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01. Sep 2013

Lektionen aus dem langen Krieg

Was hätten wir in Afghanistan besser machen können?

Es ist viel erreicht worden in Afghanistan. Aber ist es auch viel, gemessen an den Ansprüchen, die zur Rechtfertigung des Krieges formuliert wurden? Warum war es nicht möglich, eine stringente Strategie zu entwickeln, die afghanische Bevölkerung für sich zu gewinnen, stabile Regierungsstrukturen aufzubauen? Und was gäbe es zu lernen?

Eines ist sicher: Afghanistan hat uns gelehrt, den Begriff „Krieg“ wieder in den täglichen Sprachgebrauch zu übernehmen. Dabei hat es schon verwundert, dass die deutschen Bürger weit weniger Schwierigkeiten und Scheu im Umgang damit hatten als die von ihnen gewählten Politiker. Es waren viele quälende Jahre unter den mehr als zwölf des militärischen und zivilen Afghanistan-Engagements Deutschlands und seiner Partner. In dieser Zeit ist Deutschlands ­Sicherheitspolitik, aber auch die Bundeswehr selbst den viel zu engen Kinderschuhen entwachsen. Beide spielen heute in der internationalen Sicherheits­politik wieder eine, wenn auch eine sehr eigene, darum aber nicht falsche Rolle.

Wir sind aber bei weitem nicht das einzige Land, das im Afghanistan-Krieg schmerzliche Lektionen lernen musste. Mehr als 3000 ISAF-Soldaten sind inzwischen in diesem „langen Krieg“ ums Leben gekommen, die Zahl der getöteten afghanischen Sicherheitskräfte und Zivilisten liegt um ein Vielfaches höher. Nach wie vor bleibt die Frage nur unzureichend beantwortet, was die NATO und ihre Verbündeten in dieser Zeit in Afghanistan und was sie für eine nachhaltige globale Sicherheit erreicht haben. Verglichen mit der Ausgangssituation im Jahr 2001 ist jedenfalls für das Land eine Menge erreicht worden: Die Anzahl der Bildungseinrichtungen hat sich vervielfacht, die Gesundheitsversorgung und die Infrastruktur haben sich erheblich verbessert; die Terrororganisation Al-Kaida wurde marginalisiert und die Anzahl eigener afghanischer Sicherheitskräfte ist erheblich gewachsen. Gemessen jedoch an den hohen Ansprüchen, die die beteiligten Regierungen zur jeweils nationalen Rechtfertigung des Einsatzes formuliert haben, bleibt das Erreichte weit dahinter zurück. Dieses Unbehagen verspüren auch Beobachter, die sich nicht tagtäglich mit der Lage in Afghanistan beschäftigen können; sie würden diesen Einsatz lieber heute als morgen beendet sehen wollen.

Der Afghanistan-Krieg geht inzwischen in seine entscheidende Phase, und dementsprechend nervös reagieren alle daran Beteiligten. Der ISAF-Einsatz wird beendet und muss in eine Nachfolgemission ausschließlich zur weiteren Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte überführt werden. Die damit verbundenen Risiken sind nicht unerheblich und stellen die Soldaten vor neue, schwierige Herausforderungen, insbesondere was die Eigensicherung anbetrifft. Die US-Counterterror-Mission soll fortgesetzt werden, bedarf aber der Billigung durch die afghanische Regierung und das Parlament. Beide Missionen benötigen ein umfassendes Truppenstatut-Abkommen, dessen Verabschiedung als letzte verbliebene Trumpfkarte in der Hand von Präsident Hamid Karsai bisher verweigert wurde. Die Mission zum weiteren zivilen Aufbau muss ausgeplant, finanziert – und geschützt werden. Gleichzeitig läuft die Amtszeit des Präsidenten aus und es ist nicht klar, wie und durch wen das entstehende Machtvakuum gefüllt werden wird. Last but not least soll es – wie am Ende eines Krieges üblich – Verhandlungen über eine Versöhnung mit dem Hauptgegner, den Taliban, geben. Dies alles erscheint inzwischen wie eine Quadratur des Kreises. Es lohnt sich daher, einen Blick darauf zu werfen, warum selbst nach zwölf Jahren Einsatz in Afghanistan viele Dinge noch ungelöst erscheinen und warum es so schwierig ist, aus den gemachten Erfahrungen zu lernen.

Warum konnte man das Vertrauen der Afghanen nicht gewinnen?

Vom ursprünglichen Ziel der Terrorbekämpfung, vor allem der Al-Kaida, ist inzwischen wenig übrig geblieben. Es gibt zwar noch eine Anzahl „fremder“ Kämpfer in Afghanistan; seit einigen Jahren aber befindet sich ISAF in einem zähen Kampf gegen einen überwiegend paschtunisch geprägten Aufstand, den man – nach dem vom französischen Militärstrategen David Galula paraphrasierten Clausewitz-Motto – richtig als „Fortsetzung der Politik einer Gruppe innerhalb eines Landes mit allen Mitteln“ bezeichnen kann. Nun ist dies nicht der erste Aufstand, den man mit überwiegend militärischen Mitteln zu bekämpfen versucht. Nach einer Reihe von strategischen Richtungsänderungen in Afghanistan, angefangen beim „Global War on Terror“ über „Nation Building“ bis hin zur eigenen afghanischen „Sicherheitsverantwortung“, wurde „Counterinsurgency“ (COIN) wiederentdeckt und war rasch enorm populär.

Allerdings wurde dabei geflissentlich übersehen, dass die wesentliche Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Durchführung von COIN eine einheitliche und von allen gleichermaßen beachtete militärische, aber vor allem zivile Umsetzungsstrategie war. Dies erforderte jedoch viel (zu viel) Zeit und Geduld, Kenntnis und Beachtung der kulturellen Besonderheiten des Landes sowie Unmengen von Geld. Insbesondere wurde gegen das Gebot einer einheitlichen und alle Bereiche umfassenden Strategie verstoßen. Die meisten an ISAF beteiligten Nationen verfolgten ihre eigenen Ziele und Methoden, denn es erschien vielen Regierungen wichtiger, die eigene Wählerschaft zu Hause anstatt die afghanische Bevölkerung zu überzeugen.

Damit wurde gegen das „erste Gebot“ von COIN verstoßen: die Bevölkerung auf die eigene Seite zu ziehen. Während in einem konventionellen Krieg die Feuerkraft und ihre entsprechende Zusammenziehung zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort entscheidend sind, sind die wesentlichen Elemente bei COIN die Zusammenziehung und Analyse von Informationen aus der lokalen Bevölkerung, damit Aufständische identifiziert und bekämpft werden können. Denn dieser Gegner besitzt zwar vergleichsweise wenige und technisch rückständige Waffen. Aber er hat die Kon­trolle über einen Teil der lokalen Bevölkerung, ist dadurch geschützt und wird gewissermaßen unsichtbar.

Dies setzte auch für ISAF zwingend voraus, das Vertrauen der Afghanen zu gewinnen und zu bewahren. Warum hat dies nicht oder an manchen Stellen nur schwer funktioniert? Es ist unbestritten, dass sich die Ziele von ISAF – Stabilisierung des Landes, Schutz der Bevölkerung, Aufbau von Regierungspräsenz in der Fläche – mit den Zielen der Counterterror-Mission „Operation Enduring Freedom“, nämlich der Ausschaltung und Tötung insbesondere der mittleren Taliban-Führungsebene, miteinander in Widerspruch befanden und falsche Hoffnungen weckten. Man kann nicht in mühevoller Kleinarbeit in abgelegenen Regionen versuchen, das Vertrauen einer argwöhnischen Bevölkerung zu gewinnen, wenn gleichzeitig durch nächtliche und teilweise unkoordinierte Militäraktionen unter Inkaufnahme ziviler Opfer eben dieses Vertrauen wieder erschüttert oder zerstört wird. Häufig genug sind dadurch neue Kämpfer und neue Motivation für die Taliban erwachsen. Ebenso wenig hat die US-Strategie des Verhandelns einerseits und Bekämpfens andererseits Früchte getragen, da die Taliban-Führung inzwischen die gleiche Vorgehensweise nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“ an den Tag legt und dadurch Waffenstillstands- oder Friedensgespräche fast unmöglich erscheinen.

Eine weitere Fehleinschätzung war der Glaube, in Kabul eine Regierung installieren zu können, die den verbündeten Staaten zugetan war und zugleich den Respekt und die Unterstützung durch die afghanische Bevölkerung erlangen könnte. Weder gelang es, eine sichtbare Regierungspräsenz in der Fläche aufzubauen, noch die alten afghanischen Seilschaften zu durchbrechen, damit eine zuverlässige und fähige Regierung entstehen konnte. Die nicht vorhandene Regierungspräsenz wurde durch die umfassende Präsenz der Taliban und anderer eigenständiger Milizstrukturen ersetzt, die durch finanzielle und politische Zuwendungen der Nachbarstaaten, Mitgliedstaaten von ISAF oder von Einzelpersonen die zaghaften Regierungsansätze in Kabul zum Teil völlig konterkarierten und in der Lage waren, so genannte „Schattenregierungen“ zu bilden. Die von der Bevölkerung sehnlichst erwarteten Regierungsleistungen, nämlich Rechtsprechung und Sicherheit, wurden mehr durch die Angst und Schrecken verbreitenden Taliban-Strukturen als durch eine funktionierende Regierung in Kabul gewährleistet.

Es gab und gibt darüber hinaus einen wenig fruchtbaren Wettbewerb zwischen vor Ort präsenten internationalen staatlichen sowie Nichtregierungs­organisationen. Für den Aufbau des Landes wurde eine Menge Geld vorgehalten, und häufig war ein „Return on Invest“ der Aufbaumittel wichtiger als eine koordinierte Abstimmung zwischen afghanischen und internationalen Partnern. Dass dadurch die lokale Korruption zu ungeahnten Höhen aufstieg, erhöhte die Glaubwürdigkeit der ISAF-Nationen natürlich nicht. Viele Projekte gefielen eher den durchführenden Organisationen selbst als der afghanischen Bevölkerung. Vor allem waren sie „zu Hause“ einfacher zu verkaufen. Die flächendeckende Präsenz internationaler Organisationen hat von Beginn an das Preis- und Lohngefüge im Land rasant aus der Balance gebracht.

Im Bereich Sicherheit wurden häufig gerade die am besten ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräfte von privaten Sicherheitsunternehmen abgegriffen. Der Krieg in Afghanistan wurde zu einem lukrativen Geschäftsmodell für einige wenige und erhielt diese Branche quasi aus sich selbst heraus. Es reicht zudem nicht aus, afghanische Sicherheitskräfte in großer Zahl auszubilden. Sie müssen mit allem Notwendigen ausgestattet werden, das sie für die Durchführung einer komplexen und komplizierten Aufgabe im Land dringend brauchen. Kommunikation, Mobilität (geschützt und ungeschützt), Know-how gegen Sprengfallen, funktionierende Logistik und Kraftstoffversorgung sowie eine vernünftige Bekleidung und Ernährung sind Grundvoraussetzungen für eigenständig handelnde afghanische Sicherheitskräfte. Ob und wie dies in Zukunft funktionieren wird, bleibt abzuwarten. Welche Lektionen sind nach alledem noch zu lernen? Und was ist durchführbar?

Lektion 1: Stürzen ist einfacher als aufbauen

Einen fragilen Staat aufzubauen und die Bevölkerung zu schützen, ist weit schwieriger, als eine Regierung zu stürzen oder zu ersetzen: Dies erfordert immense Investitionen an Zeit, Geld und politische Kreativität. ­Regierungen, die sich regelmäßig einer Wiederwahl stellen müssen, sind daher gut beraten, für ihre eigenen Bürger keine politischen Luftschlösser zu bauen, die der harten Realität einer Aufstandsbekämpfung nicht standhalten können.

Lektion 2: Strategiewechsel überfordern

Ein diesem internen Druck geschuldeter ständiger Strategiewechsel in der Aufstandsbekämpfung überfordert nicht nur die eigenen Streitkräfte und die finanziellen Ressourcen, sondern er erschöpft auch die Anzahl an Erklärungsmustern für die Bürgerinnen und Bürger, die schließlich mit ihrem Steuergeld für den Einsatz geradestehen müssen.

Lektion 3: Gemeinsame Handlungsfelder ausmachen

Da die Streitkräfte und die zivilen Organisationen bei einer Counterinsurgency-­Mission zwingend aufeinander angewiesen sind, muss dieses Miteinander auch außerhalb von aktuellen Konflikten strategisch unterlegt und geübt werden. Hierauf muss die NATO in Zukunft größeres Augenmerk richten, wenn ihre künftige Hauptaufgabe in den Bereichen Krisenprävention und Krisenbewältigung liegen soll. Ohne gegenseitiges Verständnis und gemeinsame Handlungsfelder ziviler wie militärischer Organisationen werden wichtige Ressourcen verschwendet.

Lektion 4: Der Schwerpunkt muss auf dem zivilen Wiederaufbau liegen

Man kann die Dinge drehen und wenden, wie man will: Der Ansatz, den vor allem Deutschland, die Niederlande oder die skandinavischen Länder gewählt haben, nämlich den Schwerpunkt auf den Bereich ziviler Wiederaufbau zu legen und Militär nur dann einzusetzen, wenn es unbedingt nötig und für den Schutz der Zivilbevölkerung unabdingbar ist, ist der bessere und entspricht noch am ehesten den Grundsätzen einer erfolgreichen COIN-Strategie. Wobei man den Begriff „Strategie“ aus den bereits genannten Gründen an dieser Stelle besser nicht verwenden sollte.

Lektion 5: Stärkere parlamentarische Beteiligung ist notwendig

Damit ein erfolgreicher vernetzter Ansatz in der Aufstandsbekämpfung auch wirklich Sinn macht, ist eine stärkere parlamentarische Beteiligung insbesondere im Bereich der Außenpolitik notwendig. Streitkräfte unterstehen einer umfassenden parlamentarischen Kontrolle; Entwicklungspolitik schafft gerade wegen ihrer Projektbezogenheit ein hohes Maß an parlamentarischer Transparenz – doch dies kann für den diplomatischen Bereich nicht in allen Fällen behauptet werden. Gerade hier aber werden die Voraussetzungen für den Aufbau einer fähigen Regierung im Einsatzland, für erfolgreiche oder sinnlose Friedensbemühungen, für schwierige Abstimmungen der unterschiedlichsten Interessen der Partnerländer untereinander sowie für eine Einflussnahme auf Strategie und Handlungsoptionen im Einsatz selbst geschaffen. Bleibt ein Parlament an dieser Stelle weitestgehend außen vor, dann wird es natürlich sehr schwierig, die Komplexität eines solchen Einsatzes den Wählerinnen und Wählern nachvollziehbar zu erläutern und diese öffentlich zu unterstützen.

Lektion 6: Keine Stabilisierung ohne Einbindung der Nachbarstaaten

Eine erfolgversprechende Stabilisierung eines Staates kann nicht ohne eine von Beginn an umfassende und vorurteilslose Einbindung der Nachbarstaaten erfolgen. Deren Sicherheitsinteressen sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie die eigenen, denn sonst bieten ausgegrenzte Nachbarstaaten Rückzugsraum, Regenerations- und Rekrutierungsmöglichkeiten für Aufständische. Die Länder Pakistan und Iran sind besonders augenfällige Beispiele.

Lektion 7: Kenntnisse über die Zivilbevölkerung sind unabdingbar

Für alle notwendigen Maßnahmen einer COIN-Operation – seien es Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, zivile Aufbauprojekte oder Legitimierung einer Regierung durch freie und faire Wahlen – sind eine Identifizierbarkeit der Zivilbevölkerung und eine grundlegende Kenntnis über deren Aufbau, Zahl und Strukturen von entscheidender Bedeutung. Viel zu spät hat man in Afghanistan damit begonnen, über einen Zensus nachzudenken.

Lektion 8: Nicht nur auf die Zentralregierung starren

Die fast ausschließliche Fokussierung auf die Zentralregierung in Kabul hat zusätzlich dazu geführt, dass die strukturellen Probleme des Landes vernachlässigt bzw. verschärft wurden. Es ist für die Staaten einer Koalition sicherlich einfacher, sich auf einen einzigen Partner an einem relativ überschaubaren Ort zu konzentrieren. Da eine Aufstandsbewegung sich in aller Regel jedoch von unten nach oben entwickelt, spielt ein administratives Vakuum oder eine unfähige staatliche Bürokratie auf Dauer unwillkürlich in die Hände der gegnerischen Kräfte.

Es könnten an dieser Stelle sicher noch eine Menge weiterer Punkte angefügt werden, die dringend einer vertieften Analyse bedürften. Abschließend bleibt jedoch festzuhalten: Eine erfolgreiche Stabilisierungsmission kann nur stattfinden, wenn alle Beteiligten in eine Richtung unter einer von allen anerkannten Führung zusammenarbeiten. Die Maßnahmen, die dafür notwendig sind, dürfen nicht als das Ergebnis einer schlichten Addition, sondern als das Produkt einer Multiplikation dieser Faktoren betrachtet werden. Hieraus ergibt sich dann eine schlichte Erkenntnis: Wenn ein Faktor ausfällt oder nicht berücksichtigt wird, also gleich Null ist, fällt das Ergebnis dann auch entsprechend aus.

Elke Hoff war bis zu den Bundestagswahlen 2013 sicherheitspolitische Sprecherin der FDP- Bundestagsfraktion.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 8-13

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