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01. Sep 2008

Hetze für den Hausgebrauch

Russlands Medien über Georgien: zwischen Propaganda und Psychotherapie

Bei der kremlnahen Presse herrscht Festtagsstimmung. Mit dem „Kaukasischen Fünftagekrieg“ habe Russland eine erfolgreiche militärische Antwort auf den Versuch der Georgier gegeben, ihre Rebellenprovinz Südossetien per Blitzkrieg zurückzuerobern, so der Chefredakteur des Wochenmagazins Profil, Michail Leontjew (18.8.2008). Die fünf Punkte, die Leontjew anschließend formuliert, lesen sich wie eine Kriegserklärung an den Westen aus der Zeit des Kalten Krieges. „Erstens: In der Welt ist – real und nicht virtuell – eine selbständig handelnde Macht aufgetaucht … Russland ist in die (überschaubare) Reihe der handelnden Akteure auf die Weltbühne zurückgekehrt.“ Damit, so der Autor, habe der Westen nie und nimmer gerechnet.

„Zweitens hat sich der Konflikt mit dem Westen, genauer mit Amerika und seinen Satellitenstaaten, zum ersten Mal von der rhetorischen auf die reale Ebene verlagert.“ Zwar habe sich außer „zeremoniell-demonstrativen Schritten“ noch nichts geändert. Dennoch sei es an der Zeit, die den Tatbestand des Verrats erfüllenden russischen Investitionen in Amerika zu stoppen. Damit spielt der Autor vor allem auf die Milliarden von Dollarreserven des russischen Stabilisierungsfonds an, die auf Konten in den USA liegen. Umgekehrt sei der „so genannte ,Westen‘“ vom neuen russischen Schneid eingeschüchtert, so dass sich die Gefahr eines militärischen Zusammenstoßes in Grenzen halte. „Man kann das Kalten Krieg nennen oder auch Kalten Frieden.“ Aber davon werde es nicht wärmer.

Angsthasen und Aggressoren

Und dann ist da noch der „angeblich verlorene Informationskrieg“. Es sei mittlerweile „langweilig, zu wiederholen, dass es unmöglich ist, einen Informationskrieg auf dem Gebiet des realen Gegners zu gewinnen.“ Eine historische Ausnahme erblickt Leontjew, der ganz offensichtlich die Weltöffentlichkeit als realen Gegenspieler Russlands sieht, allein in der späten, schon deutlich angeschlagenen Sowjetunion. Und noch sei der NATO-Block nicht marode genug, um das gleiche Schicksal zu erleiden. Immerhin sei die psychologische Wirkung der Tatsache nicht zu unterschätzen, dass der georgische „Feind“ aus purer Angst davongelaufen sei. „Soll mal einer sagen, solch eine Angst sei nicht von Bedeutung, was den militärischen Erfolg betrifft, vor allem aber, was Abschreckung und damit die eigene Sicherheit angeht.“ Dass sich große Teile der georgischen Truppen in Wirklichkeit erst nach erbitterten Kämpfen aus Zchinwali und seiner Umgebung zurückzogen, entgeht der Aufmerksamkeit des Autors. Ebenso, dass sie sich dann sofort bis Tiflis zurückwichen, offenbar mit dem Kalkül, die nachstoßenden Russen als Aggressoren beschimpfen zu können.

Nicht ganz faktensicher präsentiert sich Leontjew dann auch beim Thema „unserer angeblichen ,Isolation‘“. Natürlich habe die „osteuropäische Kloake“ keine Sekunde geschwiegen. Damit sind vor allem die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine gemeint. Aber dafür habe der türkische Ministerpräsident Erdogan Moskau einen Blitzbesuch abgestattet. „Ein Beweis dafür, dass die Türkei in Russland einen realen Akteur erkannt hat … Und das ist erst der Anfang.“ Die Reisen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Moskau und dann nach Tiflis sind beim Profil offenbar dem Redaktionsschluss zum Opfer gefallen.

„Was unsere realen militärisch--politischen Verbündeten im Vertrag über kollektive Sicherheit angeht“, so Leontjew fünftens und abschließend, könne man verstehen, dass diese sich während der Olympiade nur zurückhaltend geäußert hätten. Das gelte erst recht für China. China werde es den Amerikanern gewiss noch heimzahlen, vermutet der Autor in der ihm eigenen Logik, dass die ihm mittels Georgien die Eröffnungsfeier der Spiele in Peking verdorben hätten. Für Russland gelte es, sich dem Reich der Mitte als dem logischen strategischen Partner wirtschaftlich und militärisch-politisch weiter zu nähern. „Was übrigens dem moralisch-ethischen Klima der Weltpolitik enorm nützen wird, das die Amerikaner mit ihren transatlantischen Unverschämtheiten so verdorben haben.“

Was Leontjew betreibt, ist Hetze für den inneren Gebrauch. Durch derartige propagandistische Tiraden disqualifiziert sich Russland aber immer wieder – selbst dann, wenn es eigentlich im Recht wäre.

