Die Geopolitisierung der Innenpolitik
Mit dem Mordanschlag auf Alexei Nawalny hat der Kreml eine rote Linie überschritten. Für Moskau gibt es keine Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik mehr.
Machtpolitisch scheint es für Wladimir Putin gerade gut zu laufen: Bei den russischen Regionalwahlen im September 2020 konnten schon in der ersten Runde alle 18 Gouverneursposten mit den Kandidaten des Kremls besetzt werden. Dass es einige Oppositionskandidaten in drei Regionalparlamente schafften, war eher eine Fußnote. Der einzige relevante Oppositionsführer mit Blick auf die Duma-Wahl im kommenden Jahr, Alexei Nawalny, hielt sich nach dem Mordanschlag auf ihn in Deutschland auf, und es lag am Kreml zu entscheiden, ob er wieder zurückkommen wird.
Die Massendemonstrationen in Belarus gegen Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko verbessern die Verhandlungsposition des Kremls gegenüber Minsk, was die Integration beider Staaten unter russischer Führung angeht. In der Ukraine werden demokratische Errungenschaften der „Revolution der Würde“ von 2013/14 unter Präsident Wolodymyr Selensky schrittweise abgebaut, was die Korruption fördert und den informellen Einflussstrukturen Moskaus wieder mehr Raum bietet.
In Syrien hat Moskaus Verbündeter Baschar al-Assad den Krieg gegen sein eigenes Volk praktisch gewonnen – mit maßgeblicher Hilfe Russlands, das auch in Libyen ein entscheidender Faktor ist. Beides eröffnet dem Kreml Einflussmöglichkeiten auf die Europäische Union. Die USA versinken ob mit oder ohne einen siegreichen Donald Trump in einem (kalten) Bürgerkrieg, und die EU ist durch den Brexit und ihre inneren Demokratiekrisen (Ungarn und Polen) geschwächt. Russlands internationales Ansehen ist gestiegen, es gilt als relevanter Akteur in wichtigen Konflikten und ist wegen seiner Desinformationskampagnen im Westen gefürchtet – eine Furcht, die fast schon an eine Hysterie grenzt.
All das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, wie verletzlich das System Putin inzwischen ist und wie abhängig von den Fehlern und Schwächen seiner Gegner. Außenpolitische Erfolge dienen der Ablenkung von innenpolitischen Problemen, was aber immer schlechter funktioniert. Der Umgang der russischen Führung mit der Covid-19-Pandemie hat den Glauben an die Managementfähigkeiten von Regierung und Präsident erschüttert.
Putins Desinteresse an der Eindämmung der Pandemie hat nochmals deutlich gemacht, wie wenig ihn die Gesundheit der eigenen Bevölkerung interessiert. Er wirkt amtsmüde, möchte sich nicht mit innenpolitischem Kleinklein beschäftigen, sondern lieber auf der großen internationalen Bühne spielen. Gleichzeitig hat er sich per Verfassungsreferendum zwei weitere Amtszeiten bestätigen lassen. Nicht nur, dass es massiver Manipulationen bedurfte, um dieses Referendum überhaupt durchzusetzen: Es stellt sich die Frage, ob sich Russland nochmal zwölf Jahre Stagnation unter Putin leisten kann – gezählt ab 2024, wohlgemerkt. Was bedeutet das für die Innovationsfähigkeit der russischen Politik, die sich in einem volatilen internationalen Umfeld zwar äußerst clever taktisch bewegt, aber keine wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunftsstrategie für das Land hat?
Der Wohlstandsgewinn erodiert
Seit 2010 sinken die Einkommen der Russen jedes Jahr und damit der in den ersten beiden Amtsperioden Putins (2000–2008) durch steigende Öl- und Gaspreise erworbene enorme Wohlstandsgewinn. Die 2018 eingeleitete Pensionsreform hat die bis dahin stabile Wählerbasis des Präsidenten gegen die Regierung aufgebracht, das Protestpotenzial steigt. Putin klammert sich an der Macht fest, da er um die eigene Sicherheit fürchten muss und um den Erhalt des von ihm geschaffenen Systems. Dabei ist immer unklarer, wie er dauerhaft die Unterstützung der Gesellschaft gewinnen will, wenn die soziale Ungleichheit wächst, die Mittelschicht weiter schrumpft und die Armut größer wird.
