Pakistans defekte Demokratie
Wie gefährlich ist das „gefährlichste Land der Welt“?
Wäre Pakistan nicht Atommacht, würden sich wohl nur wenige für das Land interessieren. Doch seit Islamabad „die Bombe“ besitzt, blicken viele mit Sorge dorthin. Sollte Pakistan scheitern, könnten Nuklear-waffen in die Hände muslimischer Extremisten fallen. Eine Neuerscheinung, die nichts beschönigt, aber auf Alarmismus verzichtet.
Die Furcht vor einem nuklearen Schreckensszenario bringt es mit sich, dass in regelmäßigen Abständen Bücher über Pakistan auf den Markt kommen, die meisten mit ähnlichem Duktus: Ist Pakistan „das gefährlichste Land der Welt?“, fragte der Duisburger Politikwissenschaftler Jochen Hippler 2008. Sein Berliner Kollege Christian Wagner (SWP) beleuchtete im vergangenen Jahr den „Brennpunkt Pakistan“.
Von den zwei Bänden, die in diesem Jahr hinzugekommen sind, lohnt nur eines einer näheren Beschäftigung. Denn Jörg Mittelsten Scheids „Pulverfass Pakistan: Eine Gefahr für den globalen Frieden?“ (Nicolaische Verlagsbuchhandlung) steckt nicht nur voller Fehler, es kratzt auch mehr an der Oberfläche, als dass es tiefergehend analysiert.
Ganz anders Katja Mielke und Conrad Schetter, die mit ihrem Band eine sehr umfassende und differenzierte Studie über Geschichte, Politik und Kultur Pakistans vorgelegt haben. Während andere Autoren fürchten, dass Pakistan ein gescheiterter Staat werden könnte, wollen die beiden Bonner Entwicklungsforscher diesen düsteren Prognosen ein „optimistischeres Bild“ entgegensetzen: „Bisher hat das Land alle schweren Krisen und Konflikte überlebt und ist nicht im Chaos versunken. Wie von unsichtbarer Hand gesteuert, manövriert es sich durch eine Vielzahl von Konflikten, die jeder für sich genommen viele andere Länder überfordern würde. Pakistan scheint nicht trotz, sondern wegen all seiner Krisen weiter zu existieren.“
Erstaunlich ist dabei, dass dieselben Institutionen dem Land eine gewisse Stabilität verleihen, die eine weitere Entwicklung Pakistans in Richtung Demokratie verhindern: das Militär, die Verwaltung und die kleine politische Elite, die in wechselnden Bündnissen mal gegeneinander, mal Hand in Hand arbeiten, um ihre Interessen zu wahren.
Vor allem an der Armee führt in Pakistan kein Weg vorbei. Sie agiert so autonom, dass sie einen „Staat im Staate“ bildet; Christian Wagner spricht von einer „Kasernenhofdemokratie“. Seit der Gründung 1947 ist das Land immer wieder von zivilen Herrschern regiert worden – im Hintergrund fungierte jedoch stets das Militär als eigentliche Macht im Land. Die Armee dominiert nicht nur die Politik, sie besitzt auch ein umfassendes Konglomerat an Wirtschaftsunternehmen. Ein besonderes Eigenleben führt der Militärgeheimdienst ISI, eine von außen völlig undurchsichtige Organisation, die sich jeglicher Kontrolle entzieht.
Mielke und Schetter urteilen dennoch vergleichsweise milde über die Generäle. Phasen der Militärherrschaft wie unter Pervez Musharraf seien stets von „zumindest der Form nach demokratischen Regierungsformen abgelöst“ worden. Zudem habe die Armee das politische System nie bedingungslos unterworfen, sondern gewisse Freiräume gelassen und Reformen durchgeführt: eine „liberale Diktatur“.
Wesentlich strenger als das Militär beurteilen Mielke und Schetter die politische Elite Pakistans, der es vor allem darum geht, die eigenen Pfründe zu sichern. Die großen Parteien sind eher Familienwahlvereine. Während weite Teile der „feudalistisch“ strukturierten Pakistanischen Volkspartei (PPP) der Bhuttos von den Interessen mächtiger Landbesitzer dominiert werden, steht die PML-N von Premierminister Nawaz Sharif „für ein Machtkartell von Industriellen und Kapitalbesitzern“. Beide Parteien bekämpfen einander seit Jahrzehnten und paktieren dabei je nach Lage mit dem Militär. In politischen Institutionen wie dem Parlament sehen Mielke und Schetter „nur schmückendes Beiwerk“. In Pakistan zeigt sich allzu deutlich, dass Wahlen allein noch keine Demokratie machen, wenn die politische Kultur im Wege steht.
Das Land blockiert sich zudem durch die „Zwei-Nationen-Theorie“, wonach es sich bei Indien und Pakistan um grundsätzlich verschiedene Kulturen mit eigenen religiösen Vorstellungen handele. Sie verhindert bis heute eine dringend notwendige Annäherung an Indien. Mielke und Schetter erkennen eine Tendenz zur Radikalisierung und machen sie an unterschiedlichen Phänomenen fest: an einer Zunahme von Selbstmordanschlägen, einer steigenden Zahl von Koranschulen, der Diskriminierung von Minderheiten, sektiererischer Gewalt oder „Dschihadi-Attitüden eines großen Teiles der Bevölkerung“.
Überraschende Erkenntnisse oder radikal neue Thesen haben Mielke und Schetter nicht zu bieten. Gerne hätte man auch mehr gelesen über die Situation von Judikative und Presse im Land. Dennoch analysieren die beiden Politik, Wirtschaft und Gesellschaft so kenntnisreich und überzeugend, dass ihnen ein Standardwerk gelungen ist. Vor allem eines tut dem Band gut: dass er die Lage in Pakistan nicht beschönigt, aber auf einen alarmierenden Tonfall verzichtet.
Jan Kuhlmann arbeitet als freier Journalist in Berlin. Er schreibt vor allem über die Themen Islam und Nahost.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S.134-135