Die Botschaft aus Düsseldorf
Von der Lösungskompetenz des politischen Betriebs sind nur Minderheiten überzeugt
Der Kampf um die nächste Bundestagswahl begann in der Regel immer in Nordrhein-Westfalen. Rein quantitativ ist NRW eine kleine Bundestagswahl mit seinen 13 Millionen wahlberechtigten Bürgern. Aber vor allem qualitativ hat NRW seismographischen Charakter. Hier bahnte sich die erste sozialliberale Koalition an, bevor sie im Bund 1969 gewagt wurde. Hier verbanden sich erfolgreich die Grünen mit der Rau-SPD, was wenige Jahre danach auch Schröder motivierte, das gleiche Bündnis für die Bundesregierung zu schließen. Seit dem 22. Mai 2005 sind auch politische Abschiedsgedanken mit NRW verbunden. Die letzte rot-grüne Landesregierung wurde abgewählt. Die Grünen sind in keiner Landesregierung mehr vertreten, sie sind in den Ländern eine Oppositionspartei und somit machtlos im Bundesrat. Die SPD hat nicht nur ihr schlechtestes Ergebnis seit 1954 erzielt, sondern mit NRW auch ihr Basiscamp verloren. Die SPD ist auf Marginalgröße in einem Land zusammengeschmolzen, indem sie von 1980 bis 1995 eine hegemoniale Stellung aufgebaut hatte.
Der Krise der traditionellen Industrie verdankte die SPD die maximale Mobilisierung ihrer verunsicherten Wähler. Das ist für immer dahin. Denn die SPD ist nicht mehr im vorpolitischen Raum verankert. Sie tritt nicht mehr als Gewerkschaftspartei auf, mit Multifunktionären in den Betriebsräten als Kümmerer vor Ort. Wenn sie es noch versucht, ist die Reichweite äußerst begrenzt. Der SPD ist die Milieuhaftung abhanden gekommen, sie ist den Lebensgefühlen ihrer Kernwähler entkoppelt. Sie ist keine Graswurzelpartei mehr, wie die CSU es in Bayern noch vorlebt. Die Reformagenda-Politik hat Sinnlöcher für die sozialdemokratischen Wähler hinterlassen. Ein Fünftel aller Mitglieder haben die SPD seit 1998 verlassen. In NRW ist die CDU mittlerweile die mitgliederstärkste Partei. Die SPD-Aktiven in NRW sind nach drei verlorenen Wahlen (Europawahl, Kommunalwahl, Landtagswahl) seit 2005 voller Depression für die anstehende Bundestagswahl. Da ist kein traditionelles „Herzkammer-Gefühl“ mehr zu wecken. Da haben die Erosions- und Entfremdungsprozesse langfristig die Kampagnenfähigkeit der SPD erschüttert.
Umgekehrt lässt sich nicht schlussfolgern, dass eine neue hegemoniale Stellung für die CDU entstanden sei. Die Zeiten von strukturellen Mehrheiten sind eindeutig vorbei. Der klare Sieg von Schwarz-Gelb bedeutet nicht automatisch einen Serienstart oder die nostalgische Brücke zu den Siegen in den sechziger Jahren. Die strategische Botschaft lautet ganz anders: Der Union ist es gelungen, im großstädtischen Bereich erhebliche Zuwächse zu erzielen und den Rang einer neuen „Arbeiterpartei“ zu erkämpfen. Die bibelfesten Stammwähler von Paderborn bis Arnsberg hatte sie ohnehin hinter sich. Die Landtagswahl hat insofern erdbebenhafte Erschütterungen im Parteienwettbewerb gebracht, die auf Berlin ausstrahlen.
