Buchkritik

01. Sep 2021

Unsere Männer in Moskau

Differenzierte Analysen statt des in Deutschland angeblich herrschenden Negativbilds versprechen zwei Russland-Kenner. Doch trotz manch spannender Einblicke erfährt man aus ihren Büchern letztlich mehr über die offizielle Position des Kremls als alles andere.

Bild
Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Hubert Seipel und Alexander Rahr gelten als Repräsentanten der sogenannten „Russland-Versteher“ in Deutschland. Beide Autoren haben ihr Profil bewusst auf eine Darstellung der regierungsamtlichen russischen Lesart ausgerichtet. Kritik daran kommt bei ihnen fast nicht vor.

Seit es Seipel 2011/12 gelang, als erster westlicher Journalist Wladimir Putin über einige Monate für einen Dokumentarfilm zu begleiten, besitzt er direkten Zugang zum russischen Präsidenten, den er immer wieder für Hintergrundgespräche nutzt. In seinem Buch „Putin: Innenansichten der Macht“ hat er aus diesen Interviews seitenweise zitiert und Putin kritiklos seine Sicht auf die Welt erklären lassen.



Man täte Seipel wohl nicht Unrecht, wenn man ihn als „Hofberichterstatter“ des russischen Präsidenten in Deutschland bezeichnete. Seipel seinerseits wird nicht müde, die deutschen Leitmedien für ihre angeblich einseitige und negative Berichterstattung zu kritisieren.

Das neue Buch Seipels, „Putins Macht. Warum Europa Russland braucht“, ist subtiler als das Vorgängerwerk. Seipels eigene Analyse nimmt mehr Raum ein als die Zitate des russischen Präsidenten. Der Autor präsentiert eine Gegenposition zu den aktuellen Mainstream-Meinungen über Russland, die durch eine Entfremdung zwischen Deutschland und Russland geprägt sind und das System Putin ausgesprochen kritisch sehen. Dabei stellt er einige grundlegende Annahmen der deutschen Russland-­Forschung und -Politik infrage.



Allerdings steht nicht so sehr die Situation in Russland im Mittelpunkt von Seipels Darstellung; ihm geht es eher um die Verfehlungen der US-Politik. So gibt es aus seiner Sicht keine Beweise für die Einmischung Russlands in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016. Nicht Russland, sondern die USA seien weltweit Spitzenreiter beim Abhören und Ausspähen. Die polnische Regierung dient aus Seipels Warte als eine Art Waffe der USA gegen Nord Stream 2; zur Untermauerung seiner Bündnistreue habe Warschau langfristige Lieferverträge über amerikanisches Fracking-Gas abgeschlossen.



„Russophobe Einflussagenten“

Ein zentrales Argument des Autors: Die „Russophobie“, die in Deutschland und Amerika in den vergangenen Jahren um sich gegriffen habe, werde durch die US-Politik aktiv gefördert – nicht nur als Relikt des Kalten Krieges, sondern auch aufgrund knallharter Wirtschaftsinteressen. Dabei ist Washington aus Sicht des Autors mit Blick auf Nord Stream 2 weniger an europäischer Energie­sicherheit interessiert als am Export von „schmutzigem Fracking-Gas“.



Angela Merkels ehemaligen außenpolitischen Berater Christoph Heusgen bezeichnet der Autor als einen „russophoben Transatlantiker“, da er eine harte Linie gegenüber Moskau verfolgte. Der Wandel in der deutschen Russland-Politik, so suggeriert Seipel, habe viel mit dem Einfluss Dritter (USA) und ihrer „Einflussagenten“ (Heusgen) zu tun gehabt und nur wenig mit einer Veränderung in Russland selbst.



Dass das System Putin seit 2012 nach innen systematisch antiamerikanische Narrative propagiert und das Feindbild des Westens zur Mobilisierung gegen äußere Feinde schürt, ist für Seipel kein Thema. Es sei Amerika, nicht etwa Russland, das international für Instabilität sorge. Während Russland in Syrien mit seiner Unterstützung für Baschar al-Assad Stabilität geschaffen habe, betrieben die USA in Ländern wie dem Irak mit ihrem Regime-Change-Ansatz eine Politik der Destabilisierung.



Folgt man dem Autor weiter, so ist es in der Ukraine nicht Russland, das einen Friedensprozess im Osten des Landes verhindert, sondern vor allem der ehemalige ukrainische Präsident Poroschenko, seinerseits nur ein Spielball von US-Interessen. Mit keinem Wort erwähnt der Autor, dass erst das russische Eingreifen im Donbass eine Abspaltung von der Ukraine ermöglicht hat. Moskau finanziert die selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk und versorgt sie mit Waffen.



Auch das Thema Geschichtspolitik liegt dem Autor am Herzen. Mit Blick auf den Hitler-­Stalin-Pakt etwa behauptet Seipel, erst das Zögern des „Westens“, Russland als gleichwertigen Partner gegen Hitler zu akzeptieren, habe Stalin dazu veranlasst, mit den Deutschen einen Nichtangriffs­pakt abzuschließen. In Wirklichkeit gab es die Idee des kollektiven Westens Anfang des 20. Jahrhunderts natürlich noch gar nicht, und die Appeasement-Politik europäischer Mächte gegenüber Nazideutschland war nicht in erster Linie gegen Russland oder die kommunistische Sowjetunion gerichtet. Stalin und Hitler hatten schlicht beide ein erhebliches Interesse daran, den Raum zwischen ihren Ländern aufzuteilen. Mit einer fehlenden Einbindung durch die westeuropäischen Staaten hat das nichts zu tun.



