IP

01. Apr. 2008

„Europäischer Bastard“

Russlands Medien betrachten die Anerkennung des Kosovo mit Skepsis

Nicht die Präsidentschaftswahlen standen zuletzt im Fokus der russischen Medien, sondern ein Ereignis, das Russland nur mittelbar betraf: die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und ihre Anerkennung durch führende westliche Nationen. Russland habe sich zu Recht, so der Tenor, an die Spitze derer gesetzt, die vor einem Präzedenzfall warnen.

Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo lieferten die staatlichen Fernsehsender Russlands mehrere Abende lang Reportagen über die Massenproteste in Serbien, die den Eindruck erweckten, ein neuer Balkan-Krieg sei unvermeidlich. Auch die linientreuen russischen Printmedien reagierten empört, etwa die Tageszeitung Iswestija (26.2.2008). Der Westen hätte in den neunziger Jahren eine strategische Partnerschaft mit Serbien eingehen müssen, um der Islamisierung der Balkan-Halbinsel entgegenzuwirken, verkündet Witalij Iwanow, Vizepräsident des Zentrums für Politische Konjunktur Russlands. „Aber wegen ihrer antiserbischen Komplexe und ihres idiotischen ,Humanismus‘ verhinderten die Amerikaner und Westeuropäer, dass Belgrad im Kosovo Ordnung schaffte, organisierten eine ,humanitäre Intervention‘ und gaben grünes Licht für die ,Albanisierung‘ der Region und den damit einhergehenden Genozid.“

Der Autor warnt sarkastisch vor den Langzeitfolgen dieses „äußerst fragwürdigen international-rechtlichen Präzedenzfalls“. Es werde lustig, wenn in ein paar Jahrzehnten irgendein Florida anfange, sich von den USA loszulösen, und sich dabei auf das Kosovo berufe. Danach ergeht sich Iwanow in machiavellistisch-philosophischen Überlegungen über das Wesen staatlicher Souveränität. Formal erhalte ein Staat Souveränität durch internationale Anerkennung und Mitgliedschaft in den UN, faktisch aber durch erfolgreich durchgesetzte Ansprüche auf diese Souveränität. Am souveränsten und mächtigsten ist laut Iwanow, wer am lautesten schreit und sich am schlechtesten benimmt. „Indem die USA und ihre westlichen Verbündeten das Kosovo von Serbien losgerissen und damit das internationale Recht mit Füßen getreten haben“, so der Autor, „äußern sie scharf ihre souveränen Ambitionen und bestätigen ihren Status nicht nur als Staaten, sondern auch als Mächte.“ Indem Russland das kosovarische Abenteuer kategorisch verurteile, verwirkliche es sich seinerseits als internationale Macht. Fazit: Wir Russen sind souverän und mächtig, weil wir dem Westen Kontra geben. Eine für das aktuelle politische Denken in Russland sehr typische Folgerung.

