Globalisierung à la carte
Es bedarf flexiblerer Kooperationen, die Bürger nicht bevormunden
Es gab nie gemeinsamen Grund für Kritiker der Globalisierung und strikten Befürwortern einer Liberalisierung. Moderatere Formen der Globalisierung, die wachsenden Wohlstand, Erhalt des Nationalstaats und Demokratie garantieren, waren damit nicht zu finden. Die Lösung? Mehr Rosinenpickerei, sowohl global als auch auf europäischer Ebene.
Seit einigen Jahrzehnten setzen Politik und Wirtschaft in OECD-Ländern auf weitgehend uneingeschränkten wirtschaftlichen Liberalismus: freie Märkte, freier Handel und wenig beschränkte Migration zwischen den Industrieländern. Die ökonomischen Erfolge dieser globalisierungsfreundlichen Politik sind eindeutig. Trotz einiger Krisen sind die Industrieländer heute wohlhabender als je zuvor. Zugleich wächst seit einigen Jahren das Unbehagen über die Auswirkungen der Globalisierung. In der Debatte über die Zukunft Großbritanniens in der EU, aber auch im amerikanischen Wahlkampf spielte die Frage nach Nutzen sowie Nebenwirkungen der internationalen Arbeitsteilung eine zentrale Rolle. Auch im französischen Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2017 wurden die Folgen der Globalisierung von allen Kandidaten ausgiebig thematisiert.
Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat schon vor der Wahl Donald Trumps auf den wachsenden Unmut in den USA hingewiesen. Für Verärgerung bis hin zur Verbitterung sorgte, dass die Lasten der politischen Fehlentscheidungen in den USA und in Europa – unzureichende Regulierung der Finanzmärkte dort, Konstruktionsfehler bei der gemeinsamen Währung hier – den Durchschnittsverdienern aufgebürdet wurden. Fukuyama zeigte sich deshalb weniger vom Entstehen populistischer Strömungen überrascht, sondern vielmehr, dass es so lange gedauert hatte, bis sie Bedeutung gewannen.1
Die Kritik an der Globalisierung in ihrer heutigen Form ist dabei keineswegs auf populistische Politiker beschränkt. Selbst der Internationale Währungsfonds äußert Zweifel an der von ihm jahrzehntelang propagierten Politik. Vor allem die Liberalisierung des Kapitalverkehrs hat nach Einschätzung einiger Mitarbeiter des IWF zu zahlreichen negativen Effekten geführt. Insbesondere kurzfristige Kapitalströme weisen auch nach Ansicht des Grandseigneurs der internationalen Finanzpolitik, des heutigen stellvertretenden US-Notenbankchefs Stanley Fischer, keinen erkennbaren wirtschaftlichen Nutzen auf.2 Sollte sich diese Kritik an der Globalisierung fortsetzen, könnte die lange Phase der unaufhaltsamen Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung ein Ende finden.
Goldene Zwangsjacke
Bislang gibt es nicht den geringsten gemeinsamen Grund zwischen Befürwortern und Gegnern der internationalen Arbeitsteilung. Die Protagonisten weiterer Liberalisierung pochen auf den ökonomischen Nutzen: Eine liberale Handels- und Finanzordnung steigert den Wohlstand. Diese Gruppe bemerkt aber nicht, dass diese Argumentation in wohlhabenden Industrieländern an Kraft verliert. Mit einer erwarteten Steigerung des Wohlstands sind Gesellschaften in Industrieländern nicht mehr so leicht von einer „Hyperglobalisierung“ zu überzeugen. Viele Menschen sehen die Globalisierung heute vielmehr als goldene Zwangsjacke, die Wohlstand bringt, aber demokratische Prozesse einschränkt und einige Entscheidungen von vornherein ausschließt, weil sie zu Verwerfungen auf den Finanzmärkten führen könnten.
In Großbritannien hat diese Abwägung – zwischen demokratischer Selbstbestimmung auf der einen und der Vertiefung der Europäischen Union auf der anderen Seite – offenbar eine wichtige Rolle gespielt. Der Schauspieler Michael Caine bekannte, für den Brexit gestimmt zu haben und begründete dies mit seiner Präferenz für demokratische Selbstbestimmung: Er sei lieber ein armer Herr als ein reicher Diener.3
Die gegenwärtigen Debatten zur weiteren Entwicklung der Globalisierung sowie zur Vertiefung der EU weisen bemerkenswerte Parallelen auf, was die Berücksichtigung der Präferenzen von Gesellschaften betrifft. Sowohl in Europa als auch auf globaler Ebene werden den Bürgern die Grenzen ihrer Demokratien bewusst. Aber allzu selten empfinden die Befürworter einer tieferen Integration den Wunsch von Gesellschaften, Entscheidungen über ihr politisches und wirtschaftliches Schicksal selbst zu treffen, nicht als legitim, sondern als unangemessen.
