IP

01. Nov. 2007

Sicherheit als linke Sehnsucht

Werkstatt Deutschland

Nach Umfragen steht die Mehrheit der Bundesbürger „links“. Regiert wird die Republik aber von „rechts“. Wie passt das zusammen?

In der Europäischen Union haben die Wähler relativ zuverlässige Vorstellungen über eine Links-Rechts-Einordnung der politischen Parteien. Bei den Umfragen bleibt es freilich den einzelnen Befragten überlassen, was sie konkret unter links und rechts verstehen. Die Mehrzahl der Bundesbürger (52 Prozent laut TNS Emnid) verortet sich derzeit in der politischen Mitte – ansteigend seit den achtziger Jahren. Der Anteil derjenigen, die sich in Deutschland als links bezeichnen, ist von 1981 (17 Prozent) bis heute auf 34 Prozent (TNS Emnid) drastisch angestiegen. Die Wahlergebnisse bei Bundestagswahlen spiegeln diese Ergebnisse wider: 1998, 2002 und 2005 siegte eine linke Mehrheit. Diese parlamentarische Mehrheit links der Mitte ist aber nur eine rechnerische gewesen, nicht eine der politischen Übereinstimmungen. Zwar kam es zweimal zu rot-grünen Bundesregierungen (1998 und 2002), doch die Wählerklientel der Grünen ist eindeutig nur kulturell links eingestellt und der Sozialstruktur nach eher bildungsbürgerlich rechts einzuordnen. Diese wertorientierten Grün-Wähler zählen mittlerweile überwiegend zu den „Besserverdienenden“. Eine rechnerische linke Mehrheit des Bundestags bleibt somit zunächst eine mathematische Gleichung. Die politische Arithmetik besteht nicht in der Addition von Wählerstimmen, sondern in der Kombinierbarkeit politischer Absichten. So kam es nicht zu Rot-Rot-Grün, sondern 2005 zur Großen Koalition.

Dem messbaren Linkstrend entspricht auf den ersten Blick die derzeitige Formation der Berliner Koalitionsregierung nicht. Weitet man den Blick jedoch auf andere Verfassungsorgane, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Es legt eher den Verdacht einer schwarzen Republik nahe. Die Union stellt die mit Abstand meisten Ministerpräsidenten. Bundestagspräsident und Bundeskanzlerin gehören der CDU an. Den Bundespräsidenten wählte in der Bundesversammlung eine bürgerlich-konservative Koalition. Den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts schlug die Union vor. Niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hatte die CDU/CSU eine derartig flächendeckende politische Ausprägung.

Der institutionellen schwarzen Dominanz steht eine auch parlamentarisch existente Linke gegenüber. Aufbruchsgeist und Emanzipationspathos zeichnen „Die Linke“ allerdings nicht aus. Es ist eher das Retro-Bekenntnis einer Partei der sozialen Empörung, die bewahrend und nationalstaatsorientiert auftritt. Sie stellt für viele Verunsicherte und Protestwähler eine echte Alternative im Parteienspektrum dar. Sie agiert wie eine Defizitpartei, während sich die anderen Parteien einander programmatisch immer weiter angenähert haben.

Was kennzeichnet also den Linkstrend, wenn er nur schwerlich bei der Partei „Die Linke“ zu verorten ist? Die Linksbegeisterung lässt sich nicht mehr traditionell als Wunsch nach mehr Gleichheit, neuer Umverteilung, mehr Emanzipation oder dem Ausbau des Sozialstaats einordnen. Im Kern hat der Wunsch nach Gerechtigkeit zugenommen. Die Kompetenz über Fragen der Gerechtigkeit ist bei keiner Partei beheimatet. Im Gegenteil empfinden die Bürger angesichts wachsender Ungleichheit auch zunehmende Ungerechtigkeit. In Zeiten der Globalisierung führt der konjunkturelle Aufschwung in Deutschland erstmals auch zu wachsender Armut. Dabei wird spürbar, dass Gerechtigkeit viel mehr ist als nur soziale Gerechtigkeit. Klimapolitik etwa ist elementare Gerechtigkeitspolitik. Der Machtkampf innerhalb der SPD-Spitze entzündete sich auch nicht zufällig an der Agenda 2010. Für viele Bürger ist sie die Chiffre der Ungerechtigkeit. So notwendig es war, den Sozialstaat zukunftsfest zu machen, so wichtig war es auch, dies angemessen zu kommunizieren. Eine Reformkommunikation, die den Namen verdient, hat es jedoch nicht gegeben. Die SPD – und nur sie konnte die Hartz-Gesetze verantworten – hat für den notwendigen Rückbau des Sozialstaats viele Wahlen verloren. Eine unionsgeführte Bundesregierung wäre damals vermutlich mit Generalstreiks konfrontiert worden. Es ist schon kurios zu beobachten, wie in dem Moment, wo die Reformen erste Erfolge zeigen, die SPD vom Agendakurs abweichen will. Doch die Volksparteien als Sozialstaatsparteien müssen ihr Verständnis von Gerechtigkeit offenlegen. Der kommende Sozialwahlkampf wird das noch verstärken. Damit werden auch die so genannten linken Themen in neuem Gewand öffentlich diskutiert.

„Links“ zielt heute, in Zeiten der täglich erlebten Globalisierung, auf linkskonservative Motive: die Renaissance des Sozialen als Antwort auf elementare Gerechtigkeitsfragen, das Primat der Politik über die Herrschaft des Ökonomischen. Hier sind alle Parteien aufgerufen, Antworten zu formulieren. Zu den linkskonservativen Motiven zählt auch die offenbar gewachsene Faszination für staatliche Verlässlichkeit. Wer heute klassische Deregulierungspolitik vorschlägt, gerät in heftige Begründungsnot. Eine neue Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft prägt sich aus.

Hinter dieser Themenvielfalt steckt eher Sicherheitskonservatismus als eine Befreiungsrhetorik linker Ideologien. Alle Parteien haben sich nach der letzten Wahl in teils dramatischer Abkehr von den alten Programmen diesen neuen Mobilisierungsthemen zugewandt. Das spricht für den starken Einfluss der Wähler auf die Parteien. Im Ergebnis wird es für die Wähler aber umso schwieriger, Konturen der Unterschiedlichkeit im Parteienspektrum aufzudecken.

Prof. Dr. KARL-RUDOLF KORTE, geb. 1958, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und leitet die Forschungsgruppe Regieren. Seine jüngste Veröffentlichung (zusammen mit Nico Grasselt): „Führung in Politik und Wirtschaft“, Wiesbaden 2007.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2007, S. 72 - 73.

Teilen

Mehr von den Autoren