Konkurrenz belebt das Geschäft
Der Westen braucht offene Märkte, nicht geschlossene
Die These liegt im Trend: Im Wettlauf um Wohlstand werden Amerika und Europa von Asien abgehängt, bedrohen Freihandel und Globalisierung die Arbeitsplätze der Mittelschicht. Doch wer mit dem Appell an transatlantischen Protektionismus Alarm schlägt, verkennt: Der Westen liegt weiter im Rennen – und braucht offene, nicht geschlossene Märkte.
Wissen wir schon alles über die Globalisierung? Lange Zeit war das Bild in den gebildeten Kreisen ziemlich eindeutig: Zwar hat sich die Weltwirtschaft in den vergangenen 15 Jahren dramatisch verändert, zwar wurden dieser Prozess und seine Geschwindigkeit von kaum jemandem vorhergesehen. Aber die Theorie dazu war weder dramatisch, noch unvorhersehbar: Von offenen Märkten profitieren alle, und wer seine Märkte öffnet, der erhält das Wachstum von alleine. Alles geht für alle gut aus.
Keine Frage: Die Welt wird flacher. Lag Chinas Anteil am Weltbruttosozialprodukt 1990 noch bei 5,7 Prozent, so erwirtschaftete das Land 2005 bereits 15,4 Prozent aller auf der Welt hergestellten Güter und Dienstleistungen. Der Internationale Währungsfonds erwartet, dass bis 2015 China (19 Prozent) die EU (17 Prozent) überholt haben wird. Nicht minder rasch vollzieht sich der Aufholprozess Indiens: Beide Länder, Indien und China, verzeichnen seit langem Wachstumsraten von jährlich bis zu zehn Prozent. Die Wohlstandsgewinne der vergangenen 15 Jahre haben dort die Armut erheblich reduziert und zugleich konsumkräftige Mittelschichten entstehen lassen. Mehr als 80 Prozent der chinesischen Studenten stimmen dem Satz zu, ein moderner Mensch müsse vor allem in der Lage sein, „Geld zu machen“. Das klingt wenig marxistisch, aber sehr materialistisch und feuert die Dynamik des sozialen Aufstiegs an. Im Jahr 2030 werden mehr als eine Milliarde Menschen aus den heutigen Entwicklungsländern einen Lebensstandard der Mittelschicht erreicht haben: Sie kaufen Autos, machen Reisen, achten auf ihre Ernährung. Und sie werden immer weniger bereit sein, unter autoritären oder bürokratischen Regimen zu leben. Globalisierung befördert nicht nur den Wohlstand, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit und sogar die Demokratie.
Soweit die gute Erzählung von der Globalisierung. Wo ist also das Problem? Gewiss, die Gegner der Globalisierung von Attac bis Greenpeace sind nicht aus der Welt verschwunden. Auch beim G-8-Gipfel in Heiligendamm werden sie die Fernsehbilder jenseits des großen Zaunes beherrschen. Aber ihre moralische Legitimation ist ins Wanken geraten, seit die Erfolge des Kapitalismus in Asien nicht mehr zu übersehen sind. Die Einkommensungleichheiten zwischen den Staaten schrumpfen, stellen doch China und Indien allein ein Drittel der Weltbevölkerung. Wer wollte es den Chinesen verdenken, dass sie es mit der Marktwirtschaft versuchen? Wer will es den Indern verübeln, dass sie ihr Land entbürokratisiert und ihre Grenzen geöffnet haben? Der Prozess der Globalisierung ist unumkehrbar. Auch das gehört zum Konsens der aufgeklärten Ökonomie des 21. Jahrhunderts.
Doch jetzt kommt das Problem. Nicht um die asiatischen Schwellenländer müssen wir uns Sorgen machen, sondern um die westlichen Wohlstandsgesellschaften. Lange Zeit galt es außerhalb linksintellektueller Kreise als verpönt, auch nur darüber nachzudenken, ob die Globalisierung etwas zur Schwächung der westlichen Welt beigetragen haben könnte. Denn das Dogma heißt, simpel formuliert: Von der internationalen Arbeitsteilung profitieren alle. Sorgen machen müssen sich nur jene Arbeitnehmer, deren Einkommen bislang dem Wettbewerb entzogen oder protektionistisch – etwa durch gewerkschaftliche Closed Shops – geschützt waren. Doch neuerdings denken auch Ökonomen, die nicht der Antiglobalisierungslinken zuzurechnen sind, darüber nach, ob Globalisierung und Freihandel die Arbeitsplätze der Mittelschichten in den reichen Ländern bedrohen. Es könnte nämlich sein, dass die Bedeutung des globalen Veränderungsprozesses bis heute noch gar nicht recht verstanden wurde.
Wenn nicht alles täuscht, dann spielt sich derzeit weltweit eine Revolution ab, die dem Übergang von der agrarischen in die industrielle Welt am Ende des 19. Jahrhunderts in nichts nachsteht. Damals wie heute brachten die technischen Umwälzungen letztlich allen Menschen einen Wohlstandsgewinn. Aber zu einem hohen Preis und nur unter großen Zumutungen, denen viele Menschen nicht gewachsen waren.
Cheerleader des Freihandels
Die neue Debatte kreist um die Folgen der Globalisierung für die Mittelschichten der westlichen Welt. Seit gut einem Jahr wird sie unter amerikanischen Mainstream-Ökonomen vehement geführt. Allesamt sind sie Anhänger der Theorie des Freihandels. Doch allesamt bekennen sie, dass die Wiederholung der Theorie heute nicht mehr genügt. „Die Mittelschicht in den Industrienationen spürt inzwischen den Druck der Globalisierung ganz beträchtlich“, sagt Dani Rodrik, Harvard-Ökonom und Autor des viel beachteten Bestsellers „Has Globalization Gone Too Far?“. Rodrik bezieht unter den neuen ökonomischen Globalisierungskritikern die skeptischste Haltung: „Längst sind es die naiven Cheerleader der Globalisierung, die dem Freihandel den empfindlichsten Rückschlag versetzen könnten“, sagt er. Diese Leute seien viel gefährlicher als die Straßenkämpfer der G-8-Treffen. Sein Argument: Das Hauptproblem der Weltwirtschaft ist längst nicht mehr eine unzureichende Öffnung der Märkte. Im Gegenteil: Tarifäre und nichttarifäre Hemmnisse wurden in den vergangenen 50 Jahren in einem Maße geschliffen wie nie zuvor. Selbst wenn die Doha-Runde scheitern sollte, bleibt es dabei, dass arme Länder ausreichenden Zugang zu den Märkten reicher Länder haben. Mit anderen Worten: Wir müssen uns nicht um eine unzureichende Marktöffnung sorgen, sondern um den schwindenden Einfluss der Regierungen in den reichen Ländern, die ihren Bürgern immer weniger Sicherheit bieten können und sie so den Fährnissen einer vernetzten Welt ungeschützt aussetzen.
Mit Ben Bernanke, dem amerikanischen Notenbankchef, hat Rodrik einen mächtigen Fürsprecher gefunden. In zwei wichtigen Reden zu Anfang des Jahres stellt der US-Notenbankchef fest: Im Laufe der letzten drei Dekaden haben sich die Einkommensgewinne der Menschen ziemlich unterschiedlich entwickelt. Während die Mittelschichten gut 10 Prozent mehr haben, wurde das oberste Zehntel der Bevölkerung um 34 Prozent reicher. Die Löhne der untersten zehn Prozent auf der Sozialpyramide wuchsen dagegen lediglich um magere vier Prozent. Das ist sozial beunruhigend, handelt es sich bei den Mittelschichten doch nach einem berühmten Wort Bill Clintons um „jene breiten Massen, die in unserem Land die Kinder groß ziehen, die Arbeit machen, die Steuern zahlen und sich an die Regeln halten“.
Wie konnte es so weit kommen? In der populären Literatur wuchern die Mutmaßungen. Von einem „Krieg gegen die Mittelschichten“ spricht der amerikanische Wirtschaftsjournalist Lou Dobbs („War on the Middle Class“). Danach haben sich Großindustrie, Regierung und Interessengruppen gemeinsam verschworen gegen die amerikanische Mittelschicht. Mittels Lohndrückerei, Handelsliberalisierung, Outsourcing und einer Lockerung der Einwanderungsbeschränkungen machen sie ihre Profite – auf dem Rücken der rechtschaffenen Bürger. Dani Rodrik lässt sich auf solchen Populismus nicht ein. Er argumentiert raffinierter: „Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob ein Modell der Globalisierung, das nahezu ausschließlich auf den Abbau von Handelsbarrieren setzt, dauerhaft tragbar ist.“ Seine Frage ist zweideutig gestellt. Eine Deutung liefe auf die Aufforderung an die Politik hinaus, nicht nur die Märkte zu öffnen, sondern auch die Folgen der Marktöffnung politisch in den Blick zu nehmen: durch eine vor allem Bildung fördernde neue Sozialpolitik. Doch sein Satz schrammt gefährlich an der Aufforderung vorbei, es mit der Liberalisierung nicht zu übertreiben und Unternehmen dann nicht zu verlagern, wenn die Fabriken am neuen Ort auch Kinder beschäftigen.
Rodrik fühlt sich zu seinen Verbotsvorschlägen berechtigt: Während der Westen sich dem offenen Meer freier Märkte aussetze, dominierten in den Ländern Asiens bis heute ganz selbstverständlich ein staatlicher Interventionismus und eine gelenkte Industriepolitik. Dort ist der Kapitalimport nicht weit genug liberalisiert, werden die Eigentumsrechte für Ausländer nicht gesichert und die Währung (wie in China) fest an den Dollar gekoppelt. Mit anderen Worten: Die Weltwirtschaft spielt das Spiel der Globalisierung nach unterschiedlichen Regeln. Und das ist nicht fair. Rodriks Argument greift jedoch zu kurz.
Tatsächlich beweisen Indien und China, dass Länder, die sich im wirtschaftlichen Aufholprozess befinden, von Industriepolitik profitieren können. Das war vor 100 Jahren für Amerika und Europa und vor 20 Jahren für Japan genauso: Schutzzölle waren üblich, Kartelle zugelassen und geistiges Eigentum war nicht wirklich sicher. Schon der deutsche Ökonom Friedrich List wusste: Rückständige Länder profitieren von staatlicher Unterstützung. Ein aktiver Staat ist in Schwellenländern wichtig.
Die Symbiose zwischen Staat und Marktwirtschaft funktioniert allerdings immer nur so lange, bis die sich entwickelnden Länder buchstäblich an die entscheidende Schwelle von Imitation zu Innovation gelangt sind: Nachahmer lieben den politischen Rückenwind. Der Staat kann den Nachholprozess organisieren. Wo aber neues innovatives Wissen herkommt und wo die neuen Märkte sein werden, das kann der Staat gerade nicht wissen. Damit fällt aber das Argument fehlender Chancengleichheit. Wer wollte Asien verwehren, was vor 100 Jahren den Aufstieg Deutschlands oder Amerikas gegen England ermöglichte? Wer wollte zweierlei Maß anlegen? Mehr noch: Der Übergang von Imitation zu Innovation markiert jenen Punkt, an welchem Schwellenländer plötzlich ein großes Interesse am Schutz geistigen Eigentums und einem rigide angewandten Patentrecht bekommen. Kein internationales Abkommen könnte strenger sein. So lange der Aufholprozess davon lebt, es dem Westen nachzumachen, wird geklaut, was das Zeug hält. Sobald Augenhöhe erreicht ist, erblüht das Interesse an Rechtsstaatlichkeit von alleine. Daraus folgt: Der Westen sollte lieber abwarten, bis die Unternehmer in Asien sich vom Gängelband staatlicher Bevormundung befreit haben werden, als sich selbst neue Staatsinterventionen auszudenken.
Was bleibt noch, wenn alles weg ist?
Früher beruhte die internationale Arbeitsteilung auf einer horizontalen Aufteilung der Weltproduktionsstandorte. Die Portugiesen machen am besten Wein, die Engländer stellen Kleidung her – gemäß der klassischen Vorgabe David Ricardos. Doch heute gilt das nicht mehr, sagt der amerikanische Ökonom Alan Blinder.1 Seit Transportwege kein Hindernis mehr sind, lässt sich nämlich die globale Fertigung auch vertikal aufteilen. Die einen machen die Chips, die anderen das Gehäuse, wieder andere das Marketing. Jede dieser Tätigkeiten kann an einem anderen Ort des Globus stattfinden.2 Und irgendwo wird das Ganze dann zusammengeschraubt. Die Wertschöpfungskette ist rund um die Welt verteilt. Prinzipiell alle Fertigungsanteile eines Produkts können in das Kalkül von Offshoring und Outsourcing einbezogen werden. Alles ist unter den Bedingungen der Globalisierung handelbar.3
Diese Entflechtung des Fertigungsprozesses bedroht vor allem die Mittelschichten. Denn es sind ihre Tätigkeiten, die jetzt plötzlich zur betriebswirtschaftlichen Verhandlungsmasse werden. Der Friseur, das Bedienungspersonal im Restaurant oder der Krankenpfleger lassen sich schlecht outsourcen. Der Bauzeichner und Statiker oder der Anwalt kann auch in Krakau oder Delhi rechnen oder Gesetzestexte prüfen. Wo Transportzeit und -kosten nur noch unerheblich ins Gewicht fallen, geraten die Einkommen der Mittelschichten in den entwickelten Staaten unter Druck. Denn die gebildeten Mittelschichten in Indien und China machen es genau so gut, nur billiger. Bis zu 40 Millionen Jobs könnten auf diese Weise von der Globalisierung bedroht sein, meint Blinder. Wenn das stimmt, dann gilt die alte Weisheit nicht mehr, wonach Arbeitnehmer in reichen Ländern allemal die Gewinner der Globalisierung sind. Und es hilft auch die generelle Überzeugung nicht, dass gegen Globalisierung geschützt ist, wer sich durch Bildung und technisches Wissen ausreichend präpariert. Der technische Fortschritt bringt es mit sich, dass mehr Dinge als je zuvor outgesourct werden können. Heute können Inder viele Jobs der Amerikaner machen und zwar zu erheblich günstigeren Preisen.
Was im Einzelfall verlagerbar (tradable) ist, lässt sich nicht theoretisch ableiten. Dazu braucht es Erfahrungswissen. Während etwa Scheidungsanwälte schwer nach China zu verpflanzen sein dürften – der persönliche Kontakt mit dem Mandanten ist wichtig, kulturelle Regeln spielen eine erhebliche Rolle – dürfte es schon einfacher sein, Steueranwälte outzusourcen: Denn hier kommt es zwar ebenfalls auf den Einzelfall an und Steuerrecht ist national geprägt. Doch ein persönlicher Kontakt wird weniger wichtig sein als beim Scheidungsanwalt. „Die wichtigste Unterscheidung verläuft künftig zwischen Aufgaben, die unbedingt zuhause getan werden müssen und solchen Tätigkeiten, die ohne Qualitätsverlust genauso gut auf elektronischem Weg aus anderen Ländern eingekauft werden können“, sagt Blinder.
Was folgt daraus? Blinder verlangt kein protektionistisches Programm wie Rodrik. Er setzt auf den Heimvorteil. „Wir müssen uns focussieren auf Tätigkeiten, die den persönlichen Kontakt brauchen, völlig unabhängig davon, auf welchem Bildungs- oder Gehaltsniveau diese Tätigkeiten angesiedelt sind.“ Das ist ein ziemlich defensiver Ratschlag, setzt er doch voraus, dass letztlich nur noch der Nahkontakt den Menschen Arbeit in entwickelten Ländern sichert, dass aber alle anderen Arbeiten längst nach Asien oder Osteuropa verloren sind.
"Alarmismus“ wirft denn auch der an der Columbia-Universität lehrende indische Ökonom Jagdish Bhagwati seinem Kollegen vor: „Er liegt total daneben.“ Bhagwati fügt hinzu: „Wenn wir Bilanz ziehen, bin ich ganz sicher, dass wir im Saldo mehr neue Jobs erfinden werden als wir verlieren.“ Tatsächlich gibt die defensive Strategie dem Fortschritt keine Chance. Sie lässt nämlich völlig außer Acht, dass an den Universitäten des Westens auch weiterhin neue Erfindungen gemacht werden, aus denen wiederum Produktideen für Unternehmer werden können: Geschäftsfelder, die es bislang noch gar nicht gab und Unternehmer, von denen vorher noch niemand gehört hat.
Bildung selbst ist eine Ware, welche zumindest die Eliteuniversitäten der USA erfolgreich zum globalen Produkt ausgebaut haben. Beispiel Boston: Wäre der geographische Raum von Greater Boston ein eigener Staat, rangierte er, gemessen am Bruttosozialprodukt, weltweit an 23. Stelle – vor Belgien und Schweden und gleich hinter Russland und der Schweiz. Die acht weltberühmten Forschungsuniversitäten von Greater Boston – Harvard, MIT, Brandeis, Tufts und vier weitere klingende Namen – bilden heute die größte Branche der Region. „Industrialisierung der Wissenschaft“, heißt dieser Befund. Erziehung und Gesundheitswesen (in Forschung und Klinik) sind, gemessen an der Beschäftigung, die größte Industrie - noch vor Banken und Finanzdienstleistern. Auf 7,4 Milliarden Dollar addiert sich der jährliche Beitrag dieser Universitäten zur Wirtschaftskraft der amerikanischen Nation – von den universitären Bauaufträgen bis zu den Kinokarten der Studenten. Nirgendwo in den Vereinigten Staaten ist der durchschnittliche Bildungsgrad der Bevölkerung höher. Das produziert ein neues Unternehmertum: Allein im Jahr 2000 wurden aus den Universitäten Bostons heraus über 40 neue Firmen (Spin-offs) gegründet. Zugleich zieht der Forschungsmagnet internationale Unternehmen an: Cisco, Merck, Novartis, Pfizer, Sun oder Microsoft unterhalten Dependencen. Und der Raum lockt Studenten und Wissenschaftler aus der ganzen Welt nach Boston.
Das beweist: Der Westen hat nicht verloren und ist längst nicht dazu verdammt, nur noch abzuzählen, was ihm als nicht „tradable“ übrig bleibt. Der Westen profitiert sogar vom Pfad seiner eigenen Geschichte. Boston ist eben nicht beliebig in Bangalore wiederholbar. Es ist der historische Zufall einer Universitätsgründung vor 400 Jahren (Harvard!), der Boston so stark gemacht hat. „Es war klug, sich nur von Humankapital abhängig zu machen, ansonsten aber flexibel zu bleiben“, fügt der Ökonom Edward Glaeser hinzu. Die Logik der Innovation ist nicht planbar. Aber das historisch gewachsene Cluster des geballten Humankapitals ist ein Vorteil im globalen Wettbewerb.
Das ist nicht alles. Wenn künftig nicht mehr von vorn herein feststeht, was „trada-ble“ ist, dann kann prinzipiell alles, was einmal weg war, auch wieder zurückgeholt werden. Man muss es nur geschickt anstellen. Der spanische Modekonzern Zara ist ein gutes Beispiel (siehe S. 26 ff.). Weil es zur Geschäftsidee von Zara gehört, jeweils schleunigst die neueste Mode der Mailänder oder Pariser Schauen für die Teenies zu günstigsten Preisen feil zu bieten, scheidet Asien als Produktionsstandort der Zara-Collektion aus. Denn es würde viel zu lange dauern, die Kleider von Vietnam nach Europa zu schiffen. Es müssen eben noch ein paar andere Selbstverständlichkeiten unseres Wissens über die Globalisierung über Bord geworfen werden. Der Satz, Distanz spiele keine Rolle, zählt offenbar auch dazu.
… und was wird aus den Deutschen?
Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten leben die Deutschen immer noch auf einer Insel der Seligen. Es geht ihnen so gut wie noch nie in der Geschichte. „Die Mittelschicht rutscht keineswegs ab“, sagt Gerd G. Wagner, Direktor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Wagner hat das wohl beste empirische Datenmaterial über die ökonomische und soziale Lage der Deutschen und über die Verteilung der Einkommen zur Verfügung. Danach ist klar: Teilt man die Menschen in fünf Bevölkerungsschichten ein (Quintile), so entfällt auf die mittlere Gruppe seit Jahren ein konstanter Einkommensanteil von 18 Prozent. Wachsende Einkommensungleichheit ist nicht unser größtes Problem.4 Doch auch hierzulande gilt: Die Aufstiegsgeschichten funktionieren nicht mehr so wie früher. Die Erfahrung, dass höhere Bildung fraglos einen sicheren Arbeitsplatz garantiert – Grundüberzeugung der Nachkriegsgeneration –, verliert an Überzeugungskraft. „Der Glaube an die sozialen Aufstiegschancen ist in Deutschland zu gering“, sagt Renate Köcher, Chefin des Allensbacher Instituts für Demoskopie.
Tatsächlich tut sich seit geraumer Zeit eine Kluft auf zwischen Studienanfängern und Absolventen. Während sich die Anfängerquote zwischen Mitte der siebziger und Mitte der neunziger Jahre verdoppelte, stagniert die Zahl jener, die ein Examen machen, bei ungefähr neun Prozent eines Jahrgangs. Der Bildungsgewinn durch den Zuwachs der Abiturienten versickert. Diese Erfahrungen können zumindest teilweise das Paradox auflösen, warum es der „Mitte“ heute so gut geht wie noch nie und sie doch zugleich überaus unglücklich ist. Denn für die nachrückende Generation („Generation Praktikum“) wird der Zugang zur Mitte schwieriger, weswegen Eltern sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Zugleich schrumpfen die Einkommensdifferenzen nach unten, was den Status der Mitte bedroht, während der Abstand nach oben („die Boni und Aktienoptionen der Reichen“) größer wird.
Daraus folgt: Nicht die Mittelschichten sind bedroht. Im Gegenteil: Die Mittelschichten sind stabil, aber der Zugang zu ihnen wird immer schwerer. Solche Auflösungserscheinung an den Rändern haben Folgen für die soziale Mobilität. „Junge Menschen sehen sich einer Erosion der relativen Löhne auf allen Qualifikationsebenen gegenüber“, schreibt der Altmeister der europäischen Sozialstaatsforschung, Gosta Esping Anderson. Das erklärt auch, warum in vielen Umfragen die Angst der Menschen sich vor allem auf die Zukunftsaussichten der Kinder bezieht. Auf die Frage nach den Perspektiven derjenigen, die heute im Kindesalter sind, antworten nach einer gerade veröffentlichten Umfrage der Beratergruppe für Europäische Politik der Europäischen Union nur 17 Prozent, dass diese Altersgruppe es leichter haben werde als sie selbst. Fast zwei Drittel – 64 Prozent – sind hingegen der Ansicht, dass es die junge Generation schwerer haben werde als sie selbst.5
Wenn es stimmt, dass die Lage der europäischen Mittelschichten – anders als die Abstiegsängste glauben machen wollen – stabil, der Zugang zu diesen Schichten aber immer schwieriger ist, dann geht es hierzulande gerade nicht darum, die sozialen Absicherungen dieser Schicht zu zementieren. Im Gegenteil: Der Zugang zur gesellschaftlichen Mitte muss erleichtert werden, was nur denkbar ist, wenn die Privilegien der Mittelschichten gelockert werden. Der Bestandsschutz, den Normalarbeitsverhältnisse hierzulande immer noch genießen (kartellierte Tariflöhne, Kündigungsschutz etc.), muss gelockert werden, um die Mittelschichten globalisierungsfähig zu machen. Das ganze Inventar der von Ökonomen vorgeschlagenen Instrumente zur Liberalisierung der Arbeitsmärkte und zur Privatisierung der Sozialvorsorge kann hier zum Einsatz kommen. Doch eines ist gewiss: Eine größere soziale Durchlässigkeit wird zwangsläufig steigende (und nicht fallende) Risiken für diejenigen mitbringen, sie sich unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen zum inneren Kreis der gesellschaftlichen Mitte zählen.
G-8-Gipfel in Heiligendamm
Angela Merkel denkt gefährliche Gedanken, wenn sie an Heiligendamm denkt. „Müsste die Bundesregierung ihren europäischen Partnern und der Staatengemeinschaft nicht etwas bieten, damit die Führungs- und Gastgeberrolle Deutschlands nicht zum turnusmäßigen Ritual verkommt?“ fragt sich die Kanzlerin. „Transatlantische Freihandelszone“, kurz TAFTA, ist das Zauberwort, das Merkel seit geraumer Zeit streut. Das klingt unverfänglich, fast ein wenig bieder, ist auf jeden Fall aber dazu angetan, dass alle Wohlmeinenden auf der Welt zustimmen müssten: Wer wollte etwas dagegen haben, dass Amerika und Europa einander alle Zoll- und Handelsschranken erlassen, zum Nutzen und Wohlstand ihrer Millionen Menschen?
Niemand hätte etwas dagegen, wäre da nicht eine ziemlich unappetitliche Kehrseite: Weltkrieg um Wohlstand, heißt der Kampfruf der TAFTA-Freunde. Die transatlantische Freihandelszone soll zwischen Europa und Amerika als Freiheitszone fungieren, nach außen (sprich: Richtung Asien) aber als Festung: Händler und Investoren aus Staaten, die sich westlichen Werten verweigern, sie gar mit Füßen treten, dürften nicht auch noch mit Zollpräferenzen verwöhnt werden. Länder, die freie Gewerkschaften verbieten, Kinderarbeit dulden oder Umweltstandards ignorieren, sollen vom Freihandel ausgeschlossen werden. Das kommt jenen Rezepten nahe, welche auch Dani Rodrik empfiehlt. Damit ist klar, was sich hinter dem Freihandelspathos verbirgt: der moralisch camouflierte Aufruf zum Protektionismus. Merkels Boten leugnen das zwar nach Kräften, weil sie wissen, dass das Wort Protektionismus hierzulande einen schlechten Klang hat und Freihandel viel sympathischer klingt. Aber logisch ist der Protektionismus die zwingende Konsequenz ihres Kriegsgeschreis.
Tobt denn tatsächlich in der Welt ein Krieg um Wohlstand? Ist eine strategische Handelspolitik (vulgo: Protektionismus) wirklich eine gute Idee? Nein. Gewiss, das Kriegsszenario bedient tief sitzende europäische und amerikanische Ängste. Doch schon das Bild ist schief. Um Länder kann man Krieg führen. Aber um den Wohlstand doch nur dann, wenn des einen Gewinn des anderen Verlust wäre. Wohlstand ist aber kein Nullsummenspiel. Sonst hätten nicht so viele Länder der Welt seit dem späten 19. Jahrhundert so ungeheuer reich werden können. Tatsächlich wird die TAFTA-Idee weder der amerikanischen noch der europäischen Situation gerecht. Ein neuer Protektionismus, wie immer er sich verkleidet, würde zuallererst den Verbrauchern der reichen Länder schaden. Denn sie müssten, zum moralisch motivierten Schutz ihrer Arbeitsplätze, künftig höhere Preise für ihre Waren zahlen. Ob damit wirklich die Arbeitsplätze geschützt würden, darf bezweifelt werden.
Allzu lange hat der Westen die Dimension der Globalisierung unterschätzt. Doch er wird sich der neuen Situation nur dann anpassen, wenn er seine eigene Innovationskraft erhält. Was das bedeuten kann, zeigen nicht nur die Bildungsindustrie Amerikas, sondern auch der Maschinenbau oder die Medizintechnik in Deutschland: Getreu dem Pfad erfolgreicher Ingenieurskunst beweisen deutsche Mittelständler, dass sie mit ihren Produkten nicht nur international konkurrenzfähig sind, sondern häufig auch Weltmarktführer. Sie brauchen keine geschlossenen, sondern offene Märkte. Sie sind darauf angewiesen, dass die soziale Mobilität nicht leidet, und sie nähmen Schaden, wenn sich die Mittelschichten hierzulande, vermeintlich von Abstiegsangst bedroht, weiter abkapselten. Sollten die Propheten der Defensive sich durchsetzen und die neuen Theoretiker des abgekapselten Freihandels (TAFTA) die Oberhand gewinnen, dann müssen wir uns wirklich Sorgen machen. Aber auch nur dann. Angela Merkel beruft sich zu Recht auf den amerikanischen Gründervater Benjamin Franklin: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“
Dr. RAINER HANK, geb. 1953, ist Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
- 1Alan Blinder: Offshoring. The next Industrial Revolution, Foreign Affairs, März/April 2006.
- 2Suzanne Berger: How we Compete. What Companies around the World are doing to make it in today’s Global Economy, MIT-Press Cambridge/Mass. 2006.
- 3Der Genfer Ökonom Richard Baldwin spricht von der „zweiten großen Entflechtung“ („second great unbundling“): Globalization. The Great unbundling(s), www.tinyurl.com/2ol2n8.
- 4Herbert-Quandt-Stiftung: Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland, Frankfurt 2007.
- 5Roger Liddle und Fréderic Lerais: Soziale Wirklichkeit in Europa, Konsultationspapier des Beratergremiums für Europäische Politik, März 2007 (http://ec.europa.eu/citizens_agenda/social_reality_stocktaking/docs/bac…).
Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 8 - 17.