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01. März 2007

Nicht die Heilsarmee

Angemessene Krisenreaktion verlangt größere militärische Autonomie

Deutschland muss sich auch im militärischen Bereich den Konsequenzen seiner europäischen, euro-atlantischen sowie der notwendig gewordenen Nahost-Politik stellen. Die Bundeswehr braucht eine eindeutige Auftragslage, angemessene Mittel und eine Einsatzautonomie, die ihr ein operatives Handeln nach militärischen Erfordernissen gestattet.

Auslandseinsätze der Bundeswehr in Krisengebieten sollen nach dem strategischen Konzept der Europäischen -Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) gemeinsamen Sicherheitsbedürfnissen dienen und europäische Interessen in der Welt wahren.

Die dabei von der Bundesregierung und dem Bundestag seit dem Bosnien-Einsatz im NATO-Rahmen 1995 verfolgten Leitlinien orientieren sich an vier prinzipielle Eckpunkten:

  • europäische Identität,
  • unabhängiges Krisenhandeln der EU,
  • Ergänzung der NATO in der Abwehr von Gefahren und Bedrohungen im europäischen Raum,
  • internationale Solidarität für die Verteidigung der kollektiven Sicherheit in den Vereinten Nationen.

Auch zusammengenommen ergeben diese Grundsätze weder eine Strategie noch ein konkretes sicherheitspolitisches Programm. Den nationalen Entscheidungen über den Einsatz bewaffneter Macht oder über eine Beteiligung an solchen internationalen Aktionen der Krisenbeherrschung bieten sie nur Anhaltspunkte, die für sich noch keine Orientierung geben. Wie sind in diesem weiten Bezugsrahmen „europäische“ und mit diesen „nationale Interessen“ zu bestimmen? Werden beide in der Regel übereinstimmen? Welche Voraussetzungen sollen für deutsche Beteiligung, deren Art, Umfang und Dauer gegeben sein? Wer setzt die Ziele der Aktion, wer bestimmt die Erfolgskriterien?

Es versteht sich dabei von selbst, aus der gesamten Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und aus dem Verfassungsrecht seit 1994, dass solche Bundeswehreinsätze stets entweder Verteidigung im Bündnisrahmen der NATO bzw. in der EU oder Beiträge zu UN-Missionen sein müssen. Ersteres können sie ausgreifend, möglicherweise auch vorbeugend sein, letzteres sind sie unabhängig davon, ob direkt als UN-Dienst, als NATO-Einsatz oder als ein EU-Beitrag. Auch europäische Aktionen wie die im Kongo 2006 zur Absicherung der Wahlen im Hauptstadtgebiet dienen der internationalen Sicherheit im Sinne der UN-Agenda für den Frieden von 1992.

Aber wie im Fall Kongo müssen sie nicht unbedingt nationalen deutschen Interessen dienen. Deutschland hätte sehr wohl – wie die große Mehrheit der EU-Mitgliederabseits stehen können. Direkte deutsche Interessen treten im Kongo jedenfalls nicht zu Tage. Die Rücksichtnahme auf Frankreich gebot keinen Bundeswehreinsatz in diesem afrikanischen Land. Eine Afrika-Politik hat die EU noch immer nicht. Als Global Player aufzutreten, ist kein hinreichender Grund für ein militärisches Engagement auf einem fremden Kontinent. Um eine ESVP-Aktion handelte es sich nicht. Spezifische europäische Sicherheitsinteressen im Kongo sind auch nach der Wahl nicht auszumachen, „stabilisiert“ ist das zerfallene Land mit einem bisher gescheiterten Staat noch nicht. Die Frage bleibt also in Berlin schlüssig zu beantworten, ob die Kongo-Mission der Bundeswehr einem sinnvollen Zweck diente.

Die konzeptionelle Anlage der ESVP und insbesondere die Europäische Sicherheitsstrategie seit 2003 sind entlang der Leitlinie entworfen, dass nationale Interessen stets mit europäischen im Sinne der EU-Politik, bei der Krisenbewältigung insbesondere der jeweils beschlossenen ESVP-Anwendung, zur Deckung zu bringen sind. Natürlich schließt dies Gegensätze zwischen EU-Mitgliedern und zu anderen Staaten oder Ländergruppen in der NATO und bei den UN, Differenzen über bestimmte Krisenreaktionen, über einzelne Fälle von Konfliktbeendigung oder Konfliktprävention und über Sanktionen gegen einzelne Länder nicht aus. Der Irak-Konflikt 2002/03 und seither die Auseinandersetzung mit dem Iran um die Durchsetzung der Nichtweiterverbreitung nuklearer Rüstungen nach dem Kernwaffensperrvertrag (NPT) sind kritische Beispiele der Problematik, die sowohl für ein gemeinsames Handeln wie für ein „internationales Mandat“ zum Handeln, besonders mit militärischen Mitteln oder durch eingreifende Sanktionen wie Handelssperren und Verkehrsunterbrechungen, besteht.

