Neue Berliner Armutsästhetik
Sachlich, zurückhaltend, bescheiden – so präsentiert sich die neue Bundesregierung
Unsere Demokratie stand im letzten Jahr unter extremem Dauerstress. Die Große Koalition spiegelt mit ihrer geschäftsmäßigen Unaufgeregtheit den allgemeinen Erschöpfungszustand nach dem Stress präzise wider. Die Mattigkeit nach den monatelangen Turbulenzen gleicht einer „Reha-Phase“. Auch die „Schritt-für-Schritt“-Terminologie der Bundesregierung erinnert an Rekonvaleszenz. Der augenblickliche innenpolitische Klimawechsel ist gravierend. Die gemeinsamen Fotos von Merkel und Müntefering erinnern an frisch verliebte Verlobungspaare. Parteipolitische Rivalität scheint sich nur noch auf den unteren Rängen abzuspielen. Gemeinsame Auftritte von Kanzlerin und Vizekanzler werden die Regierungszeit weiterhin prägen. Denn erstmals ist ein Arbeitsminister – und kein Außenminister – Stellvertreter der Kanzlerin. Es liegt deshalb in der Logik der Politikpräsentationen, dass die zentralen, alles dominierenden Alltagsfragen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik weiterhin gemeinsam vorgestellt werden – ganz unabhängig davon, dass es sich um einen Sondertypus von Koalitionsbildungen handelt.
Die neue Eintracht geht mit einem veränderten Kommunikationsstil einher, der nicht nur sparsam daherkommt, sondern sich offenbar auch an Stufen von Geheimhaltungen verlässlich orientiert. Weder aus dem Kabinett noch aus den Klausurtagungen dringen Einzelpositionen in die Öffentlichkeit, was die Diskussionskultur in den Gremien stärkt. Als Beobachter ist man allerdings sehr irritiert, wenn nach der zweitägigen Klausur des Kabinetts auf Schloss Genshagen eine Hauptüberschrift lautet: „Müntefering: Das war schön; Merkel: Sehr gutes Klima“ (FAZ, 11.1.2006). Inhaltsarmut als Beleg für funktionierende Diskretion – oder doch eher für den Nachweis des Vertagens von großen Problemen? Das kann im Moment noch keineswegs eindeutig beantwortet werden.
Alle neuen Bundeskanzler sahen sich in einer verantwortlichen Kontinuität der Politik des Vorgängers. Faktische Politikwechsel waren in unserer auf Konsens und Stabilität ausgerichteten Innenpolitik immer langfristig angelegt. Abrupter ging es, im Gegensatz zur materiellen Politik, dagegen im Bereich der Darstellungspolitik zu. Der Stilwechsel in der Politikgestaltung gehörte für jeden neuen Bundeskanzler essentiell mit zur Startphase einer Bundesregierung. Hier galt es sich schon im Wahlkampf vom jeweiligen Amtsinhaber zu distanzieren. Insofern sollte auch im Augenblick vor „Merkelmania“ gewarnt werden. Die völlig veränderte Darstellungspolitik ist nicht nur ein Ergebnis des allgemeinen politischen Erschöpfungszustands oder gar der Sonderkonstellation einer Großen Koalition, sondern signifikant für jede Startphase von neuen Regierungen. Wie lange diese Darstellungsarmut allerdings von positiven Schlagzeilen begleitet wird, hängt von den sichtbaren Politikergebnissen ab. Die Ungeduld der Wähler ist groß. Schonfristen existieren praktisch nicht mehr.
Die Wähler haben allerdings gezielt für diesen Stilwechsel bei der Bundestagswahl votiert. Die Schere zwischen der Darstellungs- und der Entscheidungspolitik ging immer weiter auseinander. Allzu oft war der medientauglichen Machtinszenierung einer Entscheidung dann doch Tatenlosigkeit gefolgt. Das Ende von Rot-Grün ist auch ein wenig das Ende der Kunst der Inszenierung in der Politik. Statt Kraftmeierei erleben wir nunmehr Armutsästhetik. Sachlich, zurückhaltend, bescheiden – das ist zurzeit das Markenzeichen der neuen Bundesregierung. Eine Aura der Solidität durchströmt die Startphase, die sich in ihrer gesamten Ruhigkeit von dem moralisch überhöhten Start von Rot-Grün 1998 fundamental abhebt. Nicht ein Projekt wird gestartet, sondern mühsames Patchwork. Die Nüchternheit der Bühnendarstellung bleibt in Erinnerung, nicht der szenische Kraftakt.
