Nichts als die Wahrheit
Die neuen Machthaber in Ägypten liefern ihre Version der Geschichte
Es werden immer mehr. 40 Millionen Demonstranten seien gegen Mohammed Mursi auf Ägyptens Straßen unterwegs gewesen, sagte mir neulich ein Exoffizier in einem Restaurant am Nil-Ufer. In den Tagen nach den Massenprotesten vom 30. Juni hatten Mitglieder der Protestbewegung und des Militärs noch von zehn oder 15 Millionen gesprochen, die zum Sturz des islamistischen Machthabers auf die Straße gegangen waren. Doch je länger Ägyptens neuer Heldentag zurückliegt, umso mehr verklärt sich die Sichtweise.
Auch die Zahl der Anhänger des neuen Regimes wächst täglich. Als am 40. Jahrestag des Oktoberkriegs gegen Israel 1973 Zehntausende auf den Tahrir-Platz strömten, twitterte ein wohl von den vielen Fahnen Berauschter: 10,5 Millionen für die Armee auf den Straßen, nur ein paar hundert für Mursi. Dass auch 50 Menschen getötet wurden, viele durch Schüsse in Brust und Kopf, spielte im Siegesrausch keine Rolle. Kollateralschäden, zumindest aus Sicht der neuen Herrschenden, die das Volk am Nil in Kauf nehmen müsse, um nach einem Jahr Islamistendiktatur zurück auf den rechten Weg zu finden.
Beweise für die hohen Demonstrantenzahlen hat ohnehin niemand. Auch die Aktivisten der oppositionellen Tamarod-Bewegung legten die Listen nie offen, auf denen sie angeblich 23 Millionen Unterschriften zum Sturz Mursis gesammelt haben wollten. Aber warum auch? Eine Welle des Nationalismus hat die stolzen Ägypter erfasst, die oft die Grenzen des Verstands sprengt. Fakten stören da nur, es geht um die richtige Deutung der Geschichte. Und die geht so: Die Absetzung des ersten frei gewählten Präsidenten war kein Putsch, sondern Ergebnis einer Volkserhebung, die die Fehler der Revolution vom 25. Januar 2011 korrigierte.
Wer das anders sieht, wird eines Besseren belehrt – von Politikern, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und dem Staatsinformationsdienst, der Korrespondenten per Mail dazu anhält, „objektiv“ zu berichten. Nicht nur über die korrektive Revolution am 30. Juni, sondern auch über das Massaker am 14. August in zwei Protestlagern Kairos.
Massaker? Pardon: Um die notwendige Räumung eines Terroristenlagers handelte es sich beim Angriff der Sicherheits-kräfte natürlich; wie dort mehr als tausend Menschen getötet wurden, klärt derweil eine Wahrheits-, äh, Untersuchungskommission der Regierung.
„Jetzt weiß die Welt die Wahrheit“, ist ein Satz, den man in Kairo fast täglich zu hören bekommt. Im Taxi, im Café, beim Einkaufen. Von Anhängern Abd al Fattah as-Sisis, des neuen starken Mannes an der Spitze Ägyptens, öfter als von Islamisten, denn die haben nun erst einmal den Mund zu halten. Wenn sie überhaupt noch auf freiem Fuß sind: Fast die komplette Führungsriege der Muslimbrüder sitzt inzwischen hinter Gittern.
Die Wahrheit über Ägypten schließt die Islamisten nicht mehr ein. Dass vor gut einem Jahr Millionen Mursi zum Präsidenten wählten? Ein Ausrutscher. Dass die Islamisten Mehrheiten auch bei den Parlamentswahlen holten? Nicht der Rede wert. Was zählt, ist die Macht der Straße – und die gehört seit dem 3. Juli, als der Armeechef Mursi absetzte, nun einmal dessen Gegnern. Als ausländische Agenten denunziert der Sprecher von Interimspräsident Adli Mansur all jene, die gegen die Armee demonstrierten. Ägypter sind sie nicht mehr.
Das hat auch damit zu tun, dass man im Ausland so gar nicht der Lesart der neuen Revolutionäre folgen will. Glauben zumindest viele Gesprächspartner. Kaum eine Unterhaltung, in der Angela Merkel nicht vorgehalten wird, die Rückkehr Mursis an die Macht zu fordern. Kaum ein Interview, in der die schändliche Rolle der westlichen Medien nicht thematisiert würde. Die hätten von Anfang an unterschlagen, dass ein Volksaufstand und kein Militärputsch die Muslimbruderschaft von der Macht vertrieben hätte.
Dass das Land ein Vierteljahr nach dem Sturz Mursis weder wirtschaftlich zur Ruhe gekommen ist noch von Sicherheit die Rede sein kann, geht im nationalistischen Taumel unter. Die Bevölkerung ächzt weiter unter Armut und Inflation, der Terror auf dem Sinai weitet sich aus. Nur dank der finanziellen Unterstützung durch Kuwait, Abu Dhabi und Saudi-Arabien war es Sisis Marionettenregierung überhaupt gelungen, über den Sommer zu kommen. Jetzt naht der Winter, und wie unter Mursi hat das Kabinett keine Rezepte parat, um die dringendsten Probleme anzugehen.
Stattdessen strahlt das Staatsfernsehen Jubelarien auf die glorreiche Revolution vom 30. Juni aus. Die Zeitungen drucken Lobeshymnen auf Sisi, der beharrlich bestreitet, bei der Präsidentenwahl 2014 kandidieren zu wollen. Wen die Post-Mursi-Mehrheit ansonsten ins Rennen schicken will, bleibt ihr Geheimnis. Allein der linke Politiker Hamdin Sabahi böte sich an: Mit seinem an Nasser angelehnten Populismus steht er dem Militär ohnehin nahe. Das Volk will eigentlich nur einen: Auf Plakaten im ganzen Land lächelt neben den ebenfalls aus der Armee hervorgegangenen Präsidenten Nasser und Sadat – General Sisi.
Markus Bickel ist Kairo-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Autor des Buches „Der vergessene Nahost-Konflikt – Syrien, Israel, Libanon, Hisbollah“.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 128-129