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01. Okt. 2005

Rückblick auf Ausnahme-Wahlen

One-Man-Show vs. neue Nüchternheit: Noch nie waren Inhalte so zentral im Wahlkampf

Die Bundestagswahl vom 18. September 2005 gehört an exponierter Stelle zur besonderen Wahlgeschichte in Deutschland. Das hängt nicht mit dem Ergebnis zusammen, sondern mit den außergewöhnlichen Besonderheiten des Wahlwettbewerbs. Die Umstände der Verkürzung der Legislaturperiode hatten die vorzeitige Auflösung des Bundestags zum Eigenthema des Wahlkampfs werden lassen. Bislang siegten in der Geschichte der Neuwahlen zum Bundestag stets die Formationen, die eine vorzeitige Auflösung (1972 und 1983) erzwungen hatten. Seit Bundeskanzler Schröder am 22. Mai die Vertrauensfrage stellte, befand sich die Regierungskoalition in der Abwicklung. Die Mehrzahl der Wähler sah die rot-grüne Koalition bereits als abgewählt an. Die Bürger beurteilten die Union mit ihrer Kanzlerkandidatin über viele Wochen als Regierungspartei mit einer „gefühlten Kanzlerin“ an der Spitze. Im Abwahl-Wahlkampf musste sie sich an der Messlatte einer Regierungsverantwortung messen lassen. Jeder Fehler reduzierte das Umfragehoch. Auch solche Verortungen bewirkten ein kontinuierliches Annähern der beiden großen Lager.

So ergab sich schließlich nahezu ein Patt zwischen CDU/CSU und SPD, gleich mehrere Koalitionen wurden denkbar. Die Wähler konnten sich an 1998 erinnert fühlen. Auch damals war unklar, welche Regierung zustande kommen könnte. Bundespräsident Herzog überlegte, ob er einer rot-grünen Minderheitsregierung mit Tolerierung durch die PDS mit seinem Vorschlagsrecht für den Kanzler den Weg bahnen sollte. Oder ob nicht doch durch die Nominierung von Schäuble eine Große Koalition vorzuziehen wäre oder gar eine Ampel-Konstellation als demokratische Mehrheitsalternative. Man erkennt sehr schnell, wie der Bundespräsident durch seine Reservemacht erneut zum Schlüsselakteur des politischen Systems werden kann. Für Wähler ist das alles verwirrend. Mit ihrer Wahlstimme wird es in dem neuen asymmetrischen Fünf-Fraktionen-Parlament immer ungewisser, welche Regierungskoalition sie ins Amt befördern.

Weitere Besonderheiten: Erstmals stand eine Kanzlerkandidatin mit zur Wahl. Die Wahlforschung hatte insofern keine seriösen Vergleichsmaßstäbe, um mögliche Konsequenzen zu erörtern. Ungewöhnlich ist daran auch, dass Angela Merkel über keine eigene Hausmacht verfügt. Alle früheren Kanzlerkandidaten konnten sich als Ministerpräsidenten auf eine politische und regional differenzierte Hausmacht verlassen. Oppositionsarbeit bleibt alltagspraktisch höchst schwierig, wenn nicht eine Regierungszentrale der Bundesländer als verlässliche Steuerungsgröße im Hintergrund die Fäden mit zieht. Die Zuarbeiten über die Parteizentralen oder die Fraktionsmitarbeiter sind äußerst begrenzt, selbst wenn man an der Spitze der Organisationen steht. Schlagkräftige Ressourcen können im politischen Alltagsgeschehen in der Regel nur über eine Staatskanzlei oder große Landesministerien aktiviert werden. Dennoch ist es der Kanzlerkandidatin – teils zufällig, teils strategisch angelegt – gelungen, mit einer Doppelstrategie der begrenzten Zusammenarbeit bei gleichzeitiger Teilblockade den Bundeskanzler zur vorzeitigen Aufgabe zu zwingen.

