Lektionen aus dem Irak-Krieg
Die Debatte um Stabilität vs. Demokratie, um Realismus vs. Idealismus steht noch aus
Zwei Jahre nach Beginn des Irak-Kriegs ist es gerade für die NATO an der Zeit, nach den langfristigen Lehren aus dem Verlauf des Konflikts zu fragen. Für das Vorgehen im Irak könnte dies bedeuten, dass Stabilität zunächst wichtiger ist als Demokratie. Darüber hinaus sollte die Lage am Golf Anlass bieten, über ein angemessenes Verhältnis von Realismus und Idealismus in der internationalen Politik nachzudenken. War die Operation „Iraqi Freedom“ ein frei gewählter oder ein unausweichlicher Krieg? War sie ein natürliches Nachspiel der Operation „Desert Storm“ oder ein Akt vorbeugender Selbstverteidigung? Welche Lektionen können die Staaten der westlichen Welt aus den Erfahrungen der von den USA geführten Koalition im Irak lernen? Welche politischen und militärischen Möglichkeiten könnten die Koalitionstruppen im Irak in der nächsten Zeit verfolgen? Und welche großen Fragen für die Zeit nach dem Kalten Krieg bleiben unbeantwortet (und unberührt) von den lokalen Ereignissen im Mittleren Osten? Mit diesen Fragen ringt der folgende Artikel. Damit sollen einige Denkanregungen gegeben und möglicherweise eine Debatte angestoßen werden.
Politische Lektionen
Tatsächlich wirksam sind Lektionen nur, wenn sie beunruhigen. Sie sollten nicht nur Erfolge aufzählen, sondern auch und vor allem ideologische Voreingenommenheit und getroffene Annahmen in Frage stellen. Sie sollten an das erinnern, was man vernachlässigt, falsch oder unzureichend getan hat – und warum dem so war.
(1) Einige westliche Führer sind einer gefährlichen und irreführenden Fiktion aus der Zeit des Kalten Krieges nachgejagt. Meistens formulieren sie diese Fiktion so: „Wir haben Probleme mit der Regierung, nicht mit dem Volk.“ Eine solche künstliche Unterscheidung hat ihre Vorteile. In Zeiten frei gewählter Kriege feiert man mit solchen Sprüchen ein vermeintlich allwissendes und ausgefeiltes Urteil. Ziel ist es, nur einen begrenzten Krieg mit begrenzten Mitteln für ein begrenztes Ziel zu erklären und ihn „nur“ gegen einen kleinen Teil des politischen Systems des Gegners zu führen. Unglücklicherweise kann eine solche „Logik“ aber auch blind machen, weil sie die Vorstellung beinhaltet, einen Staat gezielt „enthaupten“ zu können, ohne seine sozialen Strukturen zu zerstören, so dass eine Gesellschaft ohne größere Verwerfungen und mit ihrer eigenen psychosozialen Dynamik weiterhin funktioniert. Diese für die öffentliche Darstellung nützliche Erwartung hat sich im Irak erneut als falsch erwiesen.
(2) Wenn man eine Regierung stürzen will, muss man unbedingt sicher stellen, nicht den Staat aufzulösen. Leider haben die Koalitionstruppen genau dies, trotz der warnenden Beispiele des Golf-Kriegs von 1991, getan. Anstelle der Wiederherstellung eines staatlichen Gewaltmonopols hat man durch die Auflösung der Streitkräfte sowie durch die De-Baathifizierung das Land in Anarchie und Chaos abgleiten lassen.
(3) Modernisierung zu fördern ist nicht das gleiche wie Demokratie zu fördern. Der bisher nicht in der Realität erprobte Versuch, Demokratie zu verbreiten, ist ein bestenfalls fragwürdiges, wenn nicht gar unmögliches Unternehmen, zumal wenn es sich bei dem Objekt der Demokratisierung um einen Staat von 26 Millionen Menschen handelt – gespalten in sich bekriegende Gruppen.
