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01. Mai 2012

Mit Volldampf in den Zickzackkurs

Vorläufig gescheitert: die Syrien-Politik der Türkei

Zehntausende Syrer sind in die Türkei geflüchtet, die türkische Armee schickt Soldaten und Panzer an die Grenze. Welche Rolle kann Ankara, dessen Politik zuletzt widersprüchlich und wenig durchdacht wirkte, in dem Konflikt spielen? Eine Folge der Kehrtwende vom Kuschel- zum Konfrontationskurs ist bereits abzusehen: Statt unabhängig die Geschicke in Nahost zu bestimmen, ist die Türkei erneut im Westen eingebunden.

Ernüchterung war das beherrschende Gefühl nach dem Gipfel der Freunde Syriens am 2. April in Istanbul. Nur wenige Kommentatoren verwiesen fast beschwörend auf das Kommuniqué der Konferenz und bewerteten einige markante Formulierungen des Textes als einen Erfolg der türkischen Politik.

Nun kommt der Wortlaut der Erklärung tatsächlich in vielen Punkten der Haltung des türkischen Regierungschefs entgegen, der in seiner Eröffnungsrede jede Lösung abgelehnt hatte, die es Baschar al-Assad erlauben würde, im Amt zu bleiben. So wird der oppositionelle Syrische Nationalrat (SNR) mit Sitz in Istanbul als „ein legitimer Repräsentant aller Syrer“, als „die Dachorganisation“ der syrischen Opposition und als „der zentrale Ansprechpartner der internationalen Gemeinschaft für die syrische Opposition“ anerkannt. Das Kommuniqué ruft zivile und militärische Amtsträger des Assad-Regimes auf, sich nicht zum Werkzeug unrechtmäßiger Handlungen machen zu lassen, die gegen die Bevölkerung gerichtet sind. Die an der Konferenz teilnehmenden Staaten und supranationalen Organisationen versichern ihre Unterstützung für „legitime Maßnahmen, die die Bevölkerung zu ihrem Schutz ergreift“.

Das sei bereits kurz davor, Gewalteinsatz für Selbstverteidigung zu erlauben, hieß es in manchen türkischen Kommentaren und auch, dass der SNR Schritt für Schritt Assad die Rolle als international anerkannter Vertreter Syriens streitig mache. Das Kommuniqué fordert eine Deadline für die Erfüllung der Verpflichtungen Assads, die dieser mit seiner Zustimmung zum Annan-Plan eingegangen ist. Das zeige, wie sehr die Legitimität Assads schon gelitten habe.

Das alles stimmt. Doch es sind nur Worte, und Recep Tayyip Erdog˘an hatte verlangt, dass auf dieser Konferenz Taten beschlossen werden müssten. Die Türkei hatte vor der Tagung eine ganze Liste möglicher gemeinsamer Aktionen diskutiert: von der Erhebung des SNR zur syrischen Exilregierung bis zur Bewaffnung der Freien Syrischen Armee (FSA) und von der gemeinsamen Einrichtung einer Flugverbotszone an der syrisch-türkischen Grenze bis zur Schaffung humanitärer Korridore in die bis noch vor kurzem heiß umkämpften syrischen Städte. Im Angesicht solcher Erwartungen sind die Ergebnisse der Konferenz recht mager: die Zusage der USA, die FSA mit nichttödlichem Gerät auszurüsten, die Einrichtung eines Finanzfonds für die Kämpfer sowie die Etablierung einer Staatengruppe, die über eine Ausweitung der Sanktionen berät.

Juniorpartner statt Hegemon

Erneut zeigt sich, wie wenig Ankara den Gang der Dinge in seinem Nachbarland tatsächlich lenken kann. Die Hard Power, die Erdog˘an seit Sommer letzten Jahres in Form der Forderung nach einem Rücktritt von Baschar al-Assad zum Einsatz bringt, zeigt ähnlich wenig Wirkung wie die Soft Power, auf die sich Ankara davor verlassen hatte. Damals galt Assad noch als ein Freund, den man zu überzeugen hoffte, und Syrien war das Paradebeispiel für den Erfolg von Ahmet Davutoglus neuer Außenpolitik.

