Essay

01. Juli 2014

Licht aus dem Osten

Die Ukraine hält die Werte hoch, derer der Westen überdrüssig scheint

Wird Europa ausgerechnet in einem historischen Moment äußerer Bedrohung an seiner Jahrhundertleistung irre? Erdrutschartige Wahlerfolge der Rechten lassen nichts Gutes erwarten. Die Hoffnung kommt von den Rändern, aus der Ukraine: Wo demokratische Rechte und Freiheiten noch als Verheißung verstanden werden, haben Extremisten keine Chance.

Am 25. Mai dieses Jahres fand nicht nur eine, es fanden gewissermaßen zwei Europawahlen statt. Während die Bürger der Europäischen Union über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments entschieden, stimmten die Ukrainer über ihren neuen Präsidenten und damit über die künftige Richtung der Entwicklung ihres Landes ab.

Das Ergebnis dieser Wahl ließ keinen Zweifel daran zu, dass diese Zukunft nach dem Willen der ukrainischen Gesellschaft europäisch sein soll – im Sinne des Bekenntnisses zu den Werten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus. Was konkret bedeutet: Die Ukraine will so schnell wie möglich in die EU, deren institutioneller Rahmen die Geltungskraft dieser Werte und Prinzipien garantiert.

Doch dieses emphatische proeuropäische Bekenntnis steht in einem beklemmenden Kontrast zu dem gegenwärtigen prekären Zustand des europä­ischen Einigungsprojekts, wie er sich in der Europawahl widerspiegelte. Während in der Ukraine über 61 Prozent der Wahlbevölkerung zu den Urnen strömten, obwohl die Wahl in einigen Teilen des Landes von bewaffneten Banden prorussischer Separatisten sabotiert wurde, war die Wahlbeteiligung in vielen westeuropäischen Demokratien schwach bis kläglich niedrig. Mobilisierte die Entschlossenheit, nach dem Sturz des kleptokratischen Regimes von Viktor Janukowitsch nunmehr die Chance auf die Realisierung wirklich demokratischer Verhältnisse unter dem gemeinsamen Dach eines freien Europa zu nutzen, die demokratischen Energien der ukrainischen Wahlbevölkerung, so elektrisierte die Europawahl im Wesentlichen nur die Anhänger jener Kräfte, die in der EU ein tyrannisches Teufelswerk sehen und den Einzug in das Europaparlament dazu nutzen wollen, deren Institutionen zu zerstören.

Mehr noch: Die denunziatorische Propaganda Moskaus, der zufolge die Demokratiebewegung des Maidan sowie die daraus hervorgegangene Übergangsregierung in Kiew von „Faschisten“ dominiert werde, wurde von den ukrainischen Wählern eindrucksvoll Lügen gestraft. Sie katapultierten die Kandidaten der ultranationalistischen Parteien „Swoboda“ und „Rechter Sektor“ mit ganzen 1,16 beziehungsweise 0,7 Prozent der Stimmen in die politische Bedeutungslosigkeit. Welch ein Kontrast zu den zum Teil erdrutschartigen Zuwächsen rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppierungen in einer Reihe von EU-Ländern! Ausgerechnet die faschistischer Umtriebe verdächtigten Ukrainer machten den etablierten westlichen Demokratien somit vor, wie man extreme politische Kräfte kleinhält. Das Geheimnis dieses Erfolgs ist allerdings leicht zu lüften: Wo demokratische Rechte und Freiheiten noch als Verheißung verstanden werden, haben extremistische Kräfte keine Chance – auch wenn in der Ukraine die Gefahr akut bleibt, dass die Machenschaften von Oligarchen oder ein außer Kontrolle geratendes Kriegsszenario die demokratischen Hoffnungen erneut zunichte machen. Wo dagegen Gewöhnung und Verdrossenheit das Bewusstsein für diese Werte haben erodieren lassen, ist ihren Verächtern der Weg bereitet.

Eine neue rechtsnationalistische Achse

Leider war die von der Verleumdungsmaschinerie Putins und ihrer politischen Schallverstärker in Westeuropa verbreitete Dauersuggestion, das Bekenntnis der neuen Ukraine zu Demokratie und europäischen Werten sei gleichsam nur Fassade, mit der man leichtgläubige Demokratieromantiker im Westen täusche, während dahinter in Wahrheit Rechtsextremisten die Strippen zögen, auch von manchen westlichen Medien aufgegriffen und ausgemalt worden. Doch die wahren Brutstätten für das Erstarken von Rechtsradikalismus und Neo-Nationalismus liegen, wie sich nun herausgestellt hat, keineswegs in der um ihre Freiheit kämpfenden Ukraine, die einstweilen nur davon träumen kann, an Europawahlen teilnehmen zu dürfen. Die Quellen dieser Gefahr für den Fortbestand einer auf universalistischen Freiheitswerten beruhenden europäischen Ordnung finden sich vielmehr im Inneren der EU selbst. Und durch die Herausbildung einer Achse von nationalpopulistischen und rechtsnationalistischen Kräften in Europa mit der Autokratie Wladimir Putins hat diese Gefahr eine neue Qualität gewonnen.

Denn während Putin den Kampf gegen vermeintliche „Faschisten“ zum Vorwand für die verdeckte russische Invasion der Ukraine und die Annexion der Krim nahm, festigte Moskau zugleich sein Bündnis mit der extremen Rechten in Europa, allen voran dem französischen Front National. Von der österreichischen FPÖ bis hin zu offen neonazistischen Gruppierungen wie der ungarischen Jobbik, der griechischen „Goldenen Morgenröte“ und der deutschen NPD haben sich die Rechtsaußen-Parteien des Kontinents weitgehend geschlossen auf Putins Seite geschlagen.

Es handelt sich dabei um weit mehr als nur ein taktisches Zweckbündnis zur Schwächung der EU, das im Kalkül aktueller russischer Geopolitik liegt. Vielmehr ergibt sich dieses Zusammengehen der nationalistischen Rechten mit dem Putinismus aus ihrem gemeinsamen Bestreben, der „amerikanisierten“ westlich-liberalen Gesellschaft ein autoritäres, auf der Glorifizierung der ethnisch definierten Nation beruhendes Gegenmodell und dem Konzept einer auf menschenrechtlichen Prinzipien basierenden, supranationalen Weltordnung die Rehabilitation einer nur vom nationalen Interesse geleiteten geostrategischen Machtpolitik entgegenzusetzen.

In diesem Sinne bezeichnen führende Vertreter des Front National (FN) Russland als „Hoffnung für die Welt gegen einen neuen Totalitarismus“ – womit sie wohlgemerkt nicht etwa das gleichgeschaltete System Putins meinen, sondern den „globalistischen“, pluralistischen Liberalismus des Westens, mit dem von ihm vermeintlich verursachten Werteverfall. Nicht zuletzt wegen seines Feldzugs gegen die „internationale Homo­sexuellenlobby“ preist FN-Chefin Marine Le Pen Putin als „Patrioten“, mit dem gemeinsam es die „christliche Zivilisation“ zu retten gelte. Dazu strebt sie eine paneuropäische Allianz mit Russland an, das sie als Trumpfkarte gegen die bei den Rechtsaußen als dem Inbegriff multiethnischer Vermischung und Hort „kulturloser“ Amoral verhassten USA betrachtet.
Europa von den USA zu trennen und Amerika vom Kontinent zu verdrängen, um dann den europäischen Westen kontrollieren zu können, war schon stets eines der zentralen strategischen Ziele der Sowjetunion gewesen. Mit Hilfe seiner im Aufwind befindlichen nationalistischen und antiamerikanischen Verbündeten in der Mitte Europas kann sich Putin jetzt durchaus Hoffnungen machen, dieses Ziel unter neuen Vorzeichen tatsächlich zu erreichen. Denn die aktiven Verteidiger des transatlantischen Bündnisses befinden sich in dem Maße in der Defensive, wie sich die USA tendenziell aus ihrer Rolle als zentraler Garant einer von westlichen Werten bestimmten internationalen Staatenordnung zurückzieht. Es schwindet in Europa das Bewusstsein dafür, in welchem Ausmaß der Kontinent seinen Wohlstand und seine demokratische Stabilität der atlantischen Allianz unter Führung der USA verdankt. Im Zuge von Dissonanzen wie der NSA-Affäre verblasst zudem das Unterscheidungsvermögen zwischen einer freiheitlichen Demokratie, in der geheimdienstliche Aktivitäten zuweilen außer Kontrolle zu geraten drohen, und autoritären Systemen wie dem Putins, in dem Geheimdienste an der Macht sind und mit repressiver Willkür herrschen.

Eine Verengung der Betrachtung des europäischen Einigungsprojekts auf ökonomische und verwaltungstechnische Fragen hat in Europa einen technokratischen Politikertypus hervorgebracht, der kaum noch in der Lage ist, die historischen und ethischen Dimensionen der europäischen Freiheitsidee zu erfassen und zu artikulieren, geschweige denn, die Bevölkerung dafür zu begeistern. Mit dem Auftauchen einer fundamentalen politischen Gegenkraft, die der scheinbar alternativlos gewordenen pluralistischen, offenen Gesellschaft den Garaus machen könnte, hatte dieser in bürokratischer Routine befangene Ultrapragmatismus nicht mehr gerechnet. 

Der angebliche Gegensatz zwischen Eurasiern und Atlantikern

Moskaus Liaison mit den Erben des europäischen Faschismus und Radikalnationalismus beruht dagegen auf einem robusten ideologischen Fundament, das sich im Austausch zwischen rechtsintellektuellen Zirkeln in Westeuropa und Russland über Jahre hinweg gefestigt hat, und das jetzt mehr und mehr zur Grundlage der Außenpolitik des Kremls zu werden scheint. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem russischen Politologen, Publizisten und Politiker Alexander Dugin zu. Hatten seine nach dem Zusammenbruch der Sow­jetunion entwickelten aggressiv antiwestlichen, großrussisch-nationalistischen Theorien zunächst nur sektiererische und esoterische Randgruppen erreicht, stieg er in den vergangenen Jahren zum vielleicht einflussreichsten Intellektuellen Russlands auf, der bis in höchste Regierungskreise hineinwirkt. Wie weit er direkt das Ohr des Kreml-Herrn erreicht, ist indes strittig. Doch in Reden und Erklärungen Putins finden sich in jüngster Zeit immer häufiger Formulierungen und Wendungen, die wortgleich auch von Dugin gebraucht werden. Nicht zuletzt Putins Projekt einer „Eurasischen Union“ ist von Dugins Ideologie des „Neo-Eurasismus“ inspiriert.

Dessen spekulativer kulturphilosophischer Kern ist die Vorstellung von einer fundamentalen Gegnerschaft zwischen erdverbundenen „Eurasiern“ und entwurzelten, seefahrenden „Atlantikern“, womit im Wesentlichen die angelsächsische Welt und namentlich die USA als Ausgeburt einer „kosmopolitischen und antinationalen Zivilisation“ gemeint sind. Diesen angeblich seit Jahrtausenden die Weltgeschichte bestimmenden Gegensatz sieht Dugin jetzt in einen „Endkampf“ eintreten, wobei Russland als einer Art Erlösermacht die Mission zukomme, die Welt von der vermeintlich wertezersetzenden Überformung durch den „Amerikanismus“ zu befreien.

In einer im April veröffentlichten Videobotschaft schwadroniert Dugin darüber, dass Russland „Europa erobern“ und es als „Protektorat“ in sein eurasisches Reich eingliedern sollte – zum Wohle der Europäer selbst, die unter russischer Vorherrschaft wieder von ihrer Dekadenz und von Erscheinungen wie „entarteter“ Einwanderung und zersetzendem Feminismus von der Art der Punk-Gruppe Pussy Riot gesunden könnten. Dugin lässt dabei keinen Zweifel daran, dass eine derartige „Gesundung“ beinhaltet, diesen störenden Elementen „aufs Maul“ zu geben und sie „auf die Müllkippe zu transportieren“.

Die „Neue Rechte“

Derartige Ideen klingen mystisch und wahnhaft genug, um im Westen, wo noch immer ein klischeehaftes Bild von der „russischen Kultur“ als einem unheimlichen ganz Anderen zur rationalistischen westlichen Zivilisation verbreitet ist, für authentische Äußerungen eines uns fremden russischen Geistes gehalten zu werden. Die Pointe ist jedoch, dass es sich bei Dugins Ideologiegebräu zum größten Teil um einen Import aus dem Westen handelt. Seit Ende der sechziger Jahre arbeitet eine in Frankreich entstandene Gruppierung unter der Bezeichnung „Neue Rechte“ daran, den Rechtsradikalismus für die gesellschaftlichen Eliten intellektuell attraktiver zu machen. So verabschiedete sich die Neue Rechte vom biologistischen Rassismus und ersetzte ihn durch das Konzept eines „Ethnopluralismus“ – was heißen soll, dass Völker glücklicher seien, wenn sie in ihrer jeweiligen festgefügten „Kultur“ unter sich blieben, statt sich – wie in den multiethnischen USA – zu vermischen.

Im Wesentlichen reaktivierten die Neurechten die Tradition der Konservativen Revolution im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre. Ganz im Sinne von Vordenkern dieser Strömung wie Moeller van den Bruck und Ernst Niekisch stempelte Benoist den „bürgerlichen Liberalismus und den atlantisch-amerikanischen ´Westen´“ zum „Hauptfeind“ europäischer Identität und adaptierte die „nationalbolschewistische“ Idee, nach der sich die nationalistische Rechte den „völkischem“ Gedankengut zugänglichen Kommunisten zuwenden müsse, um sich mit ihnen gegen den Westen zu verbünden. Dugin erwies sich als gelehriger Schüler der Neuen Rechten und rezipierte ihre Theorieikonen wie den italienischen faschistischen Kulturphilosophen Julius Evola sowie den NS-Staatsrechtler Carl Schmitt, dessen Ideen vom Gegensatz von „Land und Meer“ sowie von einer „Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ er mit älteren großrussischen Konzepten von einem russisch definierten eurasischen Großraum kombinierte. Dugin wurde Mitbegründer einer „Nationalbolschewistischen Partei“, ehe er seine eigene „Eurasische Bewegung“ aus der Taufe hob. Zeitweise fungierte er auch als Berater Gennadi Sjuganows, des Chefs der stramm nationalistisch gewendeten russischen Kommunisten.

Dieses „nationalbolschewistische“ Querfront-Konzept erweist sich auch in der aktuellen Situation als nützlich. Gibt doch Putins antiwestliche Offensive nicht nur europäischen Rechts-, sondern ebenso Linksradikalen einen weltanschaulichen Orientierungspunkt, die nach einer langen Durststrecke infolge des Kollapses des kommunistischen Lagers nun endlich wieder eine Macht am Horizont zu erkennen glauben, die der lange Zeit schier unaufhaltsamen „neoliberalen“ Globalisierung Einhalt gebieten könnte. Sowjetnostalgische Linke und amerikahassende „Antiimperialisten“ scheinen dabei keinerlei Probleme damit zu haben, dass sie sich in einem Boot mit ihren vermeintlichen Erzfeinden von „rechts“ wiederfinden – wie diese sich plötzlich ihrerseits nicht an linken Bettgenossen stören. Putins Retortenideologie macht es möglich, kombiniert sie doch völkischen Nationalismus scheinbar mühelos mit der Verklärung der Sowjetvergangenheit.

So betätigt sich die SED-Nachfolgepartei Die Linke als unermüdliche Apologetin der russischen Aggressionspolitik. Führende Vertreter dieser Partei schämen sich dabei nicht, der Bundesregierung wie auch den Grünen vorzuwerfen, ihre Unterstützung der ukrainischen Regierung impliziere eine Komplizenschaft mit „faschistischen“ und „antisemitischen“ Umtrieben. Der Zynismus, der in solchen Aussagen von Seiten einer Gruppierung liegt, in der es von obsessiven „antizionistischen“ Agitatoren wimmelt, ist kaum zu übertreffen. Lassen dieselben Leute doch keine Gelegenheit aus, Israel wegen seiner „Besatzungspolitik“ gegenüber den Palästinensern einseitig als „Okkupanten“ an den Pranger zu stellen. Dabei schrecken sie auch nicht davor zurück, sich mit den mörderischen antisemitischen Organisationen Hamas und Hisbollah zu solidarisieren. Jetzt aber spielen sie sich urplötzlich als genuine Kämpfer gegen den Antisemitismus auf, um damit ihrer Parteinahme für die militärische Aggressions- und Annexionspolitik Russlands ein „antifaschistisches“ Mäntelchen umzuhängen.

In Wirklichkeit aber ist es die Linkspartei, die in ihrer Nibelungentreue zu Moskau – welche den Untergang des Kommunismus erstaunlich unbeschadet überstanden hat – mit Rechtsextremisten und Neonazis an einem Strang zieht. Wobei ihr doch klar sein müsste, dass zum Ideologiecocktail des großrussischen Nationalismus wie selbstverständlich der Antisemitismus gehört, weshalb die Anführer des Maidan-Aufstands von der Pro-Putin-Propaganda regelmäßig nicht nur als „Faschisten“, sondern auch als „Juden“ denunziert werden. So sagte Alexander Dugin über den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, es handele sich bei ihm eigentlich um einen Juden, der in Wirklichkeit Walzman heiße. Er sei „ein jüdischer Oligarch, der nicht die Westukraine, nicht den Osten und nicht den Süden, sondern keine einzige Region vertritt“ – und demnach, so muss man dies wohl verstehen, keinen Platz in der völkischen Gemeinschaft beanspruchen könne.

Ein überkommenes Links-Rechts-Schema

Die wachsende Ununterscheidbarkeit von „rechts“ und „links“ hat indes strukturelle Gründe. Der Auftrieb für „populistische“ Bewegungen in Europa beschränkt sich ja nicht auf jene Kräfte, die man gemeinhin als rechtsorientiert bezeichnet. In Griechenland etwa wurde bei der Europawahl eine Schwesterpartei der deutschen Linken stärkste Kraft, die sich als dezidiert links versteht, faktisch aber kaum weniger nationalistisch auftritt als ihre nationalpopulistischen Pendants.

Was „rechts“ und was „links“ ist, hat sich im Laufe der Geschichte ohnehin öfters gewandelt, wenn nicht verkehrt. So waren im 18. Jahrhundert die großen Aufklärer – also, wenn man so will, die „Linken“ – entschiedene Befürworter des freien Welthandels. Die „rechten“ Verteidiger der feudalen Ständeordnung hingegen waren Advokaten des Protektionismus und der kontrollierten Wirtschaft. Im 19. und 20. Jahrhundert drehte sich dieses Verhältnis weitgehend um. Zwar feierte Karl Marx die Durchsetzung des kapitalistischen Weltmarkts als Bahnbrecher für das grenzenlose internationale Proletariat, doch seine kommunistischen Epigonen schufen ein Reich, das am Ende an seiner paranoiden Abschottung und seinem staatswirtschaftlichen Planungswahn zugrunde gehen sollte. Deren Führer feierten sich als „Internationalisten“, doch ihre von der Außenwelt isolierten Völker blieben weitgehend „ethnisch rein“, während sich die Gesellschaften des Westens zu multiethnisch gemischten Gebilden wandelten.

Die Furcht vor den Folgen der Globalisierung und vor der Herausbildung immer größerer supranationaler Strukturen bringt nun „linke“ und „rechte“ Abkapselungssehnsüchte zusammen, und es bilden sich in Europa neuartige Ideologiekonglomerate heraus, die mit dem überkommenen Links-Rechts-Schema nicht mehr ohne Weiteres zu erfassen sind. Der Hauptgegensatz in der Auseinandersetzung über Europas Zukunft verläuft vielmehr zwischen jenen, die an einem universalistischen, ethnisch heterogenen und supranationalen Gesellschaftsverständnis festhalten, und einer erbitterten Gegenbewegung, die in diesem „liberalistischen“ Leitbild eine tödliche Bedrohung für nationale und soziale Identitäten sieht.

Mit Putins Ideologie erhält der neue Nationalismus in Europa den Rückenwind einer großen Macht, die in der Ukraine vor Augen geführt hat, wie man sich mit brachialer Gewalt über vom Westen „verordnete“ internationale Regeln hinwegsetzen kann, ohne dass sich dieser zu einer entschlossenen Reak­tion fähig erweist. Doch der ethnische Nationalismus muss nicht eigens aus Moskau reimportiert werden, auch im Innern der EU selbst zeigen sich längst Symptome seiner erneuten Wucherung.

So bilden sich unter der Regierung Orban in Ungarn seit Jahren nicht nur Konturen einer „gelenkten Demokratie“ heraus, die an das Herrschaftsprinzip Putins erinnern. Auch die Vehemenz, mit der sich die Regierung in Budapest zur obersten Vertretung ungarischstämmiger Minderheiten in diversen Nachbarländern aufschwingt und diese massiv unter Druck setzt, den auf diese Weise kollektiv vereinnahmten „Auslandsungarn“ weitgehende Autonomierechte einzuräumen, gleicht dem Schema, nach dem sich Russland zum obersten Schutzherrn aller außerhalb seiner Grenzen lebenden angeblichen „ethnischen Russen“ erklärt. Es zeigt sich daran, dass alte ethnische Konflikte in Europa keineswegs für immer überwunden sind. Der neue ungarische Nationalismus reaktiviert vielmehr gezielt das Gefühl der Kränkung darüber, dass Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg nahezu zwei Drittel seines Territoriums verloren hat.

Dass die ungarische Regierung ihren Ansprüchen mit militärischer Gewalt Nachdruck verleihen könnte, ist freilich bis auf Weiteres nicht zu befürchten. Dafür, dass dies undenkbar scheint, sorgt nämlich das Gefüge der EU. Bis vor Kurzem wurde von EU-Kritikern und Euroskeptikern noch gerne über das Argument gespottet, die Existenzberechtigung der EU ergebe sich schon daraus, dass durch sie Krieg als Mittel innereuropäischer Auseinandersetzung tabu geworden ist. Angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine ist aber dramatisch deutlich geworden, wie essenziell die Institutionalisierung dieses Tabus für die Frage von Krieg oder Frieden tatsächlich ist. Hätte der europäische Einigungsprozess keinen anderen Erfolg vorzuweisen, dieser allein machte einen Unterschied ums Ganze aus.

Gefahren von außen

Ausgerechnet in einem historischen Moment steigender äußerer Bedrohung wird das geeinte Europa jedoch an seiner Jahrhundertleistung irre. Das kann nicht nur auf die dramatischen sozialen und finanzpolitischen Verwerfungen in einigen EU-Mitgliedstaaten sowie auf politische Fehlentwicklungen im europäischen Integrationsprozess geschoben werden. Wobei diese Probleme selbstredend viel zu gravierend sind, als dass sie etwa durch eine neue Mobilisierung von Euro-Idealismus einfach vom Tisch gezaubert werden könnten.

Weswegen auch nichts verfehlter wäre, als die anschwellende EU-Kritik pauschal als Ausdruck rückschrittlicher Gesinnung abzustempeln. Die Angst, von einem übermächtigen bürokratischen Apparat in Brüssel demokratisch entmündigt zu werden, ist so wenig unbegründet wie die Sorge, die Grundlagen der säkularen westlichen Verfassung könnten durch einen als multikulturelle Toleranz drapierten, zerstörerischen Kulturrelativismus ausgehebelt werden. Namentlich der unter dem Mantel der Religionsfreiheit agierende, mit den säkularen Prinzipien der offenen Gesellschaft aber unvereinbare politische Islam sowie die Ausbreitung des militanten Islamismus unter muslimischen Jugendlichen, aber auch die gewalttätigen Umtriebe krimineller migrantischer Clanstrukturen werden zur Bedrohung für die Demokratie. Die antisemitischen Morde im Jüdischen Museum in Brüssel machten zuletzt auf grauenvolle Weise deutlich, wie groß diese Gefahr bereits geworden ist, und wie gering die Abwehrmechanismen der europäischen Gesellschaften dagegen entwickelt sind. Die diesbezüglichen Verdrängungsreflexe funktionieren hingegen nach wie vor.

Doch es ist beunruhigend, dass sich die berechtigten Ängste vor einer Erosion der westlichen zivilisatorischen Errungenschaften in einer immer stärkeren Tendenz zum Rückzug in ein vermeintliches nationales oder kulturelles „Eigenes“ und in der Illusion äußern, diesen Bedrohungen durch Abschottung von globalen Einflüssen begegnen zu können. Dass das Gegenteil der Fall ist, zeigt das Beispiel des Kampfes gegen den Islamismus: Je weiter sich der Westen aus der weltweiten, und das heißt in erster Linie eben auch militärischen Konfrontation mit dessen entfesselter Destruktionskraft zurückzieht, umso bedrohlicher rückt sie uns näher. Der verfrühte Abzug der USA aus dem Irak sowie der NATO aus Afghanistan, die Abstinenz des Westens gegenüber dem Terror des Assad-Regimes in Syrien aus Angst, ein Eingreifen könnte religiösen Ex­tremisten in die Hände spielen, haben den islamistischen Furor nicht etwa besänftigt oder eingedämmt, sondern erst recht entfacht. Jetzt droht nicht nur erneut Afghanistan, es drohen auch Teile Syriens und des Iraks in seine Gewalt zu geraten – und die Bastionen des islamistischen Terrors damit näher an die Grenzen Europas zu rücken.

Zwischen diesen Entwicklungen und der inneren Krise Europas besteht ein direkter Zusammenhang. Je weniger Europa sich als fähig erweist, Stärke in der Welt zu beweisen, umso mehr wird es auch seine innere Kraft verlieren.

Dr. Richard 
Herzinger 
ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft
der Welt-Gruppe.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 114-122

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