(4) Sollten sich keine neuen geheimdienstlichen Erkenntnisse einstellen, steht fest, dass Irak keinen Ehrenplatz im amerikanischen Feldzug gegen den transnationalen Terror einnehmen wird. Tatsächlich ist Terrorismus nach wie vor eine Methode oder eine Strategie, aber nicht der Name eines Gegners. Diese Auszeichnung gebührt in erster Linie dem radikalen Islamismus, der eine theologisch-politisch begründete Feindseligkeit nicht nur gegen die amerikanische und westliche Politik hegt, sondern auch gegen den Westen überhaupt und gegen das, wofür der Westen steht und wie er im Nahen und Mittleren Osten agiert. Weil der Irak kein Paradebeispiel für diese besondere Art der Feindseligkeit war, warnt dieses Beispiel vor einem zunehmenden Problem in den internationalen Beziehungen – vor der Tendenz, ungleiche politische Phänomene miteinander zu verknüpfen.
(5) In einer globalisierten Welt gibt es keine irrelevanten Nationen mehr. Politik und Kriegspläne müssen auf regionale Kontexte abgestimmt werden. Das politische Ziel im Irak hätte folglich sein müssen, „die Vorstellungskraft der arabischen Welt zu fesseln“ (besonders was politische und wirtschaftliche Reformen angeht) und nicht lediglich das Regime zu stürzen.
(6) Die Koalitionstruppen haben im Irak eindrucksvoll gezeigt, dass sie mit minimalem Einsatz maximale Ergebnisse erzielen können, so wie es die Theoretiker der „Revolution in Military Affairs“ (RMA) geplant haben. Sollen diese hochtechnisierten Truppen aber ein Land befrieden und ganz traditionell kontrollieren, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit scheitern. Diese Unfähigkeit ist nicht nur eine Frage unzureichender Truppenstärke, sondern auch eine Frage der Rollenverteilung – verschiedene Einheiten müssten auf je ganz spezielle Aufgaben wie High-Tech-Kriegführung oder polizeiliche Tätigkeiten vorbereitet werden.
(7) Diese Schlussfolgerung deutet ein verwandtes Problem an, das zwar beunruhigend ist, das sich aber zu diskutieren lohnt: Ist es eigentlich kontraproduktiv, einen zusammengebrochenen Staat um jeden Preis befrieden und kontrollieren zu wollen? Ist es vielleicht besser, trotz der „Man muss etwas dagegen tun“-Rufe und trotz des „CNN-Effekts“, Anarchie kurzfristig die Oberhand gewinnen zu lassen, damit sich „echte“ politische Stabilität schneller und erfolgreicher etablieren kann? Man sollte zumindest erwägen, ob es möglicherweise auf lange Sicht unrealistisch und wenig hilfreich ist, ein ganzes Land gegen „kreatives Chaos“ schützen zu wollen.
(8) Verteidigungsministerien sollten nicht Krieg führen und dann auch noch eine unangemessen große Rolle in der Verwaltung der Nachkriegszeit übernehmen, wie es im Irak geschehen ist. Die bürokratischen Vorteile dieser Regelung – Einheitlichkeit und ökonomische Bündelung der Kräfte – wiegen nicht die politischen Nachteile auf, etwa den Zerfall der demokratischen Gewaltenteilung, des Gewaltmonopols und der Vertrauensbildung.
(9) Kriegs- und Nachkriegsstrategien müssen eindeutig, übereinstimmend und beständig sein, wenn sie die Unterstützung der Bevölkerung und der Verbündeten erhalten sollen.
(10) Zuletzt stellt sich das Problem strategischer Geheimdiensterkenntnisse, historisch gesehen ein relativ neues Phänomen. Diese Art nachrichtendienstlicher Erkenntnisse unterscheidet sich von der Arbeitsgrundlage der Geheimdienste, den Erkenntnissen auf der taktischen und operativen Ebene. Wie die Diskussion über irakische Massenvernichtungswaffen gezeigt hat, ist der Umgang mit strategischem Wissen nicht zwangsläufig frei von Ideologie. Strategisches Wissen kann instrumentalisiert werden. Darum bedarf es größerer politischer Aufmerksamkeit und eines sensibleren Umgangs damit als bei den praktischeren Formen der Geheimdiensterkenntnisse.
Was passiert, wenn man das unterlässt, zeigt sich gegenwärtig im Irak: Die Streitkräfte der Koalition haben das Ausmaß und die Professionalität der Aufstände nicht vorausgesehen. Dieses Versagen hatte eine Sicherheitskrise zur Folge, die sich zur politischen Krise auswuchs. Obwohl die Sprache daraufhin aggressiver wurde, hat man bisher über einen Hauptakteur des Guerillakriegs im Irak – nämlich den Iran – erstaunlicherweise kaum ein Wort verloren. Hinweise auf dessen Involvierung führen zu einer Variation der zuvor gestellten Frage: Politisiert man erneut in unangemessener Weise das strategische Wissen über die Rolle Irans bei den Aufständen im Irak?