Dahinter verbirgt sich graduell auch ein protestantisches Politikverständnis der Kanzlerin. Das selbstlose Dienen zieht sich leitmotivisch durch ihre Reden. Sie gibt sich provozierend unpathetisch und manchmal bis zur Schmerzgrenze ernüchternd. Sie verzichtet bislang auf Machtgebaren und heroische Gesten. Im protestantischen Duktus zählen nur Worte und Werke. Aus dem protestantischen Tugendkanon spricht zudem der Dauerappell der Kanzlerin, den wirtschaftlichen Erfolg aus Tugenden herzuleiten: Was kann ich selber tun? Dieses protestantische Stilmuster konnte für die katholisch geprägte Kohl-CDU auf der Leitungs-ebene nie mehrheitsfähig werden. Insofern transportiert die Kanzlerin auch eine neue Union.
Unser Blickwinkel auf Merkel verändert sich rasant. Mit jeder neuen Karrierestufe betrachten wir die Person Angela Merkel mit modifizierter Aufmerksamkeit und unerwarteter Neugierde. Das eigene Zutun – neues Outfit, gelernte Gesten – zu dieser angeblichen Veränderungsdynamik ist zumeist minimal. Vielmehr suchen wir uns als Betrachter stets einen neuen Blickwinkel auf die gleiche unveränderte Person im Rampenlicht der Macht. Die bebilderte Wechselhaftigkeit ist bei einer Person mit der Biographie von Angela Merkel geradezu vorprogrammiert. Denn wir wissen nur ausschnitthaft etwas über sie. Sie hat es bislang geschafft, die Deutungsmacht über ihr Leben zu behalten. „Sphinxhaft“ bleibt die stets verdachtsbestimmte Wahrnehmung der Angela Merkel in Westdeutschland.
Wir haben ein Bild von erfolgreichen Naturwissenschaftlern, das wir gerne auch auf Merkel projizieren: streng diszipliniert, verliebt in die Versuchs-anordnung, alles im Umfeld vergessend. Gleichzeitig bleibt der Eindruck von gelernten Mechanismen der Entscheidungsfindung, die naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungen folgen: Versuch plus Irrtum. Das funktioniert auf der einen Seite transparent und höchst funktional, aber ohne strategisches Zentrum. Auf der anderen Seite arbeitet dieses System zielstrebig mit dem Charme unverdächtiger Harmlosigkeit, wenn es darum geht, von der einen auf die andere Minute neue Handlungskorridore auszuloten und politische Optionen blitzschnell zu nutzen. Das führt zu immer neuen Überraschungssiegen von Merkel, gerade dann, wenn ihre Gegner sie für längst geschlagen halten.
Große, verlässliche Gefolgschaft kann man mit solchen Überraschungstechniken nicht sammeln. So ist Angela Merkel die erste Kanzlerin, die ohne eigene Hausmacht regiert. Ob ihr diese damit einhergehende Unabhängigkeit nutzt oder eher schadet, werden die nächsten Monate zeigen. Sicher ist nur, dass sich ihr Bild in der Öffentlichkeit weiter wandeln wird, völlig unabhängig davon, ob sie dies aktiv betreiben wollte. Solche Wahrnehmungsveränderungen sind zudem immer geschlechtsneutral.
Prof. Dr. Dr. KARL-RUDOLF KORTE, geb. 1958, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und leitet die Forschungsgruppe Regieren. Zuletzt erschien von ihm „Politik und Regieren in Deutschland. Strukturen, Prozesse, Entscheidungen“, Paderborn 2004.
Internationale Politik 2, Februar 2006, S. 78 - 79