Einen „europäischen Bastard“ nennt Pawel Burmistrow das Kosovo nicht eben freundlich in der neuen Zeitschrift Russkij Reporter, einem sehr kremlnahen Organ (21.–28.2. 2008). Das Kosovo sei ein „Staat, der nicht stattfindet“: Russland werde seine Anerkennung in den UN verhindern, im Gebiet herrschten 80 Prozent Arbeitslosigkeit, es lebe nur von Finanzhilfe aus dem Ausland sowie von illegalen Einnahmen vor allem aus Drogenhandel und Prostitution. Beherrscht werde es von ehemaligen Feldkommandeuren und ihren Familienclans. Und seine Probleme addierten sich zu den Problemen der ganzen Balkan-Region. „Sie erhöhen die Gefahr eines neuen Krieges noch mehr“: Serbien werde sich niemals mit einem unabhängigen Kosovo abfinden, außerdem könnten sich nun auch die serbischen autonomen Regionen in Bosnien-Herzegowina für selbständig erklären, die albanische Minderheit in Mazedonien sei ebenfalls auf über 25 Prozent der Bevölkerung angewachsen. Und weder Albanien noch die EU seien bereit, das nicht lebensfähige Kosovo aufzunehmen. Der Leser möge sich daran erinnern, wie oft schon scheinbar nebensächliche Konflikte auf dem Balkan zu großen internationalen Erschütterungen geführt hätten, spielt Burmistrow auf den Ersten Weltkrieg an. Das alles sei vielen bewusst. „Aber nur Russland hatte keine Angst, sich an die Spitze derer zu setzen, die den Präzedenzfall Kosovo für gefährlich halten.“ Außer den USA und ihren engsten Verbündeten betrachteten immer mehr Länder „Russland als informellen Führer derer, die versuchen, den Status der UN in der Welt zu erhalten“. So sei die internationale Autorität Russlands gewachsen, während die der USA weiter abnehme. Selbstgerechtigkeit gehört für die linientreuen politischen Zeitschriften in Moskau längst zum alltäglichen Ritual: Sie feiern Russlands Größe lautstark und bei jeder Gelegenheit. Egal, ob die eigene Außenpolitik tatsächlich geeignet ist, aus Russland eine Führungsmacht zu machen, die mit den USA konkurrieren kann. Die USA und Westeuropa hätten gezeigt, dass sie die UN beerdigen wollten wie einst den Völkerbund, damals, als sie stillschweigend Hitlers Einmarsch in Österreich und die Tschechoslowakei billigten. Die Folge sei ein Weltkrieg gewesen, bei dem Russland die größten Opfer zu tragen hatte. „Und wenn Europa, von einer Lähmung seines Willens befallen, wieder den gleichen Fehler machen will, müssen wir letztlich dafür sorgen, dass diesmal nicht wir die Rechnung bezahlen müssen.“

Wie man diesen Gefahren begegnen will, bleibt allerdings offen. Lieber folgt Burmistrow der herrschenden intellektuellen Mode und verlängert die eigenen Argumente in die Vergangenheit, störende historische Details großzügig übersehend. So vergisst Burmistrow etwa den Hitler-Stalin-Pakt. Aber die staatstragenden russischen Publizisten haben es sich abgewöhnt, Fehler oder Verantwortung innerhalb Russlands zu suchen: Stattdessen schmähen sie den Westen. Schlusssatz des Russkij Reporter: „Jetzt ist allen klar, dass das neu angebrochene Jahrhundert nicht das Jahrhundert Europas sein wird.“ Das staatstragende Russland bewegt sich ideologisch eher im vorletzten als im vergangenen Jahrhundert.

Nicht alle russischen Printmedien bemühen das Thema Kosovo, um die Putinsche Idee zu bestätigen, Russland könne seine alte Größe nur gegen den Westen wiedergewinnen. In der liberalen Zeitschrift The New Times fasst Leonid Mletschin die Geschichte des Kosovo zusammen, erinnert an die historische Bedeutung der Region für die orthodoxen Serben, aber auch für die Albaner (25.2.2008). Er erwähnt Titos Nationalitätenpolitik, die den Kosovo-Albanern eine ähnliche kulturelle Autonomie zugestand wie die Sowjetunion ihren Minderheiten. Dann beschreibt er die sich aufschaukelnden Animositäten zwischen Serben und Albanern, die unter Slobodan MiloäeviŤ in die gewaltsame Unterdrückung der albanischen Nationalbewegung und in blutige ethnische Säuberungen ausarteten. Mletschin erinnert daran, dass der Westen damals eine weitreichende Autonomie des Kosovo innerhalb Serbiens vorgeschlagen habe, was aber von MiloäeviŤ brüsk abgelehnt worden sei. Ein Faktenstück, das dem Leser die Möglichkeit gibt, die offiziösen Kosovo-Klischees vom ordnungsschaffenden MiloäeviŤ und dem albanischen Genozid an der serbischen Minderheit zu hinterfragen.

