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01. Apr. 2009

Juristische Jahrhundertpleite

Internationale Presse

Nach dem ergebnislosen Politkowskaja-Prozess lässt Russlands Presse kein gutes Haar an Staatsanwaltschaft und Ermittlern

Russische Strafprozesse enden in der Regel mit Schuldsprüchen. Im Mordfall Anna Politkowskaja kam es nun zu einem überraschenden Freispruch; ein Freispruch freilich, den die Öffentlichkeit keineswegs mit Enthusiasmus aufgenommen hat. Die Kommentare der wichtigsten Zeitungen unmittelbar nach der Urteilsverkündung sprechen für sich. „Ein totales Fiasko“, urteilt etwa das angesehene Wirtschaftsblatt Kommersant. „Der echte Killer muss gefunden werden“, fordert die politisch in der Mitte stehende Vremja Novostej. Von der „Machtlosigkeit“ der Ordnungskräfte spricht die Nesavisimaja Gazeta. „Die Anklage gegen die Beschuldigten“, schreibt sie lakonisch, „ist wie ein Kartenhaus zusammengebrochen.“

Im August 2007 meldeten die Ermittlungsbehörden, sie hätten im Fall der ermordeten Journalistin zehn Tatverdächtige in Russland, der Ukraine und Lettland festgenommen. Eine Meldung, die demonstrieren sollte, wie erfolgreich die Fahnder gearbeitet hatten. Zwar ließ man einige der Festgenommenen wieder laufen. Aber im November 2008 wurde ein Prozess gegen vier Verdächtige eröffnet. Und von Anfang an versicherte die Staatsanwaltschaft, sie habe unwiderlegbare Beweise, dass die Angeklagten an der Tat beteiligt waren.

Am 19. Februar nun sprach ein Moskauer Geschworenengericht alle Angeklagten im Mordfall Politkowskaja frei: die tschetschenischen Brüder Dschabrail und Ibragim Machmudow ebenso wie den ehemaligen Kriminalpolizisten Sergej Chadschikurbanow und den amtierenden FSB-Oberstleutnant Pawel Rjagusow. Es bleibt weiter ein Geheimnis, wer die unbotmäßige Journalistin, eine der im Westen am meisten beachteten Kritikerinnen der Politik Wladimir Putins, im Oktober 2006 im Flur ihres Hauses in Moskau erschossen hat. Die russische Justiz hat oft eine schlechte, aber selten eine solch klägliche Figur gemacht. Und schon lange nicht mehr hat die russische Staats-gewalt so geballte Kritik von den Medien einstecken müssen.

„Dass die Staatsanwaltschaft dem Gericht solch unausgereiftes Material vorgelegt hat“, schreibt der Kommersant, „ist zum Teil durch Konflikte zu erklären, die innerhalb der Institutionen herrschen. Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka war der erste, der sich beim damaligen Präsidenten Wladimir Putin hervortat und erklärte, die unglaubliche Tat sei aufgeklärt. Das geschah Ende August 2007, kurze Zeit, bevor die Staatsanwaltschaft die Untersuchung an eine andere Einrichtung abgab.“ Und weiter zitiert der Kommersant gnadenlos die Worte des obersten russischen Anklägers: „‚Die Organisatoren sind verhaftet, ebenso die Ausführenden und ihre Helfershelfer‘, versicherte Tschajka. ‚Wir haben dieses Verbrechen gemeinsam mit dem Innenministerium aufgeklärt, geholfen haben uns auch die Mitarbeiter des Föderalen Sicherheitsdiensts.‘“ Der Kommersant erinnert auch an andere laute Sprüche. So habe der damalige Präsident Putin auf einer Pressekonferenz im März 2008 erklärt: „Wir werden die ganze Wahrheit herausfinden und die Verbrecher verurteilen lassen. Je eher, desto besser.“ Quintessenz des Kommersant-Artikels: Wie so oft hat die Staatsmacht ein ungelöstes Problem als gelöst zu den Akten legen wollen, ohne tatsächlich damit fertig geworden zu sein.

