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01. März 2005

Atomwaffen militärisch verhindern

Nicht nur gegen den Iran halten sich die USA die Option für Angriffe offen

Im Irak konnte das US-Militär auch nach der Invasion keine Anzeichen für Aktivitäten zur Beschaffung von Atomwaffen nach 1998 finden. Dennoch halten sich die Vereinigten Staaten die Option für Angriffe nicht nur auf den Iran offen. Die militärische „Gegenproliferation“ wird deshalb zu einem dominanten Thema der internationalen Politik.

Counterproliferation, deutsch „Gegenproliferation“, ist das realpolitische Thema der kommenden Jahre. Es steht auf der amerikanischen Agenda seit der zweiten Reagan-Regierung und wurde nach 1993 vor allem von Clintons Verteidigungsministern William Perry und William Cohen als internationale Aufgabe favorisiert. Gegenproliferation ist keine Rüstungskontrolldiplomatie zur Durchsetzung des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NPT). Noch ist es eine andere Variante der internationalen Sicherheitspolitik ohne Gewalt. Sie bedeutet im Gegenteil ein bewaffnetes Eingreifen zur Unterdrückung der Weiterverbreitung von Kernwaffen, spaltbaren Materials und nuklearer Technologie.

Im Extremfall bedeutet Gegenpro-liferation sowohl militärische Prävention durch Intervention und – im Alarmfall bei einer überraschenden Proliferationsaktivität – auch „prä-emptiven“ Zugriff oder Zerstörung von nukleartechnischen Anlagen, wie im Jahr 1981 durch den israelischen Luftangriff auf den (von Frankreich produzierten) irakischen Osirak-Atomreaktor. Gegenproliferation ist das Gegenteil „weicher Sicherheit“. Es geht um „harte Sicherheit“ mit kriegsartigen Operationen. Das schließt auch die Verletzung nationaler Souveränität und territorialer Integrität von Ländern ein, die sich Kernwaffen oder Produktionsanlagen, Laborfähigkeiten oder technische Komponenten für die Entwicklung und Fertigung von Kernwaffen verschafft haben oder zu verschaffen suchen.

Eine gültige völkerrechtliche Definition, geschweige denn Anwendungsregel für „Gegenproliferation“ existiert ebenso wenig wie für militärische „Präemption“. Beide sind untrennbar mit militärischer Interven-tion verbunden: Gegenproliferation geschieht präventiv oder präemptiv. Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob sie früh gegen entstehende Potenziale „präventiv“ geführt wird, um einem möglichen nuklearen Angriffspotenzial eines anderen Staates vorzubeugen oder ob der Angriff „präemptiv“ geschieht, um einen solchen Angriff, der mehr oder weniger deutlich über eine kurze Zeitspanne droht, noch rechtzeitig zu verhindern, indem ein vernichtender Angriffsschlag gegen beziehungsweise ein Zugriff auf schon entstandene Kapazitäten geführt wird.

Die Charta der Vereinten Nationen lässt ohne Ermächtigung seitens des UN-Sicherheitsrats bisher weder das eine noch das andere zu. Trotzdem würden aktionsfähige Mächte ihre nationale Sicherheit nicht den UN oder auch anderen Staaten überantworten. Die amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfer von 2004, George W. Bush und John Kerry, stimmten in der Ansicht überein, dass „kein Veto gegen die Sicherheit der Vereinigten Staaten seitens eines Landes oder einer internationalen Organisation akzeptabel“ (Kerry im Oktober 2004) wäre. Präsident Bush jun. muss in dieser Frage nicht eigens zitiert werden, denn er steht seit September 2001 öffentlich dafür, dass in jedem Fall gehandelt werden müsse, „bevor der Blitz einschlägt“.

Russland folgt den USA

Die Vereinigten Staaten würden darum im Alarmfall unter dem Druck einer in Washington wahrgenommenen unmittelbaren Drohung wieder auf eigene Faust handeln, gleich wer regiert. Auch der russische Präsident Wladimir Putin bekräftigte Ende 2004 die schon seit 1993 in der Militärdoktrin der Russischen Föderation enthaltene Maxime, wonach Russland auf konkrete Bedrohungen seiner Sicherheit, auch seiner Truppen und Stützpunkte jenseits seiner Grenzen, gegebenenfalls mit Präventivschlägen reagieren und die Initiative zu Interventionen ergreifen würde. Ob der UN-Sicherheitsrat überhaupt mit einer Resolution zum Zuge käme, hinge von den Umständen einer Situation ab, die nicht hypothetisch vorweggenommen werden kann.

