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01. Juli 2005

Luftgitarren für Europa

Ach, gäbe es nur eine Öffentlichkeit, in der über das gestritten wird, was alle angeht!

Schlägt jetzt die Stunde der Kulturpolitiker? Werden demnächst von der Generaldirektion „Bildung und Kultur“ in Brüssel neue Fonds aufgelegt, zur Finanzierung von Arbeitsgruppen, die in sechs Jahren ein Lehrbuch für „Europäische Bürgerkunde“ erstellen, auf dass die nachwachsende Generation endlich jenen Euro-Patriotismus entwickelt, den die Nein-Sager vermissen ließen? Werden ein paar Millionen mehr lockergemacht für Kongresse, auf denen nach der europäischen Identität gefragt wird, können nun auch die polnische Woche in Goslar, die Neuübersetzung der Göttlichen Komödie ins Finnische, der nächste Film über andalusische Teenies in Moldawien auf EU-Gelder rechnen?

Nichts dagegen, die Summen sind überschaubar. Aber die Einigungskrise, in der wir stecken, ist keine der europäischen „Kultur“. Es tut auch nicht vordringlich Not, „Europa eine Seele zu geben“. Unter dieser Parole forderte im letzten Herbst in Berlin die kulturpolitische Elite des Kontinents eine Verzehnfachung der Gemeinschaftsausgaben für Kultur – zurzeit betragen sie 0,03 Prozent des Etats, das sind 34 Millionen Euro im Jahr (etwa so viel, wie ein deutsches Opernhaus kostet). Siebzig statt sieben Cent pro EU-Bürger, das sei eine „Investition in den europäischen Bürgersinn“, sekundiert die „Europäische Kulturstiftung“, die zeitnah „Kultur“ als ideelle Auffangposition für den Fall des Scheiterns der Verfassung empfiehlt. Hinter markigen Begründungsworten, die den Schutz des europäischen Erbes vor der Ausweitung des Freihandels auf geistige Güter fordern, verstecken sich bei genauem Hinsehen eher kleinmütige Forderungen von „cultural operators“: Visaerleichterungen für osteuropäische Künstler, Häuser für „Europäische Kultur“ in Kairo und Ankara, Regierungsinititativen, damit Arte in „allen Hotels und Flughafenlounges zu sehen ist“ und dergleichen mehr.

Es schadet niemandem, wenn 300 Millionen Euro im Jahr dafür ausgegeben werden, damit schöne Menschen an schönen Orten mit schönen Worten über schöne Dinge reden. Mehr Bürgersinn für Europa wird das allerdings nicht schaffen. Der mobilen, multilingualen Klasse europäischer Symbolproduzenten muss man nichts von Europa und seinen kulturellen Reichtümern erzählen, die wachen unter den Studenten werden weiterhin ihre „Auberge Espagnole“ finden, mit oder ohne Erasmus-Stipendium. Die Herausforderung, auch die kulturelle, besteht darin, diejenigen für das „Europäische Projekt“ zu gewinnen, die gerade Nein gesagt haben: die Bauern, Lohnarbeiter, Arbeitslosen, Kommunal-angestellten, Lehrer, Kleinunternehmer. Diejenigen, deren kulturelle „Grundversorgung“ und deren Wahrnehmung des Fremden, Neuen, Andersartigen schon immer unter dem alltäglichen Diktat der Ökonomie stand.

Wo immer es im Einzelnen fehlen mag – nicht die Kultur-Kultur in Europa ist bedroht, sondern vordringlich jene „kulturelle Errungenschaft, die so kostbar und unwahrscheinlich ist wie Mozart, Kant oder Beethoven“ (Pierre Bourdieu): der europäische Sozialstaat, diese in langen Klassenkämpfen errungene Balance zwischen der ökonomischen Macht der wenigen und den Bedürfnissen der vielen – dieser Umverteilungsstaat, dessen nobelste Aufgabe, so hieß es noch kürzlich, die massenhafte Herbeiführung jener Muße und Bildung sein sollte, die für die Rezeption „höherer“ kultureller Hervorbringungen Voraussetzung ist.

