Multipolare Welt
Auch das 21. Jahrhundert wird amerikanisch
Es scheint eine ausgemachte Sache zu sein: Das amerikanische Jahrhundert ist vorbei, der „unipolare Moment“ ist verflogen und mit ihm das „Ende der Geschichte“. Die meisten Beobachter meinen die Umrisse eines „pazifischen Jahrhunderts“ zu erkennen, in dem China die dominierende Weltmacht ist und die aufstrebenden Länder des Südens und Ostens in den Bann seines autoritären Kapitalismusmodells zieht. Wirklich? Das 21. Jahrhundert könnte erst recht amerikanisch sein.
» Ich sage nur: China, China, China! «
Völlig überschätzt. Vielleicht ist es ein wenig unfair, den ehemaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger zu zitieren; aber das Gerede von der gelben Gefahr ist eben nicht gerade neu, und war es schon zu Kiesingers Zeiten nicht. Gewiss, China ist – anders als damals unter Mao Tsetung – unzweifelhaft eine wirtschaftliche Supermacht. Würde China seine Dollarreserven auf den Markt werfen, Amerika wäre ruiniert; wenn Chinas Autoindustrie in Fahrt kommt, und das wird sie, dürfte man sich in Deutschland nach den Zeiten zurücksehnen, als man sich nur um Opel Sorgen machen musste. Und China ist nicht nur wirtschaftlich ein Riese: Im vergangenen Jahrzehnt wuchs nicht nur das Bruttoinlandprodukt Jahr für Jahr zweistellig, sondern auch der Verteidigungshaushalt. China hat das diplomatische Potenzial, Projekte des Westens zu sabotieren: siehe Kopenhagen, wo China und sein völkermörderischer Öllieferant Sudan eine Einigung über Maßnahmen zum Klimaschutz verhinderten; siehe New York, wo sich China im UN-Sicherheitsrat dagegen sträubt, schärfere Sanktionen gegen seinen potenziell völkermörderischen Öllieferanten Iran mitzutragen. Taiwan wird bedroht; afrikanische Länder werden als Rohstofflieferanten kolonisiert; die öffentliche Meinung des Westens wird brüskiert: Der Dissident Liu Xiaobo wurde wegen Nichtigkeiten zu elf Jahren Haft verurteilt, der geisteskranke britische Staatsbürger Akmal Shaikh trotz Proteste seines Premiers Gordon Brown als Drogenhändler hingerichtet. Wer – wie Kanzlerin Angela Merkel – den Dalai Lama empfängt, muss mit diplomatischen und wirtschaftlichen Sanktionen rechnen. Aber China ist ein Papiertiger. Die Ruppigkeit der Führung verrät hochgradige Nervosität. Der Separatismus bedroht die Grundfesten eines Staates, der auf dem Groß-Han-Nationalismus und der Parole „Stabilität und Einheit“ aufgebaut ist. Der Aufstand der Tibeter 2008 war nur die Spitze des Eisbergs. Im selben Jahr forderte ein Erdbeben in Setschuan 70 000 Menschenleben. So etwas sollte in einem entwickelten Land nicht passieren können. Die Umwelt ist verseucht. Die horrenden Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich, Stadt und Land sprechen der offiziellen Ideologie Hohn. Das soziale Netz ist faktisch nicht existent. Und die demografischen Folgen der Ein-Kind-Politik bedeuten, dass China alt wird, bevor es reich wird. Die Kommunistische Partei fördert den Nationalismus, um von diesen Problemen abzulenken, muss aber zugleich die Geister fürchten, die sie rief. China ist gefährlich, ja. Unberechenbar, ja. Aber gerade deshalb kein ernsthafter Rivale Amerikas.
» Die Finanzkrise hat das Ende der angelsächsischen Dominanz eingeläutet «
Schwerer Irrtum. Nach dem Börsenkrach und der anschließenden Wirtschaftskrise 1929 galt es als ausgemacht, dass der Wall-Street-Kapitalismus der Vergangenheit angehörte. Doch nach der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts -(1933–1945) wurde mit dem Vertragswerk von Bretton Woods das amerikanische Modell für weltweit gültig erklärt, war Amerika wirtschaftlich der unbestrittene Herrscher der Welt. Dass Roosevelt, wie Erika Mann sagte, „den Kapitalismus mit den Mitteln des Sozialismus“ gerettet habe – oder nach Meinung seines Vorgängers Herbert Hoover mit den Mitteln des Faschismus – tut nichts zur Sache. Man denke auch an die „Stagflation“ der Ära Richard Nixon, an die „Malaise“, die Jimmy Carter von Nixon erbte – verscheucht von Ronald Reagan und seiner „Voodoo-Ökonomik“, wie sein Rivale und späterer Vizepräsident George H. W. Bush dessen Steuersenkungspläne nannte. (Und von Carters -Notenbank-Chef Paul Volcker, aber die Geschichte ist ungerecht und dankt Carter nicht dafür.) Amerikas Fähigkeit, sich zu regenerieren, sollte nicht -unterschätzt werden.