Erstmalig hatten die Wähler mit der Linkspartei die Chance, ihrem Protest gegen die Reformpolitik der Bundesregierung (abgeschwächte Agenda 2010) bzw. gegen die Vorschläge der Union (verschärfte Agenda) in der Wahlkabine Ausdruck zu verleihen, ohne gleichzeitig erkennbar links- bzw. rechtsextremistische Parteien zu fördern. Hinzu kam, dass die Linkspartei sicher mit dem ersten Versuch in den Bundestag gelangte, was für eine neuformierte Partei ebenso einmalig in der Bundestagsgeschichte ist. Reduziert man die Linkspartei auf ihren Kern, könnte man auch argumentieren, dass die PDS ebenso wie bereits 1998 erneut in Fraktionsstärke ins Parlament einzieht. Auch solche Betrachtungen könnten manch künstliche Aufgeregtheit relativieren.

Ungewöhnliche Mobilisierungsstrategien waren zudem im Wahlkampf zu beobachten. Eine Wende zum Weniger, das Austauschen von Wohltaten gegen Zumutungen durchzog die meisten Wahlprogramme, allerdings in sehr unterschiedlicher Intensität. So hatte beispielsweise die Union erstmalig in der Wahlgeschichte der Parteien angekündigt, keine Nettoentlastungen nach dem Wahltag anzubieten. Eine Polarisierung setzte erst in den letzten drei Wochen des Wahlkampfs ein. Mit Paul Kirchhof, einer Schlüsselfigur der gesamten Reformdebatte, gelang der Union die Rückkehr zur Offensive. Die Gegenmobilisierung ließ allerdings auch nicht lange auf sich warten. Die SPD hatte ein emotionalisierendes, polarisierendes und personalisierendes Thema gefunden: soziale Kälte gegen soziale Gerechtigkeit in der Steuer- und Finanzpolitik. Ohne Kirchhof wäre es rückblickend schwer zu analysieren, welches eigene mobilisierende Thema die SPD im Wahlkampf einsetzte. Weder gelang es der SPD mit neuen Personalangeboten Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen noch mit offensiven Gewinnerthemen über die Reformzukunft des Landes. Auch die Union schien erneut in der Ökonomisierungsfalle zu stecken. „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ – die Kernbotschaft konnte flächendeckend vermittelt werden, aber die Eindimensionalität der Thematik hatte ihre Tücken. Ökonomische Effizienz, kulturelle Modernisierung und soziale Gerechtigkeit bilden gerade für ein modernes Bürgertum eine wichtige Trias. Die Überbewertung der Ökonomie ohne wertorientierte Einbettung war gewagt.

Zu den Besonderheiten der Wahl gehörte auch der Tonfall der Akteure. Im Ton der neuen Sachlichkeit hatte sich über Monate innerhalb der Bevölkerung eine Opferromantik ausgebreitet, die Besserung durch Änderung erwartete.  Doch letztlich fragten die Wähler dann ganz kostenbewusst, welche Regierung sie sich leisten können – und scheuten konsequent davor zurück, Schwarz-Gelb mit ihren angekündigten Einschnitten bei Pendlerpauschale, Eigenheimzulage, steuerfreier Nachtarbeit etc. ein klares Mandat zu erteilen. Ehrlichkeit vor den Wahlen über das geplante Regierungsprogramm hat sich nicht ausgezahlt.

Noch etwas fiel diesmal auf: Der Spielraum für Inszenierungen ist sehr eng geworden. Auch das TV-Duell war von Inhalten geprägt. So konnten die Bürger wählen zwischen dem medialen Charismatiker Schröder und einer dem Politainment fernen, dafür argumentativen Merkel, zwischen vertraut-bewährter Ein-Mann-Präsenz und einer selbstdarstellungsarmen Nüchternheit. Sie haben sich, wie die rasante Aufholjagd der SPD in den Umfragen der letzten Wahlkampfwochen zeigte, vom furiosen Wahlkämpfer Schröder deutlicher überzeugen lassen als von der sachlichen Merkel. Insgesamt jedoch, das zeigen die Wahldaten, spielten die Persönlichkeiten der beiden Kontrahenten eine geringe Rolle.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 62 - 63

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