„L’économie et la culture – même combat!“ (Jack Lang) – die Entfesselung der europäischen Arbeitsmärkte, die Privatisierung der Daseinsvorsorge und die Aneignung der osteuropäischen Medienmärkte durch die Bertelsmänner und Murdochs dieser Welt gehorchen demselben ökonomischen Mechanismus. Aber die Medienmultis und die Kommunikationsoligopole – und beileibe nicht nur die US-amerikanischen – bedrohen weit mehr als die Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen: Sie formieren und partikularisieren die Sphäre der Öffentlichkeit, kommerzialisieren den öffentlichen Raum und privatisieren die Wissensinfrastruktur. Damit untergraben sie die Grundlagen der Demokratie.

Was kann europäische Kulturpolitik ausrichten? Eine europäische Bürgergesellschaft braucht eine europäische Öffentlichkeit – das hören wir seit Jahrzehnten, und der Einwand, das scheitere am Sprachenproblem, wird immer mehr zur Schutzbehauptung. Wichtiger, und schwieriger, ist etwas anderes: Eine „Öffentlichkeit“, ein Raum, in dem europäische Bürger darüber reden, wie wir in Europa in Zukunft miteinander leben wollen, kann nur entstehen, wo gemeinsame Geschichten erzählt werden können, wo gestritten wird über das, was alle angeht und kontrovers ist, wo es öffentliche Dramen gibt, an denen alle teilnehmen.

Ein europäisches Fernsehen könnte, wenn nicht mit 70 Cent, so doch mit zwei bis drei Euro pro EU-Bürger, komfortabel in Gang gebracht werden. Da „das Außergewöhnliche sich auf dem Weg der gewöhnlichen Menschen findet“ (Paulo Coelho), müsste dieser öffentlich-rechtliche europäische Sender ein anderes Programm als Arte anbieten. Sein Aufsichtsrat bräuchte große Spannweite: vom Vatikan bis José Bové, vom Arbeitslosen- bis zum Unternehmerverband, von Björk bis Barenboim, von den Gewerkschaften bis Eurosolar. Seine Kernattraktivitäten wären die Champions League, der Schlagerwettbewerb, die großen Festivals (nicht gerade die von Salzburg und Glyndebourne, sondern eher das Rockfestival von Belfort, das Chorfest von Riga und die Europameisterschaften im Luftgitarrenspiel). Dazu, falls es dort dereinst um wichtige Entscheidungen gehen sollte, Übertragungen aus dem Straßburger Parlament, eine Soap über „plombiers polonais“ in Paris oder rumänische Liebeswirren eines WAZ-Managers, eine abwechselnd von Daniel Cohn-Bendit und Adam Michnik moderierte politische Talkshow nach dem europäischen „Tatort“, und spät nachts „European Spitting Images“ – das ganze auf Englisch, und vormittags eine europäische „Sendung mit der Maus“, die im grundschulobligatorischen Englischunterricht aller 25 Mitgliedsstaaten verwendet werden könnte.

Anläufe gab es immer wieder, Hindernisse gibt es viele: den französischen Sprachwahn, die Kommissionsmeinung, dass Medien ein Wirtschaftszweig sind, die Lizenzkosten für Fußballrechte, die polnischen Kardinäle, 25 Regierungen, die Angst vor ihren Wählern haben, und noch ein Dutzend mehr. Den Kondratieffschen Aufschwung, den Europa braucht, kann auch so ein Sender nicht herbeisenden – das können nur größere Gemeinschaftsprojekte, zum Beispiel die Umstellung Europas auf erneuerbare Energien. Und die Steuern müssen die Finanzminister harmonisieren. Aber das ist ein anderes Thema, hier ging es ja nur um Kulturpolitik. Um den Überbau. Um zwei Euro pro Bürger.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 94 - 95

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