Wenn die Bankenkrise eines klar gemacht hat, dann dies: Unternehmen, die Dinge herstellen, kann man pleite gehen lassen, große Finanzinstitute nicht. Und das Bankensystem bleibt angelsächsisch dominiert. Zürich, Frankfurt und Schanghai spielen entweder nach angelsächsischen Regeln, oder sie spielen nicht mit. Man frage Josef Ackermann. Übrigens: Wer sein Nachfolger werden will, muss nicht unbedingt Deutsch sprechen können; Englisch schon.
» Der autoritäre Kapitalismus gewinnt immer mehr Anhänger «
Ja, das stimmt. Das war nach der großen Wirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre nicht anders. Atatürk, Mussolini, Hitler, Lenin und Stalin galten als die Gestalten der Zukunft. Planung wurde zum Zauberwort selbst in den Urländern des Kapitalismus, Großbritannien und den USA. Anne Morrow Lindbergh, die Frau des Atlantikfliegers und Nazisympathisanten Charles Lindbergh, feierte den „Ameisenstaat“ als Modell der Zukunft. Joseph Kennedy, Vater des späteren Präsidenten, dachte ähnlich, und sein Sohn John F. Kennedy machte sich über Nixon lustig, der Nikita Chruschtschow 1959 in die hochmodern ausgestattete Küche der US-Botschaft in Moskau einlud, um ihm vorzuführen, dass die Planwirtschaft zwar bei der Produktion von Raketen, aber nicht bei der Revolutionierung des Alltags mithalten könne. Der Kapitalismus braucht den Markt, der Markt braucht den freien Konsumenten und die ständige Innovation, die Innovation braucht Freiheit. Es mag sein, dass ein autoritäres Regime hilfreich ist, um dem Kapitalismus auf die Beine zu helfen, man denke an das Deutsche Reich vor dem Ersten, an Japan vor und Südkorea oder Chile nach dem Zweiten Weltkrieg. Früher oder später jedoch muss der Kapitalismus entweder die Fesseln des autoritären Staates sprengen oder eben verkümmern. Und mit ihm der Wohlstand, und mit dem Wohlstand die Akzeptanz der Autorität.
» Europa bietet ein Zukunftsmodell «
Schön wär’s. Aber die Europäer nehmen sich leider selbst nicht ernst. Da ist zum Beispiel die Lissabon-Agenda. Nein, gemeint ist nicht der Plan, die Europäer so lange über eine unverständliche, ungeliebte und unnötige Verfassung (zuletzt „Vertrag von Lissabon“) auf verschiedene Weise abstimmen zu lassen, bis endlich das richtige Ergebnis („In Gottes Namen: macht, was ihr wollt!“) herauskommt. Gemeint ist der in Lissabon vor zehn Jahren gefasste Beschluss, die Europäische Union bis 2010 zur „dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaft der Welt zu machen“. Tja. Nach zehn Jahren sieht die Bilanz so aus: Nicht einmal ein Drittel aller Europäer im Alter zwischen 25 und 34 kann einen Hochschulabschluss oder eine vergleichbare Qualifikation vorweisen. In den USA sind es 40 Prozent, in Kanada und Japan 50 Prozent. (Ja, aber das deutsche duale Ausbildungssystem, um das uns die ganze Welt beneidet! Kann man vergessen. Seit Jahrzehnten bemühen sich hoch bezahlte Quasi-Beamte darum, das System im Ausland zu verkaufen. Außer in Afrika finden sie keine Abnehmer.) Weniger als zehn Prozent der Industrie Europas gilt als „hightech“. Dafür arbeiten wir zehn Prozent weniger als die Amerikaner und Japaner, machen längere Ferien und gehen früher in Rente als alle anderen, besonders wenn wir im öffentlichen „Dienst“ tätig sind. Und zwar so lange, bis der Staat bankrott macht, wie aktuell in Griechenland und demnächst in Italien, Spanien und Portugal.