So wichtig die Völkerrechtsfrage für die internationale Legitimierung einer Gewaltanwendung auch ist – Gegenproliferation wird nicht von  allseitiger Zustimmung, von einer Mehrheit im UN-Sicherheitsrat oder vom Veto einer anderen Macht abhängig gemacht werden. Dies gilt im Übrigen gegen die USA genau wie für sie: Eine in Moskau ernst genommene Drohung von Terroristen mit einem atomaren Sprengsatz, der etwa aus einem russischen Depot entwendet oder aus Pakistan erworben worden wäre, würde eine bewaffnete Aktion Russlands auslösen können. Ohnehin haben der angloamerikanische Präventivkrieg gegen den Irak 2003 und die Intervention 2001 in Afghanistan international Beispiele gesetzt, die nicht nur als völkerrechtliche Präjudizien zur Selbstlegitimierung, sondern auch als politisch-strategische Anwendungsfälle der präventiven Gegenproliferation gesehen werden können.

Die Frage ist also international gestellt, auch wenn hinsichtlich Nordkorea und Iran bisher noch keine positive Antwort von Washington gegeben wurde. Dies gilt insbesondere auch für Gegenproliferation zur Unterdrückung „nuklearen Terrors“, der schon seit den sechziger Jahren auf der Agenda amerikanischer Hypothesen über die internationale Entwicklung steht, auch wenn sich keine dieser Annahmen über vier Jahrzehnte bestätigt hat. Nach dem Terroranschlag auf das Lager der US-Marines bei Beirut und die US-Botschaft dort forderte der damalige amerikanische Außenminister George Shultz in einer Rede am 20. September 1984 „aktive Prävention, Präemption und Vergeltung“ („active prevention, preemption and retaliation“) mit militärischer Gewalt gegen Terrorbedrohungen.

Frühe Drohungen

Diese Aneinanderreihung gilt logisch und praktisch auch für Gegenproliferation, falls es sich um Terror mit „Massenvernichtungsmitteln“ handelt. Wie George Shultz’ Nachfolger James Baker III. am 8. Januar 1991 vor Beginn des zweiten Golf-Kriegs in Genf dem damaligen irakischen Außenminister Tarik Aziz androhte, würde ein Einsatz chemischer oder biologischer Kampfstoffe durch den Irak unweigerlich „die Beseitigung des Regimes“ durch die Vereinigten Staaten und „die Bestrafung aller Verantwortlichen“ nach sich ziehen.1 Die Frage, ob dafür als Erwiderung von den USA auch nukleare Waffen eingesetzt werden würden, ließ Baker offen. Ähnlich drohte auch Präsident George W. Bush im März 2003 dem Regime Saddam Husseins in Bagdad.

Zielplanung im Iran

Unabhängig von der Vergeblichkeit der Suche nach ABC-Waffen und Pro-duktionsanlagen durch die Amerikaner im Irak und unabhängig von der plausiblen Annahme, dass der Irak nach 1998 keine nukleare Prolifera-tion betrieben noch chemische oder andere toxische Kampfstoffe hergestellt oder besessen hat, bleibt die Gegenproliferation aktuell. Sie bleibt insbesondere bei nuklearen Rüstungen außerhalb des Kreises der inzwischen sieben faktischen Nuklearwaffenmächte (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan) und des nichterklärten Nuklearwaffenstaats Israel, als amerikanische Politik bestehen.

Welche operative Strategie mit welchen Mitteln sich dazu eignet? Die Informationen in der amerikanischen Presse über US-Agenten und Spezialeinsatzkräfte im Iran weisen auf die erste Voraussetzung jeder Intervention und jeder Prävention mit militärischen oder technischen Mitteln hin: Erkundung des Terrains, Nahaufklärung zur genauen Objektuntersuchung und Durchforschung des Umfelds der Ziele, auch durch Drohnen.

Die ohnehin dauernde Fernaufklärung mit Höhenflugzeugen für Luftbilder und Satelliten im Erdumlauf mit Radar- und Wärmebildern reicht für genaue Zielansprache nicht aus. Vor allem dann nicht, wenn unterirdische Anlagen durch Zugriff von außen in kürzester Zeit besetzt, untersucht und danach zerstört werden sollen. Gegebenenfalls müssten Zielbeobachter am Boden in der Umgebung jedes Ziel mit Laserpointern markieren (wie dies in Afghanistan mit den Taliban-Stellungen im Norden Kabuls im Herbst 2001 geschah), um punktgenau aus der Luft anzugreifen.

