Hungern in der Kornkammer
Der fruchtbare Kongo könnte ein Vorbild für Afrika sein – wenn Frieden herrschte
Jean Musakara erinnert sich noch, wie es war, bevor die Killer kamen. „Es ging uns gut in unseren Dörfern“, berichtet der kongolesische Bauer. „Wir hatten drei Mahlzeiten am Tag. Wir konnten es uns leisten, feste Häuser zu bauen und unsere Kinder auf die Oberschule zu schicken.“ Die Märkte waren voll, es gab lebhaften Handel mit der Provinzhauptstadt Goma und den Nachbarländern Uganda und Ruanda. Damals, das war Anfang der neunziger Jahre.
Heute leben Rutshurus Bauern nicht mehr in ihren Dörfern, sondern in elenden Vertriebenenlagern, die nur selten humanitäre Hilfe bekommen. Ruandische Hutu-Milizen, unbezahlte kongolesische Regierungssoldaten oder irreguläre kongolesische Milizionäre kontrollieren das fruchtbare Land. Sie vergewaltigen die Menschen und plündern sie aus. „Wenn man zur Ernte aufs Feld geht, nehmen sie einem auf dem Rückweg die Hälfte ab“, sagt Jean Musakara. „Wir können froh sein, wenn es einmal am Tag etwas zu essen gibt. Die Kinder werden krank, aus Mangel an Eiweiß. Es ist selten, dass man irgendwo Arbeit findet, für einen Dollar pro Tag.“
Einst war der Osten des Kongo die Kornkammer des riesigen zentralafrikanischen Landes, dessen Produkte sogar in der 2000 Kilometer entfernten Hauptstadt Kinshasa als Delikatessen verkauft wurden. Heute, nach 15 Jahren Krieg, sind von den fünf Millionen Einwohnern der Provinz Nord-Kivu fast eine Million Kriegsvertriebene, deren Lebensbedingungen von lokalen Beobachtern mit denen in Konzentrationslagern verglichen werden. Wegen der weltweit stark angestiegenen Lebensmittelpreise hat das UN-Welternährungsprogramm WFP im Juni seine ohnehin schmalen Rationen halbiert, leben kann davon niemand mehr. Die Vertriebenen werden zu Pendlern oder rechtlosen Landarbeitern, die in der Stadt oder bei Grundbesitzern Frondienste verrichten. Die Preise auf den lokalen Märkten haben sich im Laufe der vergangenen Jahre verdreifacht: Ein Kilo Bohnen kostet fast einen Dollar, einen Tagesverdienst, ein Huhn fünf Dollar, ein Wocheneinkommen.
Kein Land der Welt mit Ausnahme Somalias zählt einen größeren Bevölkerungsanteil an ständig Hungernden als die Demokratische Republik Kongo – über vier Fünftel der 60 Millionen Einwohner haben nicht genug zu essen. Ein Skandal, denn der Kongo ist immens fruchtbar. Das Agrarpotenzial der weiten Savannen im Westen des Kongo sowie im fast menschenleeren Nachbarland Angola ist nur zu fünf Prozent ausgeschöpft. Diese Flächen könnten ganz Afrika ernähren. Aber ohne die nötigen Investitionen, Technik und Infrastruktur sind die Menschen in der Subsistenzwirtschaft gefangen. Sie bebauen nur winzige Gebiete, der Rest liegt brach.
Der Osten des Kongo wiederum ist Teil der Region der afrikanischen Großen Seen, mit Ruanda, Burundi und der Westhälfte Ugandas – ein Gebiet von gut 50 Millionen Menschen auf engstem Raum, in einer atemberaubend schönen Landschaft aus Seen, Bergen, Vulkanen und Wäldern. Es ist die dichtestbesiedelte ländliche Region Afrikas. Im kleinen Ruanda leben auf der Fläche Hessens bereits neun Millionen Einwohner, innerhalb der nächsten 15 Jahre dürfte ihre Zahl auf 20 Millionen steigen, 90 Prozent davon Bauern. Wovon sollen sie alle leben, wenn schon jetzt jede Familie über durchschnittlich weniger Land verfügt, als nach UN-Maßstäben zur Eigenversorgung reichen? Und die des ebenso dicht besiedelten Burundi nebenan?
Am Afrika der Großen Seen, Schauplatz eines der blutigsten Konflikte der jüngeren Weltgeschichte, wird sich messen, ob es dem Kontinent gelingt, seine Ernährungskrise zu überwinden. Wenn sich dort die Mittel finden, eine hochproduktive Landwirtschaft aufzubauen, die die Bauern nicht als Landlose in die Städte treibt, sondern als Produzenten an ihr Land bindet, dann kann ganz Afrika davon lernen. Versinkt die Region weiter in Armut und Konflikten, sind auch anderswo in Afrika die Mühen der Modernisierung vergebens.
Mehr und bessere Straßen, eine Festschreibung von Grundbesitz, Investitionen in Saatgüter und landwirtschaftliche Technologie, und vor allem Sicherheit, Frieden und gute Regierungsführung – das sind die Rezepte, die alle bekannt sind. Der anhaltende Krieg im Kongo blockiert jedoch die Entwicklung der gesamten Region. Aber auch wenn im Kongo Frieden einkehren sollte, müsste erst einmal das Kapital gefunden werden, um die Landwirtschaft neu aufzubauen. Dabei geht es nicht bloß um Mikrokredite, Hacken und Saatgut, die beliebten Geschenke von Entwicklungshelfern an Kleinbauern. Noch vor 20, 30 Jahren gab es im Ostkongo blühende kommerzielle Großfarmen, Erben der belgischen kolonialen Hinterlassenschaft, die unverzichtbare Zusatzbranchen zur lokalen kleinbäuerlichen Ökonomie kultivierten: edle Viehrassen, hochwertigen Kaffee, auch Chinin-Plantagen zur Herstellung von Malariamedikamenten – lauter Exportschlager, die die ostkongolesischen Kivu-Provinzen reich machten.
Ein friedliches Nebeneinander einer produktiven kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die die Grundversorgung der rasch wachsenden Bevölkerung sicherstellt, und einer modernen kommerziellen Exportwirtschaft, die in großem Maße Devisen und Einkommen zur Finanzierung von Investitionen erwirtschaftet: Das wäre das beste Rezept, um aus den Schlachtfeldern des Kongo wieder blühende Landschaften zu machen. Aber davon scheint das Land heute weiter entfernt denn je.
DOMINIC JOHNSON ist Auslandsredakteur der taz
Internationale Politik 11, November 2008, S. 34 - 37