Unterstützung aus dem russischen Haushalt gibt es vor allem für große Staatsfirmen oder Oligarchen, aber nicht für kleinere und mittlere Unternehmen oder Selbständige. Ein Projekt wie Nord Stream 2 kostet die russischen Steuerzahler Milliarden, ohne dass klar wird, welchen Zweck dieses Projekt haben soll. Der Gas- und Ölverbrauch in Europa wird stagnieren und mittelfristig sinken, es wird weniger, nicht mehr Gas benötigt. Was bringen der russischen Gesellschaft die geopolitischen Spielchen ihrer Führung, die das Ziel haben, die Ukraine als Transitland für russisches Gas zu umgehen, um sie zu bestrafen? Das Geld mit dem Bau der Pipeline verdienen derweil vor allem Firmen von Putin-nahen Oligarchen, die zu überhöhten Preisen Rohre verlegen lassen.
Die Machteliten entkoppeln sich immer mehr von der russischen Gesellschaft. Das unmündige Volk darf zwar regelmäßig über die ihm vorgesetzten Politiker abstimmen, wird aber sonst mit Lügen und Zynismus bedacht; als Bürger nimmt das System sie nicht ernst. All die Propaganda und Manipulationen dienen letztlich nur dazu, weiter Unterstützung für das Regime zu generieren.
Straßenproteste wie im sibirischen Chabarowsk sind die einzige Möglichkeit der Bevölkerung, auf Willkür zu reagieren oder ihrem politischen Willen Ausdruck zu verleihen; Wahlen tun dies nicht. Dabei geht es den Menschen ähnlich wie in Belarus vor allem um den Respekt der Machthaber. Aktuelle Umfragen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada zeigen, dass 67 Prozent der Russen der Duma, 64 Prozent den Parteien, 61 Prozent den russischen Banken und 60 Prozent den regionalen Verwaltungen nicht trauen. Und 40 Prozent der Russen vertrauen Präsident Putin nicht mehr, Tendenz steigend. Putin ist damit wieder auf dem Niveau von 2011/12, als Hunderttausende Menschen für einen Politikwechsel auf die Straße gingen.
Die Überschreitung roter Linien
Mit der versuchten Ermordung Nawalnys hat die russische Führung eine weitere rote Linie überschritten. Bisher hat das Regime zwischen Feinden und Verrätern unterschieden. Alexander Litwinenko und Sergeij Skripal sollten als ehemalige Angehörige des russischen Geheimdiensts, die zum Gegner überliefen, als Verräter zur Abschreckung auf brutalste Art und Weise getötet werden. Beide waren im Gegensatz zu Nawalny weitestgehend unbekannt.
Alexei Nawalny dagegen ist der wichtigste und sichtbarste russische Oppositionspolitiker: gewiss ein politischer Gegner für die Machteliten, aber kein Verräter am System. Laut Alexander Baunow vom Carnegie Moscow Center hat das System Putin keinen Respekt mehr vor dem politischen Gegner. War bei dem Mord an Boris Nemtsow noch unklar, ob oberste staatliche Stellen beteiligt waren, so ist die Anwendung des Nervengiftgases Nowitschok ohne besondere Zugänge sowohl auf geheimdienstlicher als auch höherer politischer Ebene unmöglich.
Damit ist erneut eine Grenze überschritten worden, die zeigt, dass sich das Regime unter Druck fühlt und keine Mittel und Methoden zum Machterhalt scheut. Politisch ist es fast zweitrangig, wer den Auftrag für diesen und die anderen Mordanschläge erteilt hat. Wladimir Putin hat ein System geschaffen, das seine Gegner tötet, und keine Staatsanwaltschaft wird dafür sorgen, dass diese Fälle aufgeklärt werden. Auch wenn seit Jahren Grenzen des Erlaubten überschritten werden – mit der Annexion der Krim, hybrider Kriegsführung im Donbass, dem Abschuss einer malaysischen Passagiermaschine (Flug MH17), der Ermordung Nemtsows, Cyberattacken und Desinformation, der Nutzung privater Söldner im Auftrag des Kremls im Nahen Osten und Afrika –, so ist der Mordversuch an Nawalny auf russischem Boden auch in der Hinsicht ein neuer Tiefpunkt, da man diesen Giftgasanschlag nicht mehr dem Ausland in die Schuhe schieben kann.