Doch auf Polemik gegenüber dem Westen verzichtet auch The New Times nicht. In einem Gastkommentar der genannten Ausgabe stilisiert der serbische Filmregisseur Emir -Kusturica Russland zur künftigen Schutzmacht des orthodoxen Slawentums hoch. „Ihr seid reich, habt eine hoch entwickelte Kultur, ihr seid ein europäisch geprägtes Land. Ihr habt ein gewaltiges Wirtschaftspotenzial, seid eine Militär- und Weltraummacht“, schwärmt Kusturica. „Die westliche Welt treibt im Namen der Demokratie alles Mögliche. Unter dem hehren Vorwand des Humanismus können die dich umbringen oder küssen, mit dir tun, was sie wollen. Auf ihrer Seite hat sich zu viel Macht gesammelt. Es wäre gut, wenn es ein Land gäbe, das dem -Westen die Waage hält. Ein starkes Russland bringt Europa Stabilität.“ Allerdings widmet The New Times die folgenden sieben Seiten der Frage, ob der Fall Kosovo für die von Russland unterstützten Rebellenrepubliken -Abchasien, Nordossetien und Trans-nistrien ebenfalls offizielle inter-nationale Anerkennung bedeuten könnte, oder zumindest die Anerkennung Russlands. Und ob dann im Kaukasus ein neuer Krieg drohe. Themen, die alle staatstragenden Medien bei der Kosovo-Diskussion peinlichst vermieden.

Wie The New Times macht das Nachrichtenmagazin Russkij Newsweek sogar mit dem Kosovo auf: „Behinderter Staat“ lautet die Titelzeile. Leonid Ragosin beschreibt die Lage nach der Unabhängigkeitserklärung in einer analytischen Reportage. Er schildert handgreifliche Konflikte an der nördlichen Grenze zu Serbien, aber auch die eher pragmatische Einstellung serbischer Gastwirte in der Region, die den Konflikt keineswegs als Kampf um ihre nationale und religiöse Würde erleben, sondern als Verlustgeschäft. „Wir teilen die Leute hier nicht in Serben und Albaner“, erklärt ein serbischer Skilehrer im südlichen Kosovo, „sondern in Skifahrer und Snowboarder.“ In den serbischen Enklaven gälten laut Ragosin weiter serbische Gesetze, das wirtschaftlich boomende Serbien nähme auch weiter starken Einfluss auf die Lage im Kosovo, allein durch die Renten, die es serbischen Kosovaren auszahle. Dazu kämen die 1800 Polizisten, Staatsanwälte und Richter aus der EU, die die künftige albanische Verwaltung nicht nur unterstützten, sondern auch kontrollierten.

„Ein Quasistaat, unter Vorbehalten nur von einer Hälfte der Welt anerkannt. (...) Die Souveränität dieses Staates ist stark reduziert“, so Ragosin. „Einmischen kann sich ebenso die EU wie das ungeliebte Serbien. Der neue Staat kontrolliert nicht einmal das eigene Territorium vollständig.“ Und irgendwann könnten sich Serben und Kosovaren gemeinsam in der EU wiederfinden. Sein Fazit: „Die Menschheit kehrt zu altgewohnten Strukturen zurück, die nachgiebiger und amorpher (als ein Nationalstaat) sind. Etwa wie das Heilige Römische Reich.“

Und nach The New Times fragt auch Russkij Newsweek, was der Fall Kosovo für Abchasien und Nordossetien bedeutet, die sich schon Anfang der neunziger Jahre nach blutigen Bürgerkriegen von Georgien losgesagt haben. Laut Ragosin wird Russland diesen Fall nicht zum Vorwand nehmen, die Rebellenrepubliken anzuerkennen. Vielmehr wolle man sie als Faustpfand nutzen, um mit Georgien zu verhandeln. „Wladimir Putin gab Michail Saakaschwili zu verstehen, dass Russland keine Eile hat, die Unabhängigkeit der ehemaligen georgischen Autonomien anzuerkennen. Als Antwort erwartet er von Georgien, dass es nicht in die NATO eintritt.“ Bezeichnenderweise ziehen fast nur liberale Zeitungen den Vergleich zwischen dem Kosovo und Abchasien.

Kein Wunder: Russland betreibt dort seit Jahren schleichend eine massive Vereinnahmungspolitik, die die territoriale Unversehrtheit Georgiens mit Füßen tritt. Aber gerade die Verletzung dieser Rechtsnorm kritisiert die kremltreue Presse im Fall Kosovo am lautstärksten. Doppelmoral aber ist eine Untugend, die gerade diese Medien ausschließlich im Westen suchen.

STEFAN SCHOLL, geb. 1962, lebt als freier Autor in Twer, Russland. Zuletzt erschien von ihm „Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr“ (2004).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2008, S. 124 - 127

Teilen

Mehr von den Autoren