Diese Lektionen sind nur die Spitze des Eisbergs. Es hilft vielleicht, sie zu erwähnen, aber nur, wenn sie die Richtung für die Zukunft weisen. In dieser Hinsicht, besonders auf kurze Sicht, sind einige denkbare Optionen für die Koalition besser als andere.
Optionen für die nahe Zukunft
Was sollte getan werden, um die Sicherheitslage und die politische Situation im Irak zu stabilisieren und gleichzeitig die Auswirkungen eines organisierten Guerillakriegs gegen die Koalitionstruppen zu minimieren? Während der letzten Monate haben Politiker und Wissenschaftler eine Reihe erwähnenswerter Optionen erarbeitet, vom kompletten Rückzug bis zur „Regionalisierung“ des Wiederaufbaus und der Sicherheit im Irak. Unserer Meinung nach ist keine dieser Optionen, jedenfalls im Augenblick, realistisch. Sie ignorieren zu viele Faktoren vor Ort und lassen den regionalen Kontext des Irak unberücksichtigt. Am wichtigsten ist jedoch, dass diese Optionen sich nicht vorrangig auf die Dilemmata für die Politik und die Sicherheit im Irak konzentrieren. Stattdessen spiegeln sie die ausschließlich um die Frage der „Legitimität“ der gerade gewählten Mittel und Wege kreisende Debatte innerhalb des Westens wider. Die im Folgenden diskutierten Optionen gehen von der Annahme aus, dass sich die Sicherheitslage im Irak auch nach den nun abgehaltenen Wahlen nicht wesentlich ändert.
(1) Rückzug: Diejenigen, die für diese Option plädieren, behaupten, das irakische Volk würde das als positives politisches Signal werten – was durchaus stimmt. Aber damit würde der Irak auch seinem eigenen Schicksal überlassen. Angesichts der fortdauernden Spannungen zwischen verschiedenen politischen, ethnischen und religiösen Gruppen innerhalb des Landes sowie der sich auch nach den Wahlen nicht verbessernden Sicherheitslage würde ein vollständiger Rückzug höchstwahrscheinlich zu Anarchie führen. Nachbarstaaten wie der Iran, Syrien und die Türkei würden dazu angestachelt, die Entwicklung des Irak weiter zu beeinflussen und/oder eine aktive Rolle in dem dann zu erwartenden Bürgerkrieg zu spielen.
(2) Internationalisierung: Die Verfechter dieser Möglichkeit glauben, die Lage vor Ort im Irak würde sich gewissermaßen über Nacht verbessern, sobald die von den USA geführte Mission auf Bitten der zu bildenden neuen irakischen Regierung internationalisiert ist. Wer so optimistisch ist, vergisst, dass große Teile der irakischen Bevölkerung einschließlich der religiösen Führer und Stammesführer alle Ausländer als Besatzer ansehen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Mandat und ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen „Legitimität“ und sie auch die neue Regierung in Bagdad als eine Marionette Washingtons betrachten werden. Es gäbe weiterhin Aufstände, während die Sicherheitskräfte dann wahrscheinlich weniger einheitlich, weniger kooperationsfähig und daher weniger effektiv wären als die Kräfte, die derzeit im Irak operieren.
(3) Die NATO-Option: Der Istanbuler Gipfel konnte sich im Sommer 2004 nicht zu einer NATO-Option durchringen. Ähnlich wie im Fall der Internationalisierungsoption sind auch die Möglichkeiten der NATO im Irak begrenzt. Zu viele Iraker und zu viele andere in der arabischen Welt misstrauen der Allianz – sie sehen sie als ein Relikt des Kalten Krieges, als ein bloßes Anhängsel der USA und als das Instrument, dessen sich die USA künftig für transatlantische militärische Interventionen im Nahen und Mittleren Osten bedienen möchten. Aus dieser Perspektive würde eine NATO-Präsenz im Irak die Wahrnehmung verstärken, dass das Land vom Westen besetzt ist. Die Truppen der Allianz würden genauso oft angegriffen werden wie die Truppen der Koalition heute – wenn nicht sogar öfter. Es gibt also keinen Grund, einer Übertragung der Sorge um die Sicherheit des Irak an die NATO optimistisch entgegenzusehen.
(4) Regionalisierung: Obwohl regionale Truppenkoalitionen in der Vergangenheit funktioniert haben, ist das keine realistische Option für den Irak heute. Die Türkei, Syrien und Iran haben ein gespanntes politisches Verhältnis, und die USA sehen die zwei letzteren Staaten als einen Teil des Problems und nicht als dessen Lösung an – sowohl im Irak als auch im weiteren Mittleren Osten. Daher sind die Chancen gering, den Irak durch Regionalisierung zu stabilisieren, solange Washington seine derzeitige Politik, besonders in Bezug auf den Iran, fortsetzt.
(5) Eine Option des Verzichts? Keine der zuvor genannten Optionen scheint kurzfristig realistisch zu sein. Welche anderen Möglichkeiten bieten sich, um Irak zu kontrollieren, Sicherheit und Stabilität zu erhöhen, politische Unsicherheit zu überwinden und die Opferzahlen zu minimieren? Eine zweistufige Lösung könnte in Betracht gezogen werden. Zunächst könnten die Koalitionstruppen in die dünn besiedelten Grenzregionen im kurdischen Norden sowie südlich und westlich des Euphrat verlegt werden. Die Aufgabe dieser Truppen bestünde dann weniger in Stützung und Legitimierung der irakischen Regierung, als vielmehr erstens darin, die Ölfelder und Pipelines gegen Angriffe von Guerillas zu schützen, zweitens darin, zu verhindern, dass die Gewalt im Irak auf Nachbarstaaten überspringt und drittens, durch indirekten Druck die Nachbarstaaten dazu zu bewegen, die Aktivitäten radikal-islamischer Gruppen auf ihren Territorien zu verhindern. Gleichzeitig sollte diese Truppenverlegungsstrategie von einer „Afghanistan-Strategie“ ergänzt werden. Wenn man den Ausbruch von Chaos und Anarchie in den Städten Iraks nach der Verlegung der Truppen verhindern will, sollte man sich – so schwer das auch fällt – auf die Führer vor Ort, auf Stammesführer und die regional starken Männer stützen.
Diesen Leuten die Möglichkeit zu geben, ihre Gebiete selbst zu organisieren und zu sichern, mag politisch zynisch wirken. Aber diese Vorgehensweise könnte vermutlich die Legitimität von lokalen und regionalen Lösungen steigern, wenn diese von den mächtigsten Stämmen, Clans und religiösen oder politischen Gruppen einer Region getragen werden. Diese realistische Strategie könnte schließlich, wenn sie mit einer Revision der Aktivitäten der Koalitionstruppen einherginge, zu einem der Lage angemessenen Endergebnis führen, nämlich zur „Irakisierung“ des Konflikts. Die Kosten dieser Strategie wären bedauerlicherweise zeitweiliges Blutvergießen und Chaos, und am Ende könnte de facto oder de jure die Teilung des Landes, eine vorübergehende Rückkehr zur Herrschaft eines starken Mannes oder die Machtübernahme durch religiöse oder ethnische Gruppen stehen.
Aber jede aus der „Irakisierung“ resultierende Lösung der politischen Probleme und der Sicherheitskrise wäre eine rein irakische Lösung. Sie würde daher in der Bevölkerung mehr Zustimmung erfahren als alle derzeit von außen aufgedrängten Lösungen. Nachfolgende irakische Regierungen hätten deshalb mehr Legitimität. Befürchtungen, eine von Schiiten dominierte Regierung, wie sie sich nach den Parlamentswahlen abzeichnet, würde vom Iran kontrolliert, sind unbegründet. Vielmehr ist zu erwarten, dass die irakischen Schiiten genauso unabhängig handeln werden wie in der Vergangenheit – sie werden mit Iran nur dann kooperieren, wenn es in ihrem Interesse liegt. Es steht auch zu erwarten, dass sie den Kampf mit dem Iran und Saudi-Arabien um die subregionale Vorherrschaft wieder aufnehmen werden. So würde ein Machtdreieck geschaffen, das durch eine „balance of power“ die Subregion stabilisiert.
Um die Erörterung der Optionen abzuschließen, fragen wir uns, ob eine Kombination aus Truppenverlegungen und „Afghanistan-Strategie“ eine mögliche und unumgängliche realistische Lösung für den heutigen Irak ist, besonders wenn andere Lösungen vorher scheitern. Diese Strategie würde leider eine Zeit lang zu Instabilität und Leid führen, aber langfristig würde der Nutzen erstens der „Irakisierung“ der gegenwärtigen politischen und militärischen Probleme, zweitens der stabilen Machtverteilung im Land und drittens der Machtbalance zwischen dem Irak, dem Iran und Saudi-Arabien die Nachteile überwiegen. Zwar gehen wir von der Annahme aus, dass sich die Sicherheitslage im Lande auch nach den Wahlen und der Regierungsbildung nicht verbessern wird und plädieren daher für eine „Irakisierungs“-Strategie, doch auch wenn unsere Annahme sich als falsch erweisen sollte, sind wir der Meinung, dass eine solche Strategie (vor allem die Verlegung der Koalitionstruppen) der neuen Regierung dabei helfen könnte, das Land zu stabilisieren.
Offene Fragen: jenseits von Irak
Ein interessanter Aspekt des Irak-Problems ist, wie sehr es auf der einen Seite politisch destabilisierend wirkte und wie wenig es auf der anderen Seite weiterführende Auswirkungen hatte. Irak hat zu den großen Debatten über die internationalen Beziehungen beigetragen, aber viele davon sind noch zu keinem Ergebnis gekommen oder wurden um des lieben Friedens in den transatlantischen Beziehungen willen abrupt abgebrochen. Doch wir müssen mit größerer Klarheit über folgende Fragen nachdenken – bezogen auf den Irak – aber eben auch über den Irak hinaus:
(1) Was ist die richtige Balance zwischen Realismus und Idealismus in den heutigen internationalen Beziehungen? Sind revolutionäre oder messianische Aktionen wie die Operation „Iraqi Freedom“ einer teilweise globalisierten Welt angemessen? Man kann argumentieren, dass der Sturz von Saddam Hussein ein vorsätzlicher Angriff auf den Status quo im weiteren Mittleren Osten war und dass er einen Versuch darstellte, die Ersatzlösungen und kurzfristigen Ansätze der Vergangenheit zu überwinden, die im Namen von Scheinfrieden und Stabilität in der Region autoritäre Regimes, Korruption, schwere Menschenrechtsverletzungen und andere politische Übel toleriert haben. Moralisten sind sich heute dieser wenig beeindruckenden Vergangenheit bewusst. Sie erklären daher, es sei an der Zeit für politisch-soziale Umgestaltungspläne im großen Maßstab auf der Weltbühne. Realisten dagegen behaupten weiterhin, solche Aktionen seien zu destabilisierend, um von allgemeinem Nutzen sein zu können.
(2) Was stellt eine „legitime“ Handlung in den internationalen Beziehungen dar? Während des Kalten Krieges waren Fragen der Legitimität begrenzt und leicht zu handhaben. Mittlerweile befindet sich der Begriff der Legitimität im Wandel. Sind die Vereinten Nationen nur eine Quelle von Legitimität oder die eine entscheidende Quelle? Können sie letzteres in ihrer jetzigen Form sein, oder sind zuvor tief greifende Reformen notwendig?
Eine andere beunruhigende Tendenz besteht darin, Legitimität zunehmend mit dem gleichzusetzen, was die internationale Gemeinschaft als richtig oder falsch erachtet. Skeptiker fragen, wieso Mehrheitsentscheidungen die Grundlage für das moralisch oder sogar objektiv Richtige sein können. Waren Vietnams Vorgehen gegen Pol Pot (1978), Tansanias Vorgehen gegen Idi Amin Dada (1979), Frankreichs Vorgehen gegen Jean Bedel Bokassa, einen mutmaßlichen Kannibalen (1979) und die NATO-Aktionen gegen Serbien (1999) alle etwa nicht legitim, nur weil sie nicht von einer Mehrheit der internationalen Gemeinschaft gebilligt wurden? Letztlich scheint ein maßvollerer Standard angemessen zu sein – sollte man das Prinzip übernehmen, dass in der heutigen Welt die Verfolgung nationaler Interessen immer im Einklang mit gemeinsamen Werten und im Dienste eines höheren allgemeinen Gutes stehen muss?
(3) Ist Multilateralismus per definitionem gut und Unilateralismus per definitionem schlecht? Oder ist eine bestimmte Form von Unilateralismus gut (die anfängliche Opposition gegen den Regimewechsel im Irak) und eine andere schlecht (den Machtwechsel dann tatsächlich herbeizuführen)? In den weitgehend banalisierenden Darstellungen dieser Fragen durch die Massenmedien wird selten darauf hingewiesen, dass Multilateralismus historisch gesehen alles andere als ein stabiles Prinzip oder System ist. Wo sind die Stimmen, die daran erinnern, dass das blinde Eintreten für den Multilateralismus auch bedeuten kann, zur Instabilität in den internationalen Beziehungen beizutragen? Wo kann man Überlegungen hören, dass Unilateralismus hingegen tatsächlich zu mehr Stabilität führen kann, wie es wiederholt die Römer und andere große Reiche gezeigt haben? Wo im politischen Raum sind Stimmen zu vernehmen, die sich Gedanken über das prekäre Wechselspiel von Hegemonie und „balance of power“, von Unipolarität und Multipolarität machen? Eine grundsätzliche Diskussion dieser Fragen steht noch aus – und ist dringend notwendig.
(4) Ist das in den letzten 400 Jahren entstandene internationale Recht mit seinen Regeln und Standards in der Lage, die heutigen Sicherheitsherausforderungen zu bewältigen? Sind sie etwa geeignet, mit der „unheiligen Dreifaltigkeit“ von „verdächtigen Staaten“, Massenvernichtungswaffen und transnational agierenden Terroristen fertig zu werden? Was ist mit Staaten, die nicht willens oder nicht in der Lage sind, den internationalen Terrorismus daran zu hindern, über ihre Grenzen zu schwappen – kann das derzeitige regelorientierte System dieser offenen Bedrohung überhaupt Herr werden? Und was ist mit der steigenden Zahl nichtstaatlicher Akteure, die sich offensichtlich nicht so leicht durch Abschreckung oder Eindämmung beeindrucken lassen wie Nationalstaaten?
Wenn es um solche Fragen geht, sind auch die Diskussionen über die Effektivität und Zweckmäßigkeit des internationalen Rechts enttäuschend. Die Verfechter des Status quo gehen offensichtlich in ihrer Ausgangsposition zu weit. Sie sind unwillens einzugestehen, dass zumindest einige der Regeln und Gesetze für bewaffnete Konflikte verändert oder angepasst werden müssen, möglicherweise im Rahmen einer neuen Genfer Konvention. Dies gilt besonders für Fragen der nationalen Souveränität und die Definition von Selbstverteidigung. Existiert traditionelle, also unverletzliche Souveränität überhaupt noch? Oder ist sie eine Fiktion, die längst durch viele kleine Angriffe zerstört wurde? Einige Analytiker vertreten die Ansicht, dass Globalisierung, multinationale Firmen, internationale und regionale Organisationen sowie organisierte Kriminalität und Korruption die traditionelle Souveränität täglich in nie zuvor dagewesener Weise schwächen. Und was ist mit den bereits erwähnten Staaten, die entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind zu verhindern, dass sich von ihrem Territorium aus ernste Gefahren für die Welt oder für ihre Nachbarn ausbreiten? Dürfen diejenigen, die solchen Gefahren ausgesetzt sind, sich aktiv verteidigen, oder müssen sie die traditionellen Prinzipien der Souveränität hochhalten?
Die Antwort auf diese Fragen hängt eindeutig davon ab, wie man Selbstverteidigung definiert. Haben Staaten angesichts der heutigen Gefahren und der zunehmend komplizierten Natur der Souveränität das Recht, eine lockere, von Zweifeln begleitete Definition der Selbstverteidigung umzusetzen? Dies ist wie die anderen auch eine sehr schwierige Frage. Leider wurde durch die Verwicklungen im Irak die Möglichkeit einer Diskussion über dieses Thema zeitweilig auf Eis gelegt. Juristen und Politiker, die besser versuchen sollten, komplexe juristische Sachverhalte zu lösen, haben sich in einer rückwärts blickenden Stellung verschanzt. Statt es zu ändern und zu verbessern, wird das internationale Recht von Kriegsgegnern und Kriegsbefürwortern instrumentalisiert.
(5) Wer soll in Zukunft für die Stabilisierung nach Kriegen und für den Wiederaufbau verantwortlich sein? Das Militär? Wer erklärt, die Zahl der Truppen im Irak sei viel zu klein für die Aufgabe, scheint dieser Meinung zu sein. Aber ist dieser Ruf nach mehr Quantität einfach nur eine Reaktion auf die „Fakten vor Ort“? Oder spiegelt er zumindest teilweise den opportunistischen Versuch wider, nicht in Bezug dazu stehende institutionelle Bedürfnisse zu befriedigen? Zum Beispiel das Bedürfnis, Bodentruppen als unanfechtbaren Brennpunkt kombinierter Kriegführung zu erhalten? Warum sollten Stabilisierung und Wiederaufbau nicht Aufgabe von zivil dominierten oder gemischten, speziell für diese Aufgabe entwickelten Organisationen sein? Und warum müssen solche Organisationen länderspezifisch sein? Wären sie nicht in idealer Weise der NATO oder auch den Vereinten Nationen unterzuordnen?
(6) Wie sollten angesichts des zuvor Erörterten in Zukunft militärische Einheiten zusammengestellt werden? Sollten die Einheiten kombiniert werden oder untereinander austauschbar sein? Wie hoch sollte der Anteil an „schweren“ oder „leichten“ Einheiten ausfallen? Wie sollte das Verhältnis von Qualität zu Quantität sein, besonders wenn die bevorzugte Variante Streitkräfte sind, die weltweit verschiedenartige Aufgaben erfüllen sollen, Regimewechsel eingeschlossen? Das Führungspersonal der NATO will ausdrücklich diese Art von Streitkräften, aber die Mitglieder der Allianz waren bislang zu langsam, um ihre aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Truppen umzuwandeln. Wie werden ihre Streitkräfte in Zukunft aussehen? Braucht man für die neuen Kriege nicht vielmehr drei Arten von Streitkräften: Kampfeinheiten, Stabilisierungs- und Wiederaufbaukräfte?
(7) Die letzte Frage ist wohl die wichtigste: Zumindest für die USA ist der Irak ein einzelnes Element im größeren Krieg gegen den transnationalen Terrorismus. (Ob der Irak-Krieg tatsächlich in diese Kategorie gehört, bleibt umstritten.) Die drängende Frage ist daher, ob ein taktisches Versagen der Koalition im Irak die strategischen Erfolge auf internationaler Ebene zunichte machen kann. Trotz aller Anstrengungen radikaler Islamisten gab es bis jetzt noch keine Massenaufstände in der muslimischen Welt, keine muslimische Regierung wurde gestürzt und keine Regierung hat offen einen radikalen Kurs eingeschlagen. Könnte sich dies künftig ändern?
Offene Fragen, erste Lösungen
Dieser Artikel hat die Lektionen, die wir glauben aus dem Irak-Konflikt ziehen zu können, beleuchtet. Er hat kurzfristige Handlungsspielräume für die Koalitionstruppen ergründet und auf offene Fragen hingewiesen, die nach Antworten verlangen. Wir selbst vertreten die Ansicht, dass auf kurze Sicht Sicherheit im Irak wichtiger ist als Demokratie und andere erwünschte Ziele. Das irakische Volk braucht friedensschaffende Maßnahmen dringender als friedenserhaltende Maßnahmen. Um aber Frieden zu schaffen, müssen die Koalition und ihre Partner von den lokalen Gegebenheiten ausgehen. Das könnte bedeuten, eine zweistufige „Irakisierungs“-Strategie zu verfolgen, die auch die Zusammenarbeit mit lokalen Führern einschließt. Diese realistische Option kann aber nur ein vorübergehender Ansatz sein. Eine langfristige Lösung der Probleme muss verschiedene Arten von „soft power“ beinhalten sowie die Wiederherstellung der regionalen „balance of power“. Andernfalls wird die Bevölkerung im Irak nicht in der Lage sein, eigenständig eine Regierung und gesellschaftliche Institutionen zu schaffen, die dieses Volk schließlich vereinen werden.
Internationale Politik 3, März 2005, S. 88 - 95.