Mütterchen Russland und die Moderne
Neue Bücher zur russischen Geschichte und Gegenwart
Russlands Präsident Dmitri Medwedew hat vor kurzem die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft kritisiert und eine Erneuerung Russlands unter größerer Beteiligung der Bevölkerung eingefordert. Doch wie ist es mit der Modernisierungsfähigkeit des Riesenreichs bestellt, wie könnte die Bevölkerung dafür mobilisiert werden?
Als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ hat Russlands Premier Wladimir Putin den Untergang der Sowjetunion einmal bezeichnet. Umso wichtiger ist es, dass 20 Jahre danach die Historisierung der Ereignisse um das Jahr 1989 begonnen hat. Für Helmut Altrichter, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, spielt Michail Gorbatschow, der 1985 mit für die Sowjetunion außerordentlich jungen 54 Jahren die Führung von Partei und Staat übernahm, die zentrale Rolle bei der Reformpolitik, die eine Welle des Wandels im gesamten Ostblock auslöste. Eher mit Schlagworten wie Perestroika und Glasnost denn mit einem Konzept versuchte Gorbatschow, über die „Mobilisierung des Faktors Mensch“ eine Erneuerung der Sowjetunion von innen anzustoßen. Die via TV von Millionen Sowjetbürgern verfolgten Debatten im Volksdeputiertenkongress gaben seiner Politik Gewicht durch Öffentlichkeit.
Gleichzeitig wurde mit den öffentlichen Diskussionen eine wachsende Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung deutlich. Die politische Pluralisierung, begleitet von einem wachsenden Macht- und Vertrauensschwund der politischen Führung, fegte letztlich das Einparteiensystem und damit die Sowjetunion hinweg. Während Gorbatschow nach außen Entspannungspolitik betrieb, um Spielraum nach innen zu gewinnen, verlor er immer stärker die Kontrolle über seine eigenen Machtgrundlagen. Die Diskussionen um die Defizite des Systems stellten den Sozialismus und das Monopol der Kommunistischen Partei in Frage. Trotzdem hielt die politische Führung krampfhaft an ihrer „führenden Rolle“ fest und machte sich damit unglaubwürdig und letztlich überflüssig.
Russlands Präsident Dmitri Medwedew hat vor kurzem die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft kritisiert und eine Erneuerung Russlands unter größerer Beteiligung der Bevölkerung eingefordert. Eine Anleitung, wie die russische Bevölkerung mobilisiert werden könnte, kann er sich bei Gorbatschow holen. Ob er das will? Den strukturellen Faktoren, die die Geschichte Russlands beeinflussen, ist Carsten Goehrke, emeritierter Professor der osteuropäischen Geschichte an der Universität Zürich, auf der Spur. Verbunden mit Fragen von Mentalität und kollektiver Identität begibt sich Goehrke auf die Suche nach den roten Linien in der russischen Geschichte.
Eng verknüpft mit diesem Ansatz ist die Frage nach der Modernisierungsfähigkeit Russlands. Für Goehrke lässt sich die Schwäche in der russischen Entwicklung nicht allein mit der autoritären Machtpolitik begründen. Ihre Wurzeln liegen in den räumlichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Gegensatz zur kleinräumlichen Gliederung sowie ethnischen und kulturellen Vielfalt in Westeuropa fehlte den Ostslawen bei ihrer Ausbreitung in den dünn besiedelten Osten der Stimulus von politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Wettbewerb.
Hinzu kam eine der Staatsmacht eng verbundene orthodoxe Kirche, die sich bis heute gegen religiöse und gesellschaftliche Veränderungen wehrt. Das sich seit dem 15. Jahrhundert herausbildende autoritäre Herrschaftssystem band durch ein Privilegiensystem Bürokratie, Adel und Kirche an sich und beutete auch nach der Revolution von 1917 die Bevölkerung aus. Diese Konstellation bildet die Grundlage für den Abstand zwischen Volk und Staat, Nichtprivilegierten und Privilegierten.
Macht wird in Russland bis heute nicht institutionell stabilisiert, sondern personell. Die Machthaber waren überzeugt, nur sie seien in der Lage, für das unmündige Volk handeln zu können, und umgekehrt war das Volk darauf fixiert, dass nur Väterchen Zar, Väterchen Stalin fähig waren, den Staat zu führen. So ist es für Goehrke der „Zirkel zwischen Staatsmacht und ‚staatsfixierter Gesellschaft‘“, der das russische politische Modell über die Jahrhunderte stabil hielt und die Demokratisierungsversuche 1917 und 1991 ins Leere laufen ließ. Letztlich verfolgten alle Reformer von Peter dem Großen bis zu Gorbatschow das Ziel, die „Macht der Herrschenden nach innen und die internationale Position des Staates nach außen zu stabilisieren“.
All das hat soziale Praktiken und Mentalitäten bis heute geprägt. Etwa die Anwendung von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung oder die tiefgreifende Korruption. Fehlende institutionelle und öffentliche Kontrolle staatlicher Institutionen bildet bis heute die Basis für die Allmacht der Bürokratie, die ihre Position nutzt, um sich privat zu bereichern. Die Zivilisierung des Systems kann für Goehrke nur aus der Gesellschaft erfolgen. Solange keine selbstbewusste Zivilgesellschaft in Russland existiert, wird sich das bestehende System nicht verändern. Auch Medwedews aktuelle Reformappelle verlaufen somit ins Leere, weil sie die bestehenden Strukturen nicht in Fragen stellen und die Freiräume für die Gesellschaft weiter begrenzt lassen.
Dr. STEFAN MEISTER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Programms Russland/Eurasien bei der DGAP.
Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des Sowjetimperiums. München: C.H. Beck 2009, 448 Seiten, 26,90€
Carsten Goehrke: Russland. Eine Strukturgeschichte. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 432 Seiten, 39,90€
Internationale Politik 2, März/April 2010, S. 138 - 143