Fragwürdige Ziele

Nichts Gutes für die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen erwartet auch die liberale Wochenzeitung Ogonjok. Unter dem Titel „Ein heiß servierter Krieg“ schreibt Dmitrij Furman in der Ausgabe vom 18. August, der Konflikt mit Georgien sei die „heiße Phase eines neuen Kalten Krieges“. Auch wenn viele Details erst Jahre später ans Licht der Öffentlichkeit kommen würden, so könne man über die entscheidende Frage nach den Gründen des Krieges schon jetzt diskutieren.

Die georgischen Ziele seien offensichtlich: das separatistische Südossetien zurückzuerobern und dann, so weit wie möglich, auch das separatistische Abchasien. Russlands Ziele seien schwerer zu fassen. Ebenso unklar bleibe, warum Russland einen Kompromiss der Separatisten in Abchasien und Südossetien mit Georgien verhindern wollte. „Wollten wir ihre Unabhängigkeit? Wollten wir, dass sie sich Russland anschließen? Wollten wir verhindern, dass Georgien der NATO beitritt? Wollten wir Saakaschwili stürzen? Oder Georgien dafür bestrafen, dass es seine Kräfte überschätzt, dass es nach Westen drängt? Oder ist es einfach angenehm, wenn man uns für ganze Kerle hält?“ Das alles seien fragwürdige Ziele.

Auf der Suche nach den wahren Gründen gräbt Furman tief in der nationalen Psyche: „Der wichtigste und tiefste Grund eines Konflikts ist die psychologische Bereitschaft zu diesem Konflikt.“ Diese Bereitschaft sei längst vorhanden gewesen, beide Staaten hätten schon lange im Clinch gelegen. Aber Russland habe sich nicht nur über Georgien aufgeregt, sondern auch über alle möglichen anderen Akteure, vor allem über den Westen. Nach den nicht lange andauernden „Flitterwochen“ mit dem Westen Anfang der neunziger Jahre habe Russland begonnen, den Kalten Krieg zu modifizieren. So sei es von den demokratischen Werten, die es Anfang der neunziger Jahre ausgerufen habe, Stück für Stück abgerückt  – zurück in Richtung Sowjetunion.

„Je mehr wir die wesentlichen Konturen des Sowjetsystems erneuerten, desto stärker erwachten auch unsere alten sowjetischen Ängste wieder“, diagnostiziert der Autor. „Die späte Sowjetunion handelte oft als Aggressor, aber ihre Aggressivität war defensiv, eine Ausgeburt jener Ängste.“ Der Einmarsch in der Tschechoslowakei sei eine Angstreaktion gewesen, die sich jetzt in kleinerem Maßstab wiederhole. „Wieder fühlen wir uns eingekreist von feindlichen Kräften.“ Aber im Gegensatz zur Sowjetunion mangele es Russland an einer eigenen Ideologie, die es der west-lichen Demokratie entgegenstellen könne. Und seine ideologische Uneindeutigkeit sei der Grund für seine unklaren außenpolitischen Ziele. „Deshalb sind noch viele Krisen wie in Georgien zu erwarten.“

So überzeugend sich Furmans psychologisches Nationalporträt auch liest, er ignoriert wie auch die meisten westlichen Kommentatoren die Wirklichkeit in Georgien: Zchinwali 2008 ist keineswegs Prag 1968. Russland – demokratisch oder nicht – schützte hier eine auf Unabhängigkeit drängende ethnische Minderheit gegen die Raketenwerfer der Staatsnation. Bei allen neusowjetischen Ängsten haben die Russen Georgien nicht heftiger bombardiert als die USA und ihre Verbündeten 1999 Serbien bei ihrer Kosovo-Intervention. Und Furman hätte noch hinzufügen können: Damals setzte sich der Westen nicht aufgrund seines demokratischen Wesens oder der besseren völkerrechtlichen Argumente durch, sondern aufgrund seiner erdrückenden militärischen Luftüberlegenheit.

STEFAN SCHOLL lebt als freier Autor  in Twer, Russland.