In diesem Kontext stellt sich auch die Frage nach der Nutzung der Schnellen Eingreiftruppe der NATO (NRF), an der Deutschland mit Bundeswehrkontingenten beteiligt ist. Diese Truppe soll ab diesem Jahr im Ganzen einsatzbereit stehen, mit Kampfaufträgen versehen und militärisch eingesetzt wurden ihre schon verfügbaren Verbände bis Ende vergangenen Jahres noch nicht. Es fehlt also noch an Erfahrungswerten. Aber sicher ist, dass die „Speerspitzen“ - Funktion dieser Interventionsmacht der NATO Verzögerungen durch lange Entscheidungsverfahren und Bündniskonsultationen zwischen den Regierungen nicht zulässt, wenn ihr Zweck, die Beherrschung akuter Krisen durch einen Soforteinsatz, erfüllt werden soll. Auch restriktive nationale Auflagen für den Einsatz eines deutschen Kontingents sind mit dem Sinn und Zweck der NRF kaum vereinbar. Die deutsche Politik der Krisenreaktion wird deshalb durch die NRF noch auf die Probe gestellt werden.

Deutsches Dilemma

Das gilt ebenfalls für den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan im Rahmen der ISAF. Die politischen Bedingungen, die in Berlin für die Übernahme eines militärischen Sicherheitsbereichs und den Einsatz deutscher Truppen in diesem von der NATO kontrollierten multinationalen Rahmen gesetzt wurden, stoßen sich an der seit 2005 zu beobachtenden Lageentwicklung vor Ort. Nach der Übernahme der militärischen Verantwortung für die Sicherheit im ganzen Land durch die ISAF im Jahr 2006 sind Allianzsolidarität im Kampfeinsatz verbündeter Truppen und nationale Vorbehalte in einen offenen Gegensatz geraten. Die verkündete deutsche Bereitschaft zur „Notfallhilfe“ im Süden des Landes für Briten, Niederländer und Kanadier reicht nicht länger aus, es sei denn, der „Notfall“ würde großzügig, also extensiv, interpretiert, womit dann der Vorbehalt hinfällig würde. Die praktische Politik in dieser Frage würde die deklaratorische aufheben und die Glaubwürdigkeit des Handelns um dessen Wirksamkeit und des angestrebten Erfolgs willen beeinträchtigen.

So liegt der Prüfstein der deutschen Sicherheitspolitik genau dort, wo nach einem gewagten, aber im Kontext der Zeit auch wahren Wort des damaligen Verteidigungsministers Struck „die Sicherheit Deutschlands auch verteidigt werden muss“: am Hindukusch. Die deutsche Diskussion über eine Beteiligung an der Stationierung im Süden, wo die ISAF gegen die Taliban-Milizen kämpfen muss, danach die Debatte über deutsche Aufklärungsflüge durch Tornado-Kampfflugzeuge zur Unterstützung der alliierten Truppen, verdeutlichte das Dilemma der politischen Begrenzung von internationalen Einsätzen der Bundeswehr in akuten Krisen.

Kriterien wie Abgrenzungen zwischen Einsatzgebieten, Mandatsdauer für genehmigte Einsätze, Zahl der beteiligten Partner, Entfernung der Krisengebiete von Deutschland oder Europa, politische „Werte“, die es zu schützen gilt, also etwa Rechtsstaatlichkeit, „gute“ Regierungsweise, Demokratie und Freiheit oder die „Vermittelbarkeit“ der Einsätze gegenüber der deutschen Öffentlichkeit tragen tatsächlich nicht weit. Keine Regierung kann sich bei Wahrung ihrer internationalen Aktionsfähigkeit und der Bündnisfähigkeit des eigenen Landes hinter solchen Begriffen verschanzen, um Nichtbeteiligung an militärischen Unternehmungen von NATO und EU oder eine Verweigerung von UN-Diensten zu rechtfertigen.