Gerade bekam die EU nach dem Lissabon-Vertrag die Chance, sich einen profilierten Ratspräsidenten und einen Außenminister (der aber so nicht genannt werden darf) zu wählen. Man suchte aber nach dem profillosesten Präsidenten (und fand ihn in Gestalt des belgischen Haiku-Dichters Herman Van Rompuy), und nach der unerfahrensten Außenministerin (und fand sie in Gestalt der weithin völlig unbekannten Baroness Ashton of Upholland). Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy will Europa benutzen, um Frankreichs Wirtschaft mittels Einfuhrzöllen gegen Länder zu schützen, deren Kapitalismus „unmoralisch“ ist. Die Deutschen wollen Europa benutzen, um Länder wie Griechenland zu disziplinieren, das deutsche Sozialstaatsmodell und die eigene exportgetriebene Wirtschaft vor dem notwendigen Umbau zu schützen. Die Briten wissen nicht so recht, wozu sie Europa benutzen wollen. Die Italiener hoffen irgendwie, dass der ganze Schlamassel nicht herauskommt. Alle miteinander schließen die Augen vor der Notwendigkeit, die Türkei, die Ukraine und Georgien aufzunehmen und endlich eine geopolitische Rolle – wenn nicht als Rivale, so doch als Juniorpartner der USA – zu spielen. Zukunftsmodelle sehen anders aus. Kein Wunder, dass Barack Obama seine Teilnahme am für Mai geplanten EU-USA-Gipfel in Madrid abgesagt hat. Worüber soll er mit den Europäern reden?
» Und der radikale Islam? «
So attraktiv wie ein Außenklo im Winter. Nirgendwo in der Welt ist die prowestliche, proamerikanische Stimmung größer als im Iran, dem ersten Land, in dem revolutionäre Islamisten an die Macht kamen. Der radikale Islam ist eine Reaktion auf das Versagen weltlicher Heilslehren wie Nationalsozialismus und Panarabismus, eine Reaktion auf Korruption und Repression, eine Reaktion nicht zuletzt auf die Todeszuckungen des Kommunismus, man denke an das Wüten der Sowjets in Afghanistan und der Serben in Bosnien. Und er ist leider auch ein Ergebnis der Kurzsichtigkeit des Westens, der in der Systemauseinandersetzung mit dem Kommunismus und dessen Verbündeten die Dschihadisten von Kabul über Teheran und Ramallah bis hin zum Kosovo gefördert oder doch wenigstens geduldet hat. Er ist vor allem, wie sein Vorläufer in Gestalt des europäischen Klerikalfaschismus, eine Abwehrreaktion, eine Angstreaktion auf die Moderne. Spätestens seit der Fatwah gegen Salman Rushdie, die in ihren Ergebnissen wahrscheinlich wichtiger ist als der Anschlag auf die Twin Towers, weiß man, was der islamistische Terror erreichen kann: Er kann die notwendige Diskussion über eine Modernisierung des Islam behindern, er kann die Reformkräfte einschüchtern und auf diese Weise den Eindruck erwecken, er selbst sei das wahre Gesicht des Islam. Aber trotz der Schützenhilfe der Islamophoben in Europa, die auf seine Propaganda hereinfallen und diese Propaganda verstärken, indem sie ihrerseits jedes Kopftuch und jedes Minarett als Zeichen für den bevorstehenden Untergang des Abendlands deuten, bleibt die Tatsache, dass die meisten Muslime lieber in einer liberalen, kapitalistischen Demokratie leben würden als in einer Theokratie iranischen oder einer Diktatur saudischen Zuschnitts. Von einer Massenauswanderung der israelischen Araber – angeblich „Bürger zweiter Klasse“ – nach Jordanien, Syrien oder Ägypten ist zum Beispiel nichts bekannt. Wenn sie könnten, würde die Mehrzahl der Jugendlichen aus der arabischen Welt in den USA leben – großer Satan hin, Israel-Lobby her. Wenn der politische Islam eine Zukunft hat, dann in der Version Recep Tayyip Erdogans und seiner AKP; dort wirkt er paradoxerweise als Modernisierungselement gegen den erstarrten türkischen Ultranationalismus der Enkel Atatürks. Ob er diese Modernisierung beherrschen kann oder von ihr überrollt wird, wie Konrad Adenauers CDU unter Helmut Kohl und Angela Merkel, steht in den Sternen. Hier wäre die EU gefordert – aber die beklemmende Mischung aus nationalen Egoismen, Mangel an Visionären und islamophobem Populismus könnte dazu führen, dass Europa die Chance verpasst, die Türkei an sich zu binden, und dass die Türkei eine Art Nationalislamismus entwickelt. Das wäre ein welthistorischer Rückschritt in einer Zeit, da die Muslime fast überall, wo sie frei wählen können, die Islamisten zurückweisen – im befreiten Afghanistan und im befreiten Irak, in Indonesien, dem größten islamischen Land der Erde, in Indien, der größten Demokratie der Erde, in Israel und in den europäischen Ländern. Im befreiten Irak? Sie belieben zu scherzen.