Völlig unkritisch beschreibt Seipel die russische Verfassungsänderung von 2020, die Putin zwei weitere Amtszeiten nach 2024 ermöglicht. Dass das russische Parlament keine unabhängige Institution in einem System von Checks and Balances ist, sondern Beschlüsse durchwinkt, die der Kreml vorbereitet; dass die Volksbefragung Anfang Juli 2020 zur Verfassungsänderung nur deshalb so hohe Zustimmungsraten hatte, weil ein großer Teil der öffentlichen Angestellten zur Abstimmung gezwungen wurde; dass dabei auch noch en passant über ein paar Gesetze abgestimmt wurde, die der Zivilgesellschaft im Land das Leben schwermachen: All das wird mit keinem Wort erwähnt.



Seipels Buch ist bewusst parteiisch, es nimmt die offizielle russische Position ein und verkauft das als Richtigstellung von Fakten. Seipel agiert dabei nicht als Journalist, der Fakten checkt und verschiedene Positionen aufzeigt, sondern als Autor, der die Weltsicht und das Geschichtsbild von Wladimir Putin präsentiert.



Stationen einer Entfremdung

Alexander Rahr, ehemaliger Leiter des Russland-Eurasien-Zen­trums in der DGAP und heute Berater von Gazprom, gilt als einer der besten Kenner Russlands in Deutschland. Sein Buch „Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“ widmet sich dem Deutschland-Bild der Russen.



Ziel ist es, den seit Jahren andauernden Entfremdungsprozess zwischen Deutschen und Russen aus einer russischen Sicht zu schildern. Hatten viele Russen lange ein positives Deutschland-Bild, so Rahr, so sehe dieses Bild mittlerweile deutlich nüchterner aus. Das habe mit der deutschen Politik zu tun, aber auch mit den Erfahrungen der in Deutschland lebenden Russen.



Dabei spricht der Autor in der Regel nicht selbst, sondern indirekt, durch Interviews mit Russinnen und Russen, wie Alevtina, der Konfliktforscherin, Volodja, dem wehrhaften Diplomaten, oder Alexei, dem Deutschland-Versteher. Auch das Vorwort stammt nicht von Alexander Rahr, sondern von der Journalistin Gabriele ­Krone-Schmalz, Autorin zahlreicher auflagenstarker Bücher über das heutige Russland.



Der Autor kommt nur in der Einführung direkt zu Wort. Für Rahr ist es bedauerlich, dass man sich in Deutschland kaum für die Sicht der Russen auf die Deutschen interessiere. So sei es für moderne Deutsche weitaus wichtiger, von den USA, von Großbritannien oder von Frankreich respektiert zu werden als von Russland. Aus Rahrs Sicht werde etwa die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny vermutlich nie aufgeklärt werden; dennoch habe sie die deutsch-russischen Beziehungen nachhaltig beschädigt. Die Abkehr Deutschlands von der Modernisierungspartnerschaft mit Russland sei „unter dem Vorwand der Abkehr Russlands von der Demokratie“ erfolgt.



Auch wenn Rahr immer wieder betont, dass beide Seiten an der Verschlechterung der Beziehungen schuld seien, so wird deutlich, dass aus seiner Sicht vor allem die Deutschen die Russen nicht verstehen und damit maßgeblich zur Entfremdung beigetragen haben. Als Leser spürt man, wie der Autor unter den angespannten deutsch-russischen Beziehungen persönlich leidet und sich selbst als Opfer einer antirussischen Kampagne deutscher Medien sieht; einer Kampagne, die diejenigen angreift, die wie er die „schmerzliche“ Wahrheit aussprechen.



Rahrs Buch liest sich unterhaltsam, man lernt durch die einzelnen Charaktere viel über die russische Sicht auf Deutschland, über russische Stereotype, darüber, wie wichtig Geschichtspolitik für Russen ist und wie sensibel sie auf andere Interpretationen reagieren. Gleichzeitig versteckt der Autor sich hinter seinen Charakteren; gleichzeitig sind es vor allem konservative Sichtweisen, die dargestellt werden. Die wachsende Pluralität der russischen Gesellschaft wird zu wenig abgebildet. Als Leser fragt man sich immer wieder, ob der Autor, der sich verletzt fühlt von den persönlichen Angriffen in deutschen Medien, durch diesen Kunstgriff Kritik an seiner Person und Analyse abwenden möchte.



Beiden hier besprochenen Autoren ist gemein, dass sie den Anspruch erheben, eine andere Perspektive auf Russland zu bieten. Damit wollen sie gegen das aus ihrer Sicht ungerechtfertigte negative Russland-Bild in Deutschland anschreiben. Auch wenn das Buch von Alexander Rahr mehr Differenziertheit mit Blick auf das deutsch-russische Verhältnis wagt, so wollen beide Autoren doch letztlich ein „positives Gegenstück“ zum aktuellen deutschen Mainstream liefern. Damit machen sie sich allerdings eher zum Sprecher der offiziellen russischen Position, als dass sie differenzierte Analysen russischer Politik böten.

 

Dr. Stefan Meister ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

 

Hubert Seipel: Putins Macht. Warum Europa Russland braucht. Hamburg: Hoffmann und Campe 2021, 316 Seiten, 24,00 Euro



Alexander Rahr: Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt. Berlin: Verlag Das Neue Berlin 2021. 134 Seiten, 16,00 Euro

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 125-127

Teilen

Mehr von den Autoren