Da die Wünsche nach aktiver deutscher Mitwirkung bei militärischen „Friedensmissionen“ oder Aktionen zur internationalen Krisenbeherrschung seit Somalia und Bosnien 1992 zahlreicher und drängender geworden sind, müssen für Bundeswehreinsätze dieser Art von Fall zu Fall konkrete Interessen Deutschlands als EU-Partner und NATO-Verbündeter entsprechend der Natur der Krise, dem Verhältnis zum Krisengebiet und zu den Konfliktparteien, schließlich nach der Lage und nach den verfügbaren Mitteln bestimmt werden. Ein Kosten-Nutzen-Kalkül, gegründet auf eine Risikoanalyse, sowie eine gemeinsame politische Zielsetzung der beteiligten Staaten müssen jeder Entscheidung über den Einsatz von Bundeswehrkräften in Krisengebieten ebenso vorausgehen wie eine für alle verbindliche Vorstellung vom erstrebenswerten Erfolg, von den Bedingungen einer Schadensbegrenzung und einer Rückzugsstrategie im Falle des Scheiterns oder anhaltender Erfolglosigkeit und von den annehmbaren Kosten, Verlusten und Nachteilen. Solche Kriterien müssen mit den Partnern der Aktion zuvor vereinbart werden. Ohne Konsens sollte jede Teilnahme an einer militärischen Unternehmung zur Krisenbeherrschung unterbleiben.

Darin liegt eine schwierige Aufgabe der Politik. Auch ist es objektiv schwer, die genannten praktischen Kriterien der jeweiligen Lage angemessen anzuwenden. Die Entwicklung einer Intervention in eine Krise ist ebenso wenig abzusehen wie die Entwicklung der Krise oder des Konflikts selber. Unsicherheit über den Ausgang der Partie ist das gemeinsame Merkmal von Krieg und Krise. Es kann auch nicht jeder Eventualität vorgebeugt werden. Dafür bietet Afghanistan mit den seit 2002 eingetretenen kritischen Lageveränderungen ebenso ein Beispiel, wie in einer anderen Konfliktart der Irak seit 2003. Auch im Libanon-Einsatz der UN kann sich die Lage schnell oder allmählich verändern und den UN-Truppen neue Aufgaben stellen, neue Risiken aufbürden und neue Einsatzbedingungen auferlegen.

Deshalb ist neben Reaktionsschnelligkeit und Durchhaltefähigkeit von Sicherheits- und Eingreifkräften das dritte Erfolgskriterium operative Flexibilität, mit der Fähigkeit, sich an wechselnde Einsatzbedingungen und Aufgaben rechtzeitig anzupassen, um die Eskalationsdynamik von Krisen und Konflikten zu kontrollieren. Die Fähigkeit zur Eskalationsdominanz in Konflikten ist die Voraussetzung für deren Eingrenzung, Abschwächung und Beendigung im Sinne der eigenen Interessen – und damit der europäischen oder euro-atlantischen Interessen im Bündnisrahmen und der internationalen im UN-Rahmen, so weit und so lange solche bestehen.

Für diese Anforderung bietet Somalia in den Jahren 1992 bis 1994 das kritische Lehrbeispiel: Frankreich und Italien zogen ihre UN-Kontingente aus den entstandenen Unsicherheitszonen einseitig zurück, Indien unterließ die zugesagte Entsendung eines Kontingents und der deutsche Sanitäts- und Logistikverband fand sich zwar in einer erklärten Sicherheitszone wieder, jedoch ohne das Objekt seines ursprünglichen Auftrags. Die gesamte Unternehmung war sinnlos geworden. Die Vereinten Nationen scheiterten in Somalia, wie ein Jahr später in Bosnien.

Danach und im Lichte ihrer eigenen Erfahrungen mit den NATO-Einsätzen auf dem Balkan stellten drei US/NATO-Oberkommandierende in Europa (die Generäle Shalikashvili, Joulwan und Clark) dieselben Forderungen an den Nordatlantikrat und an die alliierten Regierungen:

  1. Einheit von Auftrag, Verantwortung und Befehlsgewalt beim militärischen Führer;
  2. dem Auftrag und der Lage angemessene Mittel mit einem ausreichenden Kräfteansatz;
  3. kein Eingreifen der politischen Autoritäten in den Ablauf der Operationen nach Auftragserteilung.