Natürlich hat im Nachgang die Propaganda- und Verschwörungstheorie-Maschinerie des Kremls versucht, Deutschland und den Westen für diesen Anschlag verantwortlich zu machen. Aber diese Propaganda wirkt nur noch absurd. Diese Art von russischem Staatsterrorismus, teils ausgelagert an private Firmen, bestückt mit ehemaligen Angehörigen der russischen Sicherheitsorgane, teils direkt durch die russischen Geheimdienste, wird immer stärker zu einer Gefahr für Menschen im In- und Ausland.
Der Journalist Andrei Kolesnikow sieht in diesen Ereignissen einen Wandel des Regimes in Moskau von „hybrid“ zu „rein autoritär“. Die Mittel sind die gleichen, aber die Propaganda aggressiver, die hybride Kriegsführung härter und die Lügen frecher. Kritik prallt am Kreml ab; dort scheint man jegliches Maß verloren zu haben und sieht sich de facto in einem Kalten Krieg mit dem Westen – und seinen innenpolitischen Gegnern.
Es ist jedoch kein klassischer Kalter Krieg mit akzeptierten Regeln und roten Linien. Es existieren keine Regeln mehr, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass der Kreml einen neuen Status quo oder gar einen Neuanfang anstrebt. International akzeptierte Verhaltensregeln von Diplomatie sowie internationales Recht selbst gelten nicht mehr. Anstelle von Außenpolitik wird gelogen und getäuscht, die „proxies“ der Gruppe Wagner, private Kämpfer im russischen Dienst oder aus den Reihen der Geheimdienste, werden gedeckt und weiter genutzt. Dieses Verhalten der russischen Führung erinnert eher an das von Mafiosi als an das von verantwortungsbewussten Politikern.
Krisen lösen mit Russland?
Wenn deutsche und europäische Politiker immer wieder betonen, dass bestimmte Krisen nur mit Russland gelöst werden können, dann blenden sie aus, dass die russische Führung bestimmte Konflikte selbst geschaffen (Donbass, Krim) oder sich in diese eingemischt hat (Syrien, Libyen), um sie in ihrem Interesse zu instrumentalisieren. Russland unter Wladimir Putin hat dabei keine außenpolitische Strategie: Es ist eine Spoiler-, aber keine globale Ordnungsmacht.
Damit kann das Land unter der aktuellen Führung auch kein Partner bei der Lösung von Konflikten sein. Denn es geht dem Kreml in erster Linie darum, Konflikte zur Verbesserung der eigenen Verhandlungsposition vor allem gegenüber den USA sowie zur inneren Legitimation zu nutzen. Verantwortung übernimmt diese russische Führung weder für ihre Bürger noch für internationale Konflikte. Alle historischen Argumente, warum Russland nach dem Ende des Kalten Krieges schwach und klein gehalten werden sollte, sind nur vorgeschoben, um die aktuelle Politik zu rechtfertigen. Solange dies noch funktioniert, soll der Gegner in Washington oder in den EU-Staaten abgelenkt und das eigene Volk gegen den Westen mobilisiert werden.
In einem Interview für das russische Staatsfernsehen Ende August 2020 hat Putin betont, dass die Demonstrationen in Belarus eine innenpolitische Angelegenheit des Nachbarlands seien. Wenn sich jedoch, so Putin, durch innenpolitische Prozesse der geopolitische Status quo zu Ungunsten Russlands in seiner Nachbarschaft verändert, werde das, was in Belarus passiert, zu einer internationalen Angelegenheit. Mit anderen Worten: Es wird eine Angelegenheit Russlands, mit der Option eines Eingreifens bis hin zu einer Intervention.
Damit bewertet der Kreml das, was in einem Nachbarland passiert, nicht auf Basis von Legitimität oder internationalem Recht, sondern als abhängig von der Frage, ob die Distanz zwischen dem Land und dem Westen erhalten bleibt. Mit Blick auf Belarus heißt das, dass Moskau aktuell keinen besseren Kandidaten als Lukaschenko hat, um zu garantieren, dass sich Belarus nicht dem Westen annähert. Die Interessen des belarussischen Volkes sind zweitrangig, und Lukaschenko ist jederzeit ersetzbar, sollte er den Status quo nicht mehr garantieren können.