Doch neben dem telegenen Spektakulären hat die Landtagswahl langfristig neue Konturen im Parteienwettbewerb angekündigt. Es scheinen sich die Bedingungen des Erfolgs im politischen Wettbewerb verändert zu haben. Ratlose Ruhe kombiniert mit elementaren Absturzängsten herrschten an vielen Orten vor allem in der Mittelschicht. Die offenen Sozialproteste gegen die Hartz-Reformen sind längst abgeflaut. Die Horrormeldungen über Arbeitslosenzahlen führen zum ritualisierten Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition. Eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger rechnet deshalb perspektivisch äußerst pessimistisch mit einer klaren Verschlechterung der Lage. Lethargisch, leidenschaftslos, desillusioniert ergeben sich die Bürger offenbar ihrem unabwendbaren Schicksal. Von der Lösungskompetenz des politischen Betriebs oder gar der politischen Akteure sind nur noch Minderheiten überzeugt. Die Mehrheit pflegt eine zynische Politikverachtung. Politik scheint nicht mehr kompetent zu sein.
In solchen Zeiten der Aufbruchslosigkeit wählen die Bürger die politischen Parteien am Wahltag in den Kategorien der Schadensbegrenzung: Sie erwarten weder von der amtierenden Regierung noch von der Opposition faktische Verbesserungen. Die neue Düsseldorfer Regierung hat den Wählern nichts Konkretes versprochen, außer einer Gefühlswende zum Besseren. Kompetentes Kümmern, faires und verlässliches Regieren waren die Wahlangebote, die von den Wählern honoriert wurden. Im Ton einer neuen Sachlichkeit hat sich eine Opferromantik ausgebreitet, die Besserung durch Änderung erwartet. Mehr nicht. Gewählt worden sind nicht jene, die die Wirklichkeit verdrängte oder die Probleme verschwiegen haben, sondern diejenigen, die nichts versprochen haben, außer der Anmutung, es besser zu können. Gerade die beiden bundesweit ausgestrahlten TV-Duelle zeigten dieses Ergebnis als Dilemma moderner Politik – insbesondere auf der Ebene der Bundesländer, nämlich fast alles zu wissen, aber fast nichts tun zu können. Entweder sind die finanziellen Bindungen so extrem, dass kein Spielraum zum Handeln bleibt. Oder es fehlen Zuständigkeiten, die in die Kommunen, auf Bundesebene oder nach Brüssel abgewandert sind. Insofern ist das Wahlergebnis von Düsseldorf keine aus Wutwellen resultierende echte Abstrafung für Rot-Grün, aber auch kein euphorisches Aufbruchsignal für eine neue Regierung. Regieren und Opponieren in Zeiten ökonomischer Knappheit verweisen darauf, dass sich die Verteilungskonflikte nicht mehr traditionell über Zuwächse schlichten lassen. Das spüren die Wähler. Sie belohnen deshalb nicht mehr diejenigen, die als Vorkämpfer sozialer Errungenschaften auftreten. Das knappe Gut an politischem Vertrauen wird perspektivisch anders an Wahltagen vergeben als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Wenn es zu Neuwahlen des Deutschen Bundestags in 2005 kommt, wird das die übergeordnete Grundmelodie bleiben, sozusagen der Refrain von Düsseldorf.
Die kleinen Parteien werden einen Existenzwahlkampf zu führen haben, vor allem die Grünen. Sie sind über Jahre hinweg in den Status einer Funktionspartei hineingewachsen, die jetzt ihre mehrheitsbildende Funktion verloren hat – zum Oppositionswahlkampf verdammt, d.h. Kernwähler zu mobilisieren, eigenständig und rücksichtslos zugleich. Die SPD steht von drei Fronten unter Beobachtung: Die Grünen werden das alte Denken der SPD versuchen aufzudecken, die neuen und die alten Linken (WASG/PDS) geißeln die soziale Unwucht der SPD und das schwarz-gelbe Lager wird auf die angestauten Abwahlmotive der Wähler setzen. Die Parteien der Mitte werden sich jedoch im Ton neuer Sachlichkeit nicht mehr mit Versprechungen überbieten. Keine schlechte Perspektive, um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen.
Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 58 - 59