Doch ist die türkische Außenpolitik noch viel grundsätzlicher gescheitert. Denn die Türkei wollte mehr als nur den Ton in der Region angeben. Sie zielte auch darauf ab, dass die Staaten der Region ihre Konflikte möglichst selbst lösen sollten. Externe Akteure sollten dabei keine zentrale Rolle spielen. In den letzten Jahren zeigte sich diese Ausrichtung türkischer Politik am Beispiel des Iran und Libyens und anfangs auch in Syrien. Doch jetzt ist Ankara erneut der Juniorpartner Washingtons. Und seit der Istanbuler Konferenz ist Ankaras Haltung zu Syrien näher an der von London und Paris als an der der Arabischen Liga. Mehr noch, die Türkei wollte sich in der Region als nichtkonfessioneller Player etablieren, der für Schiiten, Alawiten, Sunniten und Kurden in gleichem Maße Partner sein kann. Auch davon ist jetzt wenig übrig geblieben. Heute steht Ankara in seiner Syrien-Politik in einer Front mit den sunnitischen Staaten Katar und Saudi-Arabien, die beide ebenfalls auf ein hartes Vorgehen drängen, und hat Alawiten, Schiiten und Kurden zum Gegner. Und noch etwas macht Sorgen: Zwar ist sich die Türkei mit Katar und Saudi-Arabien im Falle Syriens ziemlich einig, doch heißt dies nicht, dass die Visionen Riads und Dohas für den restlichen Nahen Osten denen Ankaras entsprechen.

Dass die türkischen Pläne so fürchterlich danebengingen, liegt nicht nur am arabischen Umbruch. Es liegt auch daran, dass Ankara im Falle Syriens erst in die eine und dann in die andere Richtung fuhr, jeweils mit Vollgas und fast ohne zu bremsen. Ein Grund dafür ist die zentrale Stellung Syriens in der türkischen Außenpolitik. So wie kein anderes Land schien Syrien geeignet, die Dynamik und den Nutzen der neuen türkischen Außenpolitik zu exemplifizieren, und es ist alles andere als Zufall, dass die Annäherung zwischen Ankara und Damaskus so schnell und scheinbar reibungslos vonstatten ging.

Dabei hatte die Türkei noch im September 1998 an der syrischen Grenze Truppen aufgefahren und so die Ausweisung der PKK und ihres Führers Abdullah Öcalan aus dem Nachbarland erzwungen. Nur einen Monat später musste Hafez al-Assad dem Abkommen von Adana zustimmen. Damals hatte in der Türkei das Militär außenpolitisch die Dinge in der Hand. Das Dokument wurde von Aytaç Yalman unterschrieben, damals Befehlshaber der 2. türkischen Armee. Ein Grenzüberwachungssystem wurde eingerichtet, der Grundstein für regelmäßige Treffen der Militärs beider Länder gelegt, und in Damaskus nahmen zwei türkische Sicherheitsbeamten ihren Kontrolldienst auf. 2002 verständigten sich beide Seiten dann sogar auf eine militärische Zusammenarbeit.

Schlüsselstaat Syrien

Doch ihre eigentliche Dynamik entfaltete die türkisch-syrische Annäherung erst nach der Regierungsübernahme von Recep Tayyip Erdog˘an. Kein anderes Land passte so gut in das Konzept von Ahmet Davutoglu, damals Chefberater Erdog˘ans und seit 2009 Außenminister. Es ist eine Vision der Türkei als regionaler Großmacht, die ihre Nachbarschaft politisch und wirtschaftlich an sich bindet, die sich ihrer muslimischen Wurzeln bewusst ist und in der Türken und Araber eine Schicksalsgemeinschaft sind. Doch nur im Falle Syriens grenzt die Türkei direkt an arabisches Gebiet. Im Norden des Irak haben die Kurden ihren eigenen föderalen Staat. Kein anderes Land ist so zentral für die türkische Öffnung in die arabische Welt wie Syrien. Und keine Region bietet sich so als Kern einer im Nahen Osten fest verankerten Türkei an wie die drei Länder der Levante: Syrien, Jordanien, Libanon.