Grundsätzlich darf „die Straße“ nicht über einen Machtwechsel in einem postsowjetischen Nachbarland entscheiden, sondern nur Putin selbst, da sonst ein Präzedenzfall für Russland geschaffen werden könnte. Jegliche erfolgreichen demokratischen Reformen könnten die Autorität des Systems Putin infrage stellen. Die Angst vor sogenannten Farbenrevolutionen im postsowjetischen Raum ist die Angst autoritärer Führer vor dem eigenen Volk. Dabei wird die Bevölkerung für unmündig erklärt: Es könnten nur ausländische Kräfte am Werk sein, um die Menschen auf die Straße zu bringen.
Dass die postsowjetischen Gesellschaften – auch die russische – sich wandeln, möchten weder Lukaschenko noch Putin wahrhaben. Das bedeutet aber auch für Russland: Wenn das russische Volk nicht mehr Ja sagt zu Putin als Präsidenten, dann ist das Volk das Problem und nicht der Präsident. Diese Geopolitisierung aller innenpolitischen Entwicklungen hat gravierende Auswirkungen, da Machterhalt und Mächtebalance die entscheidenden Kriterien aller Politik werden. Das Eingreifen in die Innenpolitik eines Nachbarlands wird damit legitimiert.
Resilienz und Verantwortung
Was bedeutet das für Deutschland und die EU? Die aktuelle russische Führung ist kein glaubwürdiger Partner für die Lösung von Konflikten oder für die Erneuerung der europäischen Sicherheitsordnung. Putins Russland ist vielmehr ein disruptiver Akteur, der Konflikte nutzt und schürt sowie geheimdienstliche, hybride und militärische Mittel einsetzt, um den Gegner zu schwächen. Deutschland und die EU werden in Moskau zu den Gegnern gezählt und nicht als Partner gesehen, da sie ein Modell repräsentieren, das den Machtanspruch des Systems Putin hinterfragt.
Alle Mittel sind legitim, die den Machterhalt des Systems Putin garantieren. Damit wird die Außenpolitik der innenpolitischen Logik des Machterhalts unterworfen. Wenn alles, auch die Innenpolitik, Geopolitik ist, dann gibt es keine Grenzen mehr zwischen Innen- und Außenpolitik. Dann können politische Gegner überall auf der Welt getötet werden, ob in Tomsk, London, Salisbury oder Berlin. Die Entgrenzung russischer Politik unter Putin ist ein internationales Problem geworden, auf das angemessen reagiert werden muss.
Das beginnt bei der innenpolitischen Resilienz gegen Gegner der Demokratie und gegen Desinformationskampagnen; es ist verbunden mit der Fähigkeit zu militärischer Abschreckung, mit dem Einsatz rechtsstaatlicher Instrumente, im Rahmen nationaler und internationaler Allianzen. Abschreckung wird nur funktionieren, wenn Sanktionen glaubwürdig sind und damit die Kosten für die Handlungen des Systems Putin steigen. Alles andere sind Lippenbekenntnisse.
Es gibt eine Reihe von Konflikten, bei denen Russland eine Schlüsselrolle spielt, wie aktuell in Berg-Karabach zu beobachten ist; dies lässt sich in Berlin, Brüssel und anderswo nicht ignorieren. Dabei ist die russische Außenpolitik nur dann offen für Kompromisse, wenn die Machtinteressen des Kremls nicht infrage gestellt werden. Hier gibt es noch Anknüpfungspunkte für Kooperation, wie beim iranischen Atomabkommen. Jedoch gilt grundsätzlich: Sollten sich die USA tatsächlich aus Konflikten in der Nachbarschaft der EU zurückziehen, muss die EU selbst aktiver auch vor Ort werden. Tut sie das nicht, nutzen andere Akteure diese Konflikte in ihrem Interesse. Nur wer selbst bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, kann die russische Führung dazu bringen, Kompromisse einzugehen.
Dr. Stefan Meister leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis. Er ist Associate Fellow des Robert Bosch-Zentrums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 72-77