Diese Forderungen werden Regierungen und internationale Gremien nicht immer erfüllen. Man kann sogar sagen, dass sie dies in der Regel nicht tun werden.

Wer mehr kann, kann auch weniger

Gerade darum ist jede militärische Krisenreaktion einem hohen und unkalkulierbaren politischen Erfolgsrisiko unterworfen. Schon deshalb müssen Zeit- und Kräfteansatz von vornherein großzügig bemessen werden. Es gilt der altbewährte Erfahrungssatz „wer mehr kann, kann auch weniger“. In Bosnien stattete Kopenhagen das kleine dänische Kontingent bei der UN-Schutztruppe mit einer „Leoparden“ - Panzerkompanie aus, die in einer kritischen Situation auch erfolgreich gegen serbische Artillerie zum Schutze eines bosnischen Dorfes eingesetzt wurde (obwohl das UN-Kommando nicht einverstanden war). In Mazedonien schickte Bundesverteidigungsminister Scharping 1999 eine deutsche „Leoparden“ - Panzerkompanie zum deutschen Lager nahe der Grenze, dessen Umgebung unter serbischen Beschuss gekommen war, und beendete damit die akute Bedrohung. In Afghanistan stärkt eine Panzerhaubitzenbatterie das niederländische Kontingent bei den Kampfeinsätzen im Süden.

Bundeswehrverbände dürfen nicht mehr ohne wirklich ausreichende, gepanzerte, schwere Waffen und Fahrzeuge, Kampfhubschrauber und gepanzerte Transporthubschrauber (sobald diese in zwei bis drei Jahren verfügbar werden), Jagdbomber sowie fliegende Aufklärung in akuten Krisengebieten eingesetzt werden. Die Behauptung, „Tornado“ - Jagdbomber und -Aufklärer, Kampfhubschrauber und Panzer oder Haubitzen seien sowohl „ungeeignet“ als auch „unnötig“ für die Auftragserfüllung, entbehrt jeder Basis in den Tatsachen und in einer realistischen Gefahreneinschätzung. Solche Behauptungen sind schädlich und gefährlich, sie sollen nur dem Zweck dienen, an der Illusion von den bewaffneten Entwicklungshelfern und Sozialarbeitern festzuhalten. Wenn es bei der Krisenbeherrschung nur oder vor allem darum ginge, könnte statt der Bundeswehr das Technische Hilfswerk neben humanitären Hilfsdiensten eingesetzt werden. Gefahren können weder vermieden noch gemieden werden. Auftrag, Risiko und Situation können sich sehr schnell ändern. Dies gilt sogar für den noch ruhigen Norden Afghanistans, wo die deutsche Truppe steht.

Wenn europäische Interessen, wie die an einer ausgreifenden Terrorabwehr, an der Sicherung der Seewege und des Zugangs zu den Energiequellen, an der Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln und an der Abschirmung Europas auf dem südlichen Krisenbogen, gewahrt werden sollen, müssen europäische Kräfte dafür bereitgestellt und eingesetzt werden. Es wird dann nicht bei prinzipiellen Vorbehalten und künstlichen Einschränkungen von deutscher Seite bleiben können. Dies gilt selbst für „Stabilisierungskräfte“ ohne Kampfauftrag. Die deutsche Debatte muss vor dem europäischen Horizont geführt werden. Dieser Horizont umschließt schon seit Jahren den Mittleren Osten und das Mittelmeer mit Nordafrika. Ob künftig als Vollmitglied der EU oder in einer wie auch immer „privilegierten“ strategischen Partnerschaft markiert der NATO-Verbündete Türkei die äußere Sicherheitsgrenze Europas vom Schwarzen Meer über den Kaukasus bis nach Mesopotamien nahe dem Persischen Golf. Man kann in jedem einzelnen Fall gute Gründe finden, an einem Einsatz nicht teilzunehmen. Aber insgesamt muss Deutschland sich auch im militärischen Bereich den Konsequenzen seiner europäischen wie seiner euroatlantischen und einer notwendig gewordenen Orientpolitik stellen. Denn in dieser weiten Dimension liegt seine Sicherheit. Die Bundeswehr als militärisches Instrument bedarf dafür einer eindeutigen Auftragslage und angemessener Mittel, klarer und kurzer Entscheidungsverfahren ohne ein Dickicht von politischen Vorbehalten, Einreden und Ausreden.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2007, S. 106 - 111.

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