Dabei handelt es sich um ein Problem, auf das der in Amerika lehrende Ökonom Dani Rodrik schon vor einigen Jahren aufmerksam machte. Er konstatierte ein Spannungsverhältnis zwischen Nationalstaat, Demokratie und einer weitreichenden wirtschaftlichen Integration, die er unter Bezugnahme auf den amerikanischen Journalisten Thomas Friedman als Hyperglobalisierung bezeichnet. Nur zwei der drei Elemente sind gemeinsam zu haben. Will eine Gesellschaft auf den Nationalstaat nicht verzichten, hat sie nur die Wahl zwischen Hyperglobalisierung und Demokratie: Im ersten Fall gewinnen die Gesellschaften an Wohlstand, verlieren aber die Fähigkeit, sich für oder gegen einzelne Maßnahmen zu entscheiden. Entscheiden sich Gesellschaften für Nationalstaat und Demokratie, ist der Preis hierfür der Verzicht auf mögliche weitere Wohlstandsgewinne.
In Europa wird ein dritter Weg verfolgt: Die europäische Integration versucht, tiefe ökonomische Integration mit demokratischen Strukturen zu verbinden. Die früheren Nationalstaaten werden bei der Vollendung des europäischen Integrationsprozesses durch einen neuen, größeren Staat ersetzt. Die Verheißung ist die weitere Mehrung des Wohlstands in Europa.
Begrenzter Nutzen
Genau hier liegt das Problem heutiger Industriegesellschaften. Das Argument weiterer Einkommenszuwächse überzeugt zwar noch einige Bürger, aber ein gesellschaftlicher Konsens zur weiteren wirtschaftlichen Integration ist kaum noch zu erzielen. Schließlich haben viele Menschen in den Industrieländern einen solchen Wohlstand bereits erreicht. Dies zeigt sich schon heute sehr deutlich in den Unternehmen: Viele Arbeitnehmer lehnen die mögliche Maximierung ihres Einkommens ab und geben einem größeren Maß an Souveränität über die eigene Zeit den Vorzug.
Bezogen auf die internationale Arbeitsteilung ist es nicht grundsätzlich anders: Mit einem möglichen Zuwachs von 60 Dollar des durchschnittlichen Jahreseinkommens pro Kopf aus dem europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen CETA wird der partielle Verlust von politischer Autonomie für viele Bürgerinnen und Bürger nicht aufgewogen. Sie wollen in demokratischen Prozessen selbst über ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheiden.
Auf diesen Zusammenhang zwischen Wohlstand und bewusstem Verzicht auf Gewinne aus der vollständigen Liberalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen hatte John Maynard Keynes schon vor fast hundert Jahren aufmerksam gemacht. Nicht alle Güter müssten vom billigsten Anbieter aus dem Ausland bezogen werden. Keynes stellte fest, dass nationale Selbstversorgung zwar Kosten verursacht, Gesellschaften sich diesen Luxus aber leisten könnten, wenn sie es wünschen.4
Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem Wohlstandsniveau einer Gesellschaft und dem Interesse an weiterer internationaler Arbeitsteilung. In Entwicklungs- und Schwellenländern wird die Frage nach dem Nutzen der Globalisierung deshalb grundsätzlich positiver beantwortet als in Industrieländern. Je ärmer eine Volkswirtschaft, desto größer sind die Hoffnungen auf die Globalisierung. Einer im November 2016 veröffentlichten Umfrage zufolge bescheinigten nur 37 Prozent (Frankreich) oder 40 Prozent (USA) der Befragten der Globalisierung eine positive Wirkung auf ihre Gesellschaften, aber 83 Prozent der Befragten in Indien und 91 Prozent in Vietnam.5 In den Entwicklungs- und Schwellenländern setzen viele Menschen nach wie vor große Hoffnungen in die Globalisierung, in den reichen Ländern dagegen schwindet die Unterstützung für weitere internationale Arbeitsteilung.
Scheitern von Global Governance
Das Unbehagen an der Globalisierung hat die Weiterentwicklung von Regeln auf globaler Ebene, für Global Governance, ