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01. Juli 2005

Kaukasischer Teufelskreis

Der Dauerkonflikt in Tschetschenien zerstört die ganze Region

Russlands Krieg in Tschetschenien ist zu einem blutigen Drama geworden, bei dem alle Konfliktparteien den Staat ausplündern und Gewalt immer mehr zum Selbstzweck wird. Die anfangs klaren Fronten sind verwischt, die Gegner bekämpfen sich zwar, kooperieren aber auch. Den nordkaukasischen Nachbarrepubliken droht eine ähnliche Entwicklung. Der Westen sollte wissen: Nur der Kreml kann den Kaukasus befrieden. Moskau muss seine Politik grundsätzlich ändern.

Das Jahr 2005 hat den russischen Waffen im Nordkaukasus viele Siege gebracht. Der bisher größte Erfolg war die „Vernichtung“ des Rebellenführers Aslan Maschadow. Am 8. März 2005 präsentierte das Staatsfernsehen die halbnackte Leiche des tschetschenischen Untergrundpräsidenten, den russische Geheimdienste und Spezialeinheiten fünf Jahre lang vergeblich gejagt hatten. Seit Anfang des Jahres scheint die russische Taktik endlich zu greifen: Fast wöchentlich meldet Moskau neue Erfolge. „Bojewiki“, Untergrundkämpfer, werden in Wohnhäusern gestellt und nach heftigem Widerstand mit Hilfe des Einsatzes schwerer Waffen vernichtet. Allerdings werden diese Häuserschlachten meist nicht in Tschetschenien geschlagen, sondern in den Nachbarrepubliken, in Dagestan, Inguschetien oder Kabardino-Balkarien.

Seit zehn Jahren und fünf Monaten herrscht in Tschetschenien Gewalt. Gewalt, die zum Selbstzweck geworden ist, sich reproduziert, expandiert. Tschetschenien ist das Epizentrum einer Katastrophe, die inzwischen den gesamten Nordkaukasus, aber auch Russland selbst bedroht. Ein chronischer Regionalkonflikt mit einem wachsenden Potenzial flächenmäßiger Ausweitung. Oder einfach der kaukasische Teufelskreis.

Der erste Tschetschenien-Krieg begann im Dezember 1994 mit dem Einmarsch russischer Truppen im rebellierenden Tschetschenien und endete im August 1994 mit ihrem Abzug nach einer blutigen militärischen Blamage. Er kostete 8500 russische Besatzer das Leben, 52 000 wurden verwundet.1 Auf der Gegenseite starben 50 000 Tschetschenen, meist Zivilisten.2 Der zweite Tschetschenien-Krieg, von Moskau als „antiterroristische Operation“ ausgerufen, begann im Oktober 1999. Nach offiziellen Angaben kamen bisher über 5000 „Federaly“, Soldaten der Armee und des Innenministeriums, sowie Milizionäre ums Leben, das Komitee der Soldatenmütter beziffert die Verluste allerdings auf das Doppelte. Außerdem starben 10 000 bis 20 000 Tschetschenen, wiederum in der Mehrzahl Zivilisten; etwa 5000 verschwanden.3 Von 1,1 Millionen Einwohnern Tschetscheniens floh schätzungsweise die Hälfte aus ihrer Heimat.

Offene Feldschlachten werden nicht mehr geführt, doch gemordet wird weiter. Den Rebellen fehlt inzwischen die Kraft für groß angelegte Hinterhalte auf russische Kolonnen, die Federaly verüben keine Massaker mehr wie zu Beginn des Krieges. Aber weiterhin werden fast täglich erschossene, erschlagene, verstümmelte Menschen begraben, die Leichen russischer Federaly, prorussischer Beamter, berüchtigter oder vermeintlicher Bojewiki, ihrer Helfershelfer oder einfacher Zivilisten. Oft ist unklar, wer sie getötet hat und warum. Laut Wladimir Lukin, dem russischen Menschenrechtsbeauftragten, verschwanden in Tschetschenien im Jahr 2004 täglich vier Menschen.4 Aber auch hier ist oft völlig unklar, wer dahinter steckt: Federaly, die Milizen des Vizepräsidenten Ramsan Kadyrow, Bojewiki oder einfach Kidnapper. Das staatliche Gewaltmonopol ist soviel wert wie eine Handgranate, die auf dem Schwarzmarkt der tschetschenischen Hauptstadt Grosny 30 Rubel, knapp 80 Cent kostet.

Verwischte Fronten

Die Gewalt ist diffus geworden. Anfangs bekriegten sich zwei verfeindete, klar unterscheidbare Kräfte: Auf der einen Seite die Federaly und eine uniformierte Minderheit prorussischer Tschetschenen, auf der anderen Seite die antirussischen Separatisten. Inzwischen sind beide Fronten aufgesplittert, die neuen Subjekte dieses Krieges bekämpfen sich mal erbittert, mal konkurrieren sie, mal kooperieren sie gar.

Der ideologische Kampfauftrag der russischen Federaly, 55 000 bis 70 000 Mann,5 und ihrer tschetschenischen Hilftruppen lautet: Die „Terroristen“ vernichten, die tschetschenischen Zivilisten schützen. Aber ihre realen Ziele divergieren. Da gibt es die „Specnasowzy“ der Spezialeinheiten, Berufskrieger mit elitärem Korpsgeist, die nur zu konkreten Kampfeinsätzen einfliegen und diese professionell und mutig ausführen. Aber sie sind die Ausnahme. Die Masse der Federaly sind „Kontraktniky“, mehr oder weniger freiwillige Zeitsoldaten und Milizionäre. Reales Ziel: Tschetschenien überleben und Geld mit nach Hause bringen. Taktik: Sich hinter Straßensperren verschanzen und dafür Schmiergeld kassieren, dass man friedliche Bürger, aber auch schwerbewaffnete Bojewiki passieren lässt. Man verkauft Munition an den Feind, nimmt junge Tschetschenen als vermeintliche Terroristen fest, damit deren Verwandte sie oder schlimmstenfalls ihre Leichen freikaufen, kassiert auch für das freie Geleit schwarz transportierten Öls.

Dazu kommen Geheimdienstler und Kriminalpolizisten, die Tschetschenien in Dutzenden konkurrierender Ermittlungsorgane bearbeiten. Reales Ziel: Karriere machen. Taktik: „Ermittlungserfolge“ mit allen Mitteln erzwingen, auch mit Elektroschocks und Nagelscheren.

Die tschetschenischen Milizen zerfallen in Dutzende bewaffneter Trupps, meist organisiert nach den etwa 150 verwandtschaftlich-landsmannschaftlichen Stämmen Tschetscheniens. Reales Ziel: Das Überleben der Familie sichern (das gilt oft auch für Verwandte, die bei den Rebellen kämpfen), wenn möglich Macht und Reichtum des eigenen Stammes steigern. Am mächtigsten ist zurzeit die Gefolgschaft von Vizepremier Kadyrow. Kadyrow kommandiert etwa 6000 Kämpfer, er und sein Klan wollen Tschetschenien politisch und wirtschaftlich beherrschen. Taktik: Rebellen und ihre Verwandten brutal verfolgen, aber Überläufer rekrutieren, um die eigene Streitmacht zu vergrößern und ansonsten Kremltreue demonstrieren.

Der Kadyrow-Klan hat den illegalen Handel mit tschetschenischem Öl quasi monopolisiert.6 Es gilt als offenes Geheimnis, dass er für die Förderung und den Transport des Öls den Federaly, aber ebenso auch den Rebellen Schutzgeld zahlt.

Andere Tschetschenen, die schon im ersten Krieg auf Seiten der Federaly standen, betrachten Kadyrow, der damals gegen die Russen kämpfte, als Verräter. Andererseits halten auch sie oft Kontakt zu den Rebellen. Und unabhängig von jeder Stammeszugehörigkeit gibt es immer wieder Fälle, in denen tschetschenische Milizen Zivilisten mit Waffengewalt gegen Federaly verteidigen. Russische Sicherheitsleute wiederum gehen davon aus, dass etwa 30 Prozent ihrer tschetschenischen Kollegen mit den Rebellen gemeinsame Sache machen.7 Weder liebt noch vertraut man sich.

Aber auch die Front der Bojewiki ist zersplittert. Früher unterstanden sie formal Aslan Maschadow, der 1996 zum tschetschenischen Präsidenten gewählt wurde. Er galt bis zu seinem Tod als „legitimer“ Anführer des Widerstands. Faktisch jedoch operierten schon damals Dutzende einzelner Banden auf eigene Faust. Nach russischen Schätzungen besteht der Untergrund nur noch aus 1200 bis 1500 Kämpfern.8 Aber man kann annehmen, dass jederzeit 5000 bis 10 000 „Teilzeitpartisanen“ bereit sind, zu den Waffen zu greifen. Ursprünglich war der ideologische Kampfauftrag der Bojewiki die Verteidigung der tschetschenischen Selbstständigkeit. Im ersten Tschetschenien-Krieg gebrauchte man die Begriffe „Rebellen“ und „Unabhängigkeitskämpfer“ noch synonym. Aber nachdem die von 1996 bis 1999 praktizierte Souveränität im Chaos geendet hatte, war die Parole vom Separatismus im zweiten Tschetschenien-Krieg von Anfang an zweifelhaft; viele Feldkommandeure liefen mit ihrem Gefolge zu den Russen über. Die Taktik der verbliebenen Separatisten: militärische Nadelstiche und Verhandlungsangebote. Maschadow bat Moskau immer wieder vergeblich an den Verhandlungstisch, stellte dabei den Verbleib Tschetscheniens in der Russischen Föderation und sogar die Stationierung russischer Truppen zur Diskussion. Maschadows Krieg ist also politisch längst zwecklos gewesen. Bittere Logik: Er fiel während der Verlängerungsfrist einer von ihm einseitig ausgerufenen Waffenruhe, an die sich auch die Bojewiki nicht hielten. Erst wenige Tage zuvor hatten sie bei einem Feuergefecht in Grosny  neun Federaly getötet.

Als Galionsfigur der Rebellen ist Schamil Bassajew übrig geblieben. Bassajew gilt den Russen als Terrorist Nr. 1, er selbst hat sich zum Drahtzieher immer brutalerer Terrorakte erklärt: der Geiseldramen im Moskauer Nordost-Musicaltheater im Oktober 2002 und in der Mittelschule im ossetischen Beslan im September 2004, aber auch als Pate der Schachiden, die seit 2001 mit ihren Selbstmordattentaten im Kaukasus und auch in Russland Angst und Schrecken verbreiten. Seine Anhängerschaft rekrutiert sich aus „Wahhabiten“, den meist jungen und sozial schwachen Anhängern einer vulgär-islamischen Bewegung. Erklärtes Ziel: Heiliger Krieg für einen freien, gerechten, islamischen Großkaukasus. Bassajew verkürzt den Islam auf primitive und utopische Maximalforderungen, er gilt als zynischer Desperado. Taktik: Terroranschläge außerhalb Tschetscheniens mit möglichst vielen Toten und großem Medienecho. Bassajew werden Kontakte zum russischen Geheimdienst FSB unterstellt, einige russische Beobachter halten die Mitwisserschaft, ja Hilfe der Sicherheitsorgane bei Bassajews terroristischen Husarenstücken für denkbar. Jedenfalls profitiert er wie andere Feldkommandeure von dem blutigen Frühstückskartell mit Kadyrow und den Federaly, er kontrolliert auch Finanzhilfen aus der islamischen Welt sowie der tschetschenischen Diaspora in Russland, Europa und der Türkei.

Aber Bassajew und seine Wahhabiten sind auch vielen antirussischen Tschetschenen verhasst. Die patriarchalische tschetschenische Gesellschaft praktiziert seit jeher einen weltlich ausgerichteten Islam und lebt nach einem archaischen, aber strengen Gewohnheitsrecht, gegen das Bassajews junge Wilde nur zu oft verstoßen. Und es gibt in Tschetschenien hunderte Kleinkrieger, die Federaly, aber auch Bojewiki aus ganz privaten Gründen jagen. Eine Vielzahl von Morden an Milizionären und Beamten, aber auch so genannte Spezialoperationen gegen Bandenhäuptlinge gehen auf das Konto von Tschetschenen, die nach dem Gesetz der Berge gemarterte, getötete oder verschwundene Verwandte rächen. Federaly, Kadyrowzy, Geheimdienstler, „gemäßigte“ und wahhabitische Bojewiki töten, betrügen sich, treiben Handel. Es geht um Waffen, Öl und kampffähige Männer. Aber auch um die Ressourcen des Staates, um Dienstpässe, Milizabzeichen, und vor allem staatliche Finanzen. Sie verschwinden in privaten Taschen oder in absurden Prestigeobjekten wie etwa einem Aquapark in Grosny, zu dem Ramsan Kadyrow Anfang des Jahres gemeinsam mit dem Moskauer Partygirl Xenja Sobtschak den Grundstein legte. Korrup-tion und brutale Willkür drängen die traumatisierte Zivilbevölkerung weiter in Flucht oder Widerstand, der Kreml scheint sich mit dem blutigen Status quo in Tschetschenien arrangiert zu haben.

Eskalation der Gewalt

Seit Beginn des Jahres schlagen die russischen Antiterrorkrieger immer häufiger außerhalb Tschetscheniens zu. Es begann am 8. Januar, als 150 Männer ein Haus im inguschetischen Nasran umstellten, in dem sich fünf Bojewiki verbarrikadiert hatten. Das Szenario wiederholte sich im dagestanischen Machatschkala, in Naltschik, der Hauptstadt von Kabardino-Balkarien. Insgesamt töteten die Sicherheitskräfte seitdem bei Operationen außerhalb Tschetscheniens über 50 mutmaßliche Terroristen. Man kreiste die Bojewiki ein, belagerte sie mit Schützenpanzern, Granat- und Flammenwerfern, walzte beim Sturm ganze Häuser flach. Antiterror – möglichst lautstark.

Aber auch die Terroristen verstecken sich nicht. In der Vielvölkerrepublik Dagestan herrscht seit Jahren eine Blutrachefehde zwischen Sicherheitsorganen und starken wahhabitischen Gemeinden. Mal verschwinden Wahhabiten, mal erschießen Heckenschützen Milizionäre. 40 Polizeibeamte starben allein in Dagestan im Verlauf des vergangenes Jahres. In Kabardino-Balkarien raubten Unbekannte im Dezember die Waffenkammer der Drogenpolizei aus, erschossen dabei vier Milizionäre. Und im vergangenen Juni veranstalteten 300 Bojewiki in Inguschetien eine wahre Bartholomäusnacht: Sie töteten 79 Menschen, davon 49 Sicherheitsbeamte. An dem Überfall nahmen auch inguschetische Rebellen teil, allerdings nicht nur aus Sympathie für die ethnisch eng verwandten Tschetschenen. Im Jahr 2002 gewann dort der FSB-General Murat Sjasikow die Wahlen, vom Kreml massiv unterstützt. Seitdem häufen sich Berichte, dass junge Inguschen von der Miliz verschleppt werden. Auch dagestanische Polizisten ermitteln inzwischen nach dem Vorbild ihrer Kollegen in Tschetschenien. „Die Milizionäre foltern und schlagen, weil ihre Vorgesetzten fordern: Erfüll den Plan!“, erklärte ein Polizeigewerkschaftler der Iswestija.9

Bassajews Extremisten provozieren ihrerseits massenhafte Gewalt. Abscheulichstes Beispiel war das nordossetische Beslan. Dort stürmte ein Terrorkommando am 1. September 2004 eine Schule, nahm über 1000 Geiseln, fast alles Frauen und Kinder, 330 von ihnen kamen um. Hinter diesem Blutbad stand offenbar das Ziel, die überwiegend christlichen Osseten gegen ihre inguschetischen Nachbarn aufzuhetzen. Beide Völker sind traditionell verfeindet.

Damals konnten ethnische Revanchepogrome verhindert werden. Aber die russischen Medien befürchten das Schlimmste für den Kaukasus. „Immer heftiger machen extremistische Wahhabitenorganisationen den staatlichen Behörden in der Region ihre Macht streitig“, klagt die Nesawissimaja Gaseta. „Sie arbeiten mit dem tschetschenischen Untergrund zusammen und sind zentral koordiniert.“10

Not fördert Extremismus

Die Bedrohung mag übertrieben sein, aber sie existiert. Ethnisch ist der Nordkaukasus ein Flickenteppich, kulturell, wirtschaftlich und sozial aber ein geschlossener Lebensraum. Es ist bedrohlich, dass das Durchschnittseinkommen in allen Republiken weit unter dem gesamtrussischen Niveau liegt (siehe Grafik). Die faktische Arbeitslosigkeit wird in vielen Regionen auf 70 Prozent geschätzt. Diese Not macht anfällig für den Wahhabismus, zumal bis auf Nordossetien alle Kaukasus-Republiken mehrheitlich islamisch sind. Außer den Tschetschenen wurden auch die Tscherkessen von den Zaren drangsaliert, Inguschen und Balkaren von Stalin deportiert. Alle müssen sich heute von chauvinistischen Russen als „Schwarzärsche“ beschimpfen lassen. Und Jahrhunderte lang zwang ihre Geographie die Kaukasier zu einem Leben fern von den ordnenden Instanzen des Staates. Krieger- und Waffenkult prägen weiter das Selbstbild kaukasischer Männer.

Allerdings bremst der archaische Rahmen dieser Gesellschaft auch ihre Anfälligkeit für Radikalismus. Wie die Tschetschenen denken auch andere Kaukasier weniger nations- oder religionsloyal als familienbewusst, sind Pragmatiker. Außerdem haben sich überall im Kaukasus tschetschenische Flüchtlinge niedergelassen, es gibt wesentlich mehr Informationen über die tatsächliche Lage in Tschetschenien. Die tschetschenischen Schrecken will die Mehrheit der Kaukasier vermeiden. Die Gefahr einer Ausweitung des Brandes existiert, aber sie ist keineswegs zwangsläufig.

Aber die Staatsorgane selbst heizen die Eskalation an. In Kabardino-Balkarien winkt Präsident Walerij Kokow bei jeder Gelegenheit mit einer schwarzen Liste, auf der etwa im vergangenen September 54 „illegale Kämpfer“ und 430 „religiöse Fanatiker“ standen. Wer jung ist und die falsche Moschee besucht, riskiert Gesundheit und Freiheit.

Und wieder geht es um Geld. Anfang der neunziger Jahre studierten einige Dutzend Muslime aus der Republik in arabischen Ländern. Nach ihrer Rückkehr bekamen die jungen Geistlichen Streit mit den älteren, „sowjetischen“  Imamen. Die alten Imame kassierten für ihre rituellen Dienste bei islamischen Heiraten und Beerdigungen Geld und verletzten damit nach Ansicht der Jungen den Koran grob. Aber sie kassierten gut, ein Imam über umgerechnet 3500 Euro im Jahr. Also beschwerten sich die Alten bei der Obrigkeit über den Fanatismus der Jungen. Und seit mit dem Tschetschenien-Krieg die „islamische Gefahr“ ein Thema ist, sucht die Obrigkeit religiöse Fanatiker.

Seit Jahren sperren die Staatsorgane Moscheen zu, im September 2004 etwa waren von sieben Moscheen in der Hauptstadt Naltschik sechs geschlossen. Gläubige und Geistliche beklagen, dass die „Organe“ sie bespitzeln, bedrohen, festnehmen, brutal verprügeln. Oft scheren die Milizionäre ihnen Kreuze auf die Kopfhaut. Ende April zeigte das Staatsfernsehen die Leiche eines mutmaßlichen Terroristen, der bei einer Spezialoperation bei Naltschik zur Strecke gebracht worden sei. Tatsächlich arbeitete der 27-jährige Muchtar Schaschew in einer Baufirma in der Schwarzmeer-Stadt Sotschi und war zu Besuch bei seiner Familie. Nach Aussage von Verwandten war Schaschew keineswegs Terrorist, sondern gläubiger Muslim und ein friedfertiger Mann.

Geschäftsleute in Dagestan erklärten gegenüber Iswestija,11 hohe Beamte inszenierten Anschläge auf sich selbst. Potemkinscher Antiterror also, mit dem die Bosse die Notwendigkeit erhöhter Sicherheitsausgaben demonstrieren. In Kabardino-Balkarien etwa eröffneten außer dem Innenministerum und dem FSB auch die Staatsanwaltschaft und die Steuerpolizei Abteilungen zur Bekämpfung des religiösen Extremismus. Nach Angaben Ruslan Nachuschews, Leiter des Naltschiker Instituts für Islamforschung, stieg die Zahl der Milizionäre in der Republik von 1800 im Jahr 1991 auf 10 0000 heute.

Oder wie Dmitrij Kosak, Putins Generalbevollmächtigter in der Region klagt: „Bei uns beschäftigt sich ein Milizionär im Jahr mit 0,3 bis 2,7 Verbrechen. Während in Israel, das es mit einer vergleichbaren Terrorbedrohung zu tun hat, auf einen Polizisten 25 Verbrechen kommen.“12 Kosak gilt als integer, einer der wenigen Rechtsstaatler unter den Vertrauten Putins. Aber es bräuchte tausend Antikorruptionäre, um die kaukasische Beamtenschaft umzukrempeln.

Die Organe wuchern, Korruption und Vetternwirtschaft blühen. Ämter gelten als das beste Business, Lehrstühle, Diplome und Ämter sind käuflich, aber teuer. Um Richter zu werden, muss auch ein qualifizierter Jurist 30 000 Dollar hinlegen. „Die Korruption ist groß. Extremismus sehe ich nicht bei uns“, sagt der kabardinische Bankier Kanschubi Arschanow, Vorsitzender des Businessklubs von Naltschik. „Der Kampf gegen den Extremismus dient dazu, Moskau und das Volk von den eigenen Vergehen abzulenken.“

Wie in Tschetschenien sind der Staat und seine Institutionen zur Ressource korrupter oder krimineller Interessen geworden. Die Regionalregime liefern tote oder geständige Terroristen quasi im Tausch für die politische und finanzielle Unterstützung des Kremls. Der demonstriert die Streckenmeldungen der gesamtrussischen Öffentlichkeit wiederum mit ähnlichen Hintergedanken wie die Leiche Maschadows. „Es ist anzunehmen, dass Maschadows Tod kein Zufallserfolg war, sondern das Ergebnis einer Entscheidung auf höchster Ebene“, mutmaßt die Iswestija.13 Wenige Tage zuvor hatte Wladimir Putin dem zuständigen Minister vor laufenden TV-Kameras zugerufen: „Härter! Packt sie (die Terroristen) härter an!“

Mit Härte im Tschetschenien-Krieg gewann Putin als Premier im Sommer 1999 die Sympathie der russischen Durchschnittswähler. Diese Sympathien will er offenbar auffrischen. Zumal nach der Kürzung vieler Sozialleistungen Anfang des Jahres die Zustimmungsraten zu Putins Politik ins Wackeln gerieten. Auch der Kreml instrumentalisiert den Antiterror für keineswegs nationale Interessen: Seine Tschetschenien-Politik erinnert – wie in vielen anderen Politikbereichen – an die von Boris Jelzin; sie wird weniger durch strategische Zielstrebigkeit als durch taktischen Opportunismus definiert.

In der kaukasischen Praxis aber bedeutet Härte gegen die Terroristen mehr „Fahndungs“-, also Verfolgungsdruck auf muslimische Gläubige. Diese Härte entfremdet die muslimischen Mehrheiten dort weiter von Russland. Je mehr junge Männer verhaftet, verprügelt, gedemütigt werden, umso heftiger beschädigen die russischen Soldaten ihr kaukasisches Ehrgefühl. Anfang der neunziger Jahre kämpften außer Tschetschenen und Inguschen auch hunderte Kabardiner und Balkaren als Freiwillige auf Seiten der Abchasen gegen die Georgier. Wenn Moskau weiter „Härte“ demonstriert, könnten sie irgendwann wirklich gemeinsam Front gegen den Norden machen.

Nach Erzählungen tschetschenischer Flüchtlinge in Moskau drängen viele junge Tschetschenen, die statt Schule das Handwerk der Gewalt erlernt haben, nach Russland. Neue Selbstmordattentate drohen, aber auch andere Verbrechen. Vergangenes Jahr verzeichnete die Kriminalstatistik 13,9 Prozent mehr Raub, 27,9 Prozent mehr Diebstahl. Andererseits verweisen Menschenrechtler darauf, dass Milizionäre am Ural oder in Sibirien bei Razzien immer brutaler gegen Verdächtige und Unbeteiligte vorgehen und ihre Opfer mit „tschetschenischen“ Methoden bearbeiten. „Ich habe zwei Kriege hinter mir und kann mit dir machen, was ich will“, verkündete im November 2004 ein Zivilbeamter einem vermeintlichen Wirtschaftskriminellen in der Provinzstadt Beschezk, bevor er ihm zwei Bleistifte in die Nasenlöcher rammte. Der Radius des Teufelskreises reicht inzwischen von Tschetschenien über den Kaukasus nach ganz Russland.

Was kann der Westen tun?

Westliche Politiker, die den Tschetschenien-Konflikt lösen wollen, sollten sich bewusst sein, dass sie es mit einem allrussischen Problem zu tun haben. So ist es schlichtweg sinnlos, darauf zu drängen, den Konflikt durch die Entsendung multinationaler Be-obachter und Friedenstruppen nach Tschetschenien zu internationalisieren. Weder die Führung noch die Öffentlichkeit Russlands werden sich solch einen Eingriff in die eigene Souveränität bieten lassen.

Abgesehen davon gibt es zu viele gewalttätige, aber gut getarnte Interessen in der Region. Ausländische Friedenstifter, auch bewaffnete, wären hier machtlos. Auch das verstärkte deutsche Engagement, das mit Wladimir Putin nach seinem letzten Besuch in Deutschland besprochen wurde, krankt an Naivität. Deutsches Beamthenethos lässt sich nicht als Know-how transferieren, deutsche Investitionen dort erwartet angesichts der wuchernden Korruption vor Ort das gleiche Schicksal wie russische Subventionen: Sie werden zum Großteil verschwinden. Sanktionen des Westens, etwa ein Hinauswurf Russlands aus der G-8, helfen Tschetschenien noch weniger, sondern werden die russische Position nur verhärten. Zumal fraglich ist, ob die Führer der freien Welt die Moral haben, um für Tschetschenien den Kalten Krieg neu auszurufen.

Nur der Kreml kann den Kaukasus befrieden. Moskau muss seine Politik in der Region grundsätzlich ändern und das Gewaltmonopol des Staates zurückerobern. Insofern ist tatsächlich Härte gefragt: Gegen Bassajew und die wirklichen Terroristen, gegen korrupte oder folternde Milizionäre, gegen alle, die sich nicht an die Spielregeln der russischen Verfassung halten. Die Bevölkerung sehnt sich in Tschetschenen und im Kaukasus – wie in ganz Russland – nach einer Herrschaft des Gesetzes. Es ist ein bitteres Parodox, dass der russische Staat auch unter dem Juristen und Sicherheitsdienstler Putin nicht stark genug ist, um diese durchzusetzen.

1 Moscow Times, 15.12.2004.

2 Shurnal, 22.11.2004.

3 Ebd.

4 Human Right Watch, www.hrw.ru.

5 Kommersant Wlast, 6.12.2004.

6 Iswestija, 8.12.2004.

7 Ebd., 6.12.2004.

8 Ebd.

9 Iswestija,5.7.2005.

10 Nesawissimaja Gaseta, 2.4.2005.

11 Iswestija, 5.7.2005.

12 Ebd., 21.1.2005.

13 Iswestija, 9.3.2005.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2005, S. 94 - 102

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