» Das moralische, politische und militärische Scheitern im Irak leitete das Ende der unipolaren Welt ein «
Scheitern? Gemessen woran? Der frühere britische Premierminister Tony Blair hatte Recht, als er vor dem Untersuchungsausschuss zum Irak-Krieg sagte: „Hätten wir Saddam nicht entfernt, hätten wir heute eine Situation, in der der Irak und der Iran nicht nur bei der Herstellung von Massenvernichtungswaffen, sondern auch bei der Unterstützung terroristischer Gruppen miteinander wetteifern.“ Blair hätte auch Libyens Diktator Muammar al-Khaddafi erwähnen können, der nach Saddams Sturz schleunigst sein eigenes Atomwaffenprogramm in Kisten verpackte und nach Langley an die CIA schickte, die bis dahin von der ganzen Chose nichts geahnt hatte. Die Welt, so Blair, sei heute dank der Ausschaltung Saddams „sicherer“; er würde auch mit seinem heutigen Wissen „genauso handeln“. Bravo.
Niemand kann ernsthaft leugnen, dass es im Irak Verbrechen – siehe Abu Ghraib – und, was schlimmer ist, Fehler gab: viel zu wenig Truppen, um eine effektive Besatzung zu garantieren; eine viel zu späte Umstellung der Strategie von der Terroristenjagd auf den Schutz der Bevölkerung. Aber die tapfere Entscheidung George W. Bushs, gegen alle Widerstände den „Surge“ durchzuführen, und die kluge Umsetzung der neuen Strategie durch seinen General David Petraeus haben das Blatt gewendet und den seit Vietnam herrschenden Mythos der Unbesiegbarkeit des Guerillakriegers ein für allemal zerstört. Im Irak entsteht ein föderaler, quasidemokratischer Staat; korrupt und dysfunktional, immer noch von Gewalt geplagt, aber mit einer Bevölkerung, die trotz alledem optimistischer in die Zukunft blickt als in jedem anderen arabischen Staat. Und zu Recht. Die US-Army wiederum hat sich wieder einmal als die größte Lernmaschine der Welt erwiesen. Die Lektionen werden nun in Afghanistan angewendet. Da möchte man kein Taliban sein.
» Barack Obama ist ein schwacher Führer «
Warten wir das mal ab. Hillary Clinton hatte zwar Recht, als sie sagte, das Weiße Haus sei der falsche Ort für eine nebenberufliche Fortbildung in Sachen Führung der freien Welt. Aber erstens ist Erfahrung nicht unbedingt Garant des Erfolgs, siehe das Scheitern Lyndon B. Johnsons oder das desaströse Ende Richard M. Nixons; und zweitens erweist sich Barack Obama – beileibe nicht der erste Unerfahrene im Weißen Haus, man denke etwa an John F. Kennedy – als schneller Lerner. Der gewaltige Prestigegewinn, den Amerika mit dem Abgang George W. Bushs und der Wahl Obamas verzeichnen konnte, ist im Ausland noch nicht verflogen. Trotz seines Absturzes in den Umfragen bleibt Obama auch in den USA der beliebteste nationale Politiker, was eben nicht viel bedeutet, weil die Amerikaner ein gesundes Misstrauen gegen die Politik haben. Schauen wir also zum Schluss auf die Anti-Obama-Bewegung. Die „Tea Parties“ erinnern ja an jene Bostoner Aktion gegen die Briten, mit der die Amerikanische Revolution eingeleitet wurde; eine Revolution die zuvörderst ein Aufstand gegen ungerechte Steuern war. Das heutige „Tea Party Movement“ will weniger Staat und weniger Steuern – und sei es um den Preis, dass es eben keine flächendeckende Krankenversicherung und kein engmaschiges soziales Netz gibt, dass Banken nicht gerettet und Autokonzerne nicht verstaatlicht werden. In einem Land, wo solche radikalkapitalistischen Forderungen aus dem Rezeptbuch Friedrich Hayeks, Ayn Rands und Maggie Thatchers zum Programm einer Graswurzelbewegung werden können, hat die Zukunft noch gar nicht richtig begonnen.
ALAN POSENER ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt am Sonntag.
Internationale Politik 2, März/April 2011, S. 68 - 73