Eine in Russland übliche Praxis, die auch die Zeitung Wremja Nowostej aufs Korn nimmt. Sie zitiert die Anwälte der Familie Politkowskaja, die die Sinn- und Nutzlosigkeit des Strafverfahrens betonen. „‚Es wurde weder der Killer‘, konstatiert Karina Moskalenko, ‚noch sein Auftraggeber gefunden. (…) Vor Gericht sind die wahren Umstände dieses Verbrechens nicht geklärt worden.‘ Damit haben die Vertreter des Opfers und seiner Hinterbliebenen der Anklage ihr volles Misstrauen ausgesprochen, sich faktisch auf die Seite der Angeklagten gestellt, zumindest formal. In der Geschichte der russischen Gerichtspraxis, die ja reich an Skandalen ist, hat es das, soweit bekannt, noch nie gegeben. Man muss die Niederlage von Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft als vernichtend betrachten.“

Wremja Nowostej zitiert Anna Stawizkaja, eine weitere Anwältin der Politkowskaja-Familie, die erklärt, der Fall habe beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen noch gar nichts vor Gericht verloren. „‚Die Ermittlungen wurden nicht besonders effektiv durchgeführt, das war unsere Position vor und während des Prozesses. Die Beweislage reichte in keiner Weise aus, um Anklage vor Gericht zu erheben‘, erklärte sie. ,Es wäre falsch, jetzt die Geschworenen zu beschimpfen.‘“ Zwar ist Wremja Novostej ebenso wie andere Zeitungen keineswegs von der Unschuld der Angeklagten überzeugt. Aber kaum ein Beobachter des Prozesses versteht, warum die Beziehungen der jungen Tschetschenen zu russischen Kriminalpolizisten, FSB-Offizieren und deren Vorgesetzten nicht gründlicher untersucht wurden.

In einem Artikel mit dem Titel „Justiz der Fehler“ kommentiert die Nesawisimaja Gaseta das Verfahren aus dem Blickwinkel der Kollegen Anna Politkowskajas und lässt  den Vorsitzenden des russischen Journalistenverbandes Wsewolod Bogdanow zu Wort kommen. Man sei „weit entfernt“, so Bogdanow, „von der Euphorie zu Beginn der neunziger Jahre, als man häufig von der Pressefreiheit sprach, als die Massenmedien die Vierte Gewalt genannt wurden. Meiner Meinung nach stellen die Geschehnisse eine Schmach für die Staatsmacht dar.“ Die Moskauer Tageszeitung teilt die Ansicht Bogdanows. „Die Niederlage der Justiz ist auf ihren unglaublichen Dilettantismus zurückzuführen. Die Verteidiger konnten die Schuldbeweise nur allzu leicht demontieren.“ Wobei die Zeitung allerdings unerwähnt lässt, dass in der russischen Strafgerichtspraxis, in der 98 Prozent aller Urteile auf „schuldig“ lauten, auch die besten Verteidiger an dreister Rechtsbeugung zu scheitern pflegen.

Aber die Nesawisimaja Gaseta verweist zu Recht auf einen anderen Missstand: „Das Nichtaufdecken von Straftaten ist in Russland Gewohnheit geworden. Das Land wäre erstaunt gewesen, wenn diesmal das Gegenteil eingetreten wäre. In all diesen Jahren hat man versucht, uns davon zu überzeugen, dass die Lösung der Probleme in einer Neuordnung liegt, in Verwaltungsreformen. Aber es ist offensichtlich, dass die Antwort ganz woanders liegt. Sie hängt mit dem grundlegenden Unverständnis zusammen, das die Justizorgane ihrer eigenen Rolle und ihren Aufgaben entgegenbringen.“ Dann wird die Nesawisimaja Gaseta gesellschaftskritisch: „Man muss hinzufügen, dass die Bürger keine Ansprüche stellen. Auch nicht an die Staatsmacht, von der sie keinerlei Schutz einfordern. Die Leute wollen nicht begreifen, dass sie im gleichen Maße schutzlos sind, wie es die Journalisten in diesem Land sind.“ Fehlende bürgerliche Solidarität und eine kümmerliche Zivilgesellschaft bleiben wunde Punkte, die Russlands Entwicklung zur Demokratie weiter hemmen.