Schon bevor er Außenminister wurde, hatte Davutoglu fast 30 Mal Syrien bereist. Für seinen Mitarbeiter Bülent Aras waren die Beziehungen zu Syrien der Schlüssel für die Öffnung der Türkei in die Region. Wirtschaftsminister Zafer Çaglayangil sah in der Integration der Levante den ersten Schritt für die Entstehung einer großen Wirtschaftszone Naher Osten. Und Recep Tayyip Erdog˘an hätte der Schengen-Zone gerne eine SchamGen-Zone hinzugestellt, eine Region der Visafreiheit mit Zentrum in Damaskus, auf Arabisch: Scham.

Die Annäherung an Syrien war nicht nur Teil einer Vision, sie schien sich auch zu lohnen. Anders als Hafez al-Assad sprach sein Sohn Baschar nicht mehr vom „Sandschak Alexandrette“, der heutigen türkischen Provinz Hatay, die 1939 an die Türkei gefallen war. Und auch im Streit um die Aufteilung des Euphrat-Wassers setzte Damaskus in den vergangenen Jahren auf Kooperation. Die türkischen Ausfuhren nach Syrien schnellten in die Höhe, zum Nutzen der unterentwickelten Regionen Anatoliens. Bilad al-Scham wurde zum Transitland für türkische Exporte in die Golf-Region, und nirgends war das Ansehen der neuen Türkei höher als in Syrien.

Es stand viel auf dem Spiel. Entsprechend engagiert, ja aufgeregt, reagierte die politische Elite der Türkei. Ihr ganzes Ansehen warfen Davutoglu und Erdog˘an in die Waagschale, um Assad zu Reformen zu bewegen. Das Scheitern ihrer Bemühungen zeigte die Grenzen der Soft Power, die Ankara im Hinblick auf seinen Einfluss in Ägypten und Tunesien täglich neu beschwor. Der hohe Einsatz, die Enttäuschung und der eiserne Wille, trotz allem entscheidender Faktor in der Problemgleichung zu bleiben, führten dazu, dass Ankara das Steuer herumwarf und frontal gegen Assad vorging.

Auch andere Dinge trugen zu diesem Kurswechsel bei. In der Türkei hatten Regierung und Bevölkerung das neue Selbstbild „Schlüsselmacht in Nahost“ schnell, ja begeistert, angenommen. Mit diesem Rückenwind verschärfte Ankara auch die Konflikte mit Israel und Zypern; plötzlich war die Rede von Kriegsschiffen im Mittelmeer. Nach Jahren war die Drohung mit dem Militär wieder Teil der türkischen Debatte. Dass die Türkei als erstes Land von einer Pufferzone sprach, die auf syrischem Boden eingerichtet werden müsste, ist ebenfalls kein Zufall. Seit im Jahre 1991 fast eine halbe Million Kurden aus dem Irak in die Türkei geflohen waren, geistert der Begriff durch die strategischen Debatten der Türkei. Jetzt wurde das Konzept, ohne die Folgen zu beachten, in die Syrien-Debatte geworfen.

Allmählich wird registriert, was in der Hektik um Baschar al-Assad außenpolitisch über Bord gegangen ist: zentrale Parameter der neuen türkischen Außenpolitik. Statt die Geschicke in Nahost zu bestimmen, ist die Türkei erneut im Westen eingebunden. Sie wird deshalb die nächsten Monate und Jahre vorsichtiger agieren und sich nicht länger unentwegt als der Zentralschlüssel für Problemlösungen empfehlen. Für die EU könnte das neue Augenmaß in der Türkei jetzt eine Chance sein, ihre Beziehungen mit Ankara endlich voranzubringen.

Dr. GÜNTER SEUFERT ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2012, S. 78-81

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