zur Verantwortung und Belastung des militärischen Führers, Strategie & Technik 4/2011, S. 11–16 sowie Michael Matz: Jägerregiment 1. Im Einsatz als Quick Reaction Force RC North, Strategie &­Technik 1/2011, S. 20–24
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 90-95

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