Auch die Nowaja Gaseta, für die Anna Politkowskaja vor allem als Tschetschenien-Reporterin gearbeitet hatte, akzeptiert in einem Leitartikel das Urteil. Wobei sie darauf hinweist, dass solch ein Freispruch viel eher vor einem Geschworenengericht möglich war als vor Berufsrichtern, die in der Regel mehr Wert auf die Argumente der Staatsanwaltschaft als auf geschriebenes Recht legen. Immerhin lautet jede vierte Entscheidung der Geschworenengerichte auf Freispruch. „Die Angeklagten wurden freigesprochen. Nicht weil sie unschuldig sind. Sondern weil die gigantische Polizei- und Gerichtsmaschine des Staates nicht imstande war, ihre Schuld mit legalen Mitteln zu beweisen. (…) Dies ist kein Freispruch. Dies ist ein sehr harter Schuldspruch: Das Land zeigte sich bereit für solcherlei Mordtaten. Aber nicht bereit, die Mörder zu finden und zu bestrafen.“

Laut Nowaja Gaseta leidet das russische Strafrechtssystem nicht nur an der eigenen Inkompetenz. Sondern vor allem daran, dass es längst zur Hilfstruppe der korrupten Exekutive verkommen ist. „Selbst wenn die wenigen Profis in der Masse der Pfuscher, die dieses System bevölkern, anfingen, ihre Arbeit zu tun, würde sich das nicht im Geringsten auf das Resultat auswirken. Weil jedes schwere Verbrechen mit öffentlicher Resonanz, das bis zum Ende aufgeklärt wird, eine Gefahr für viele Leute mit breiten Schulterklappen darstellt: Sie haben Verbrechen mit begangen oder sie haben die Verbrecher gedeckt. Sie haben mit ihren Vollmachten geschachert statt ihre Pflicht zu tun.“

Die Schlussfolgerung des Autors ist bitter: „In Russland werden politische Morde, in die Mitglieder der Justiz, die Geheimdienste und deren Agenten verwickelt sind, nicht aufgedeckt.“ Die Nowaja Gaseta ist überzeugt, dass die Ermittlungen deshalb behindert wurden. Nicht durch eine konkrete Anweisung von oben, sondern durch den hinhaltenden Widerstand des Systems. „Als sich herausstellte, dass Mitarbeiter der Miliz und der Geheimdienste sowie ihre zahlreichen informellen Mitarbeiter in diese Geschichte verwickelt waren, stellte das System ein gigantisches Schutzschild auf.“ Das gilt vor allem für die Suche nach dem eigentlichen Auftraggeber des Mordes. Offiziell ist er noch immer unbekannt, obwohl Generalstaatsanwalt Tschajka schon 2007 versicherte, seine Identität sei festgestellt. „Jemand, der Anna Politkowskaja persönlich kannte und sich jetzt im Ausland befindet“, behauptete Tschajka laut Nowaja Gaseta damals.

Bemerkenswert an den Reaktionen auf die gescheiterte Aufarbeitung des Mordfalls Politkowskaja: Große Teile der russischen Presse üben erstaunlich offene Kritik an der Staatsmacht. Die Presse zeigt eine neue Courage, die sich offenbar aus zwei Quellen speist: einer politischen und einer wirtschaftlichen. Politisch hat sich Russland in einer „Tandem-Demokratie“ eingerichtet, mit Dmitrij Medwedew als Staatsoberhaupt und dessen Meister Wladimir Putin als Regierungschef. Nach einem Jahr harmonischer Ko-existenz zeichnen sich nun erste Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Berufsstaatssicherheitler und dem professionellen Juristen ab. Außerdem hat die Wirtschaftskrise Russland hart getroffen. Unternehmergruppierungen, Lobbyisten und bürokratische Seilschaften versuchen, neue Entwicklungen zu nutzen. Der Verfall des Erdölpreises hat den Staatshaushalt und die Macht der politischen Zentrale in Moskau geschwächt. Die Verleger der Massenmedien, die häufig in engem Austausch mit einzelnen Wirtschaftsgruppen agieren, wissen darum. Auch sie versuchen, zumindest einen ersten kleinen Teil der alten Freiheiten zurückzugewinnen.

Im Fall Politkowskaja aber bereitet die Staatsanwaltschaft eine Berufung vor, die eine lächerliche Neuauflage des gescheiterten Prozesses zu werden verspricht. Präsident Medwedew droht gereizt mit einer Justizreform. Ein Land, das anstrebt, zu den fortschrittlichsten Staaten der Welt zu gehören, wird auf Dauer lernen müssen, seine Morde aufzuklären.

STEFAN SCHOLL lebt als freier Autor in Twer, Russland.

Bibliografische Angaben

Internationale Presse 4, April 2009, S. 96 - 99.

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