Der israelische Luftangriff im Jahre 1981 auf den irakischen Osirak-Atomreaktor, der diesen zerstörte und das irakische Kernwaffenprogramm nach internationaler Experteneinschätzung um etwa zehn Jahre zurückwarf, konnte auf ein sichtbares Ziel geführt werden. Die heutigen nukleartechnischen Objekte im Iran sind dagegen teils unterirdisch, teils ist ihre Lage noch nicht bekannt.

Militärische Vorbereitung

Zu der Aufklärung vor Ort und aus der Distanz kommt das Auskund-schaften der Führung des so anvisierten Gegners. Auch dies hatten die Amerikaner seit 2001 im Irak versucht und dabei falsche wie richtige Informationen gesammelt. Die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse waren unzureichend, nämlich nicht eindeutig, wie sie es meist sind. Hier liegt für die Gegenproliferation, die sich in erster Linie auf vorhandene Waffen, Produktionsanlagen, technische Entwicklungen und Komponenten richtet, das Hauptproblem – wie es sich bei jeder Vorbereitung eines Präventiv- oder Präemptionsangriffs und jeder militärischen Intervention mit Luftstreitkräften, Luftlandetruppen oder einer Seelandung gegen militärische und politische Ziele stellt.

Die vom damaligen US-Außenminister und vormaligen Vorsitzenden der Vereinigten US-Generalstabschefs, Colin Powell, schon im Jahr 2002 geforderte „eindeutige Aufklärungslage“ im Irak und die „richtige Auswertung und Beurteilung“ der Situation für einen zielgenauen militärischen Eingriff oder Angriff sind dabei von entscheidender Bedeutung.

Die Ende Januar 2005 in Bahrain, Kuwait und in den Vereinigten Arabischen Emiraten vom damaligen US-Staatssekretär für Rüstungskontrolle, John Bolton, geführten Gespräche über eine gemeinsame Haltung gegenüber dem iranischen Atomprogramm betrafen nicht nur militärische Gegenproliferation, wozu die US-Streitkräfte als einzige Macht derzeit operationell in größerem Maßstab fähig sind, sondern auch die gemeinsame politische Durchsetzung des Nichtverbreitungsvertrags. Der Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), der Ägypter Mohamed El-Baradei, hat inzwischen dazu die Ansicht beigesteuert, dass der Iran, würde er „den vollen Kreislauf“ der Urangewinnung in seinen Anlagen wieder aufnehmen, also insbesondere die Urananreicherung, binnen zweier Jahre spaltbares waffenfähiges Material gewinnen und in einem weiteren Jahr danach eine Atomwaffe bauen könnte.2 Dabei ist auch zu bedenken, dass der Iran gerade die neueste Version der Shahab-3-Rakete präsentiert, die eine Reichweite von etwa 2000 Kilometern hat und nukleare Gefechtsköpfe tragen könnte, wenn solche denn verfügbar wären.

Im Jahr 2005 zeichnen sich deshalb Möglichkeiten ab, die in den kommenden Jahren umgesetzt werden könnten: Militärische Gegenproliferation wird zu einem aktuellen Thema der internationalen Politik. Die Äußerungen Bushs und Cheneys mit Bezug auf den Iran mögen noch einen unverbindlichen Charakter haben. Sie weisen jedoch auf die Optionen hin, die in den Vereinigten Staaten heranreifen.

Ob schließlich mit Einsatzkommandos, mit Kampfflugzeugen und Luft-Boden-Waffen oder mit Flugkörper-Angriffen – die militärische Gegenproliferation wird in Washington und in London wie in Tel-Aviv, möglicherweise auch in Paris, längst vorbereitet. Sollte sie keine ausreichende abschreckende Wirkung haben, wird sie früher oder später angewendet werden, um ein nukleares oder anderes Proliferationsproblem zu beseitigen.

1 James Baker: The Politics of Diplomacy – Revolution, War & Peace, 1989–1992, New York 1995, S. 359.

2 U.S. pressing Arab states on Iran’s nuclear threat, International Herald Tribune, 31.1.2005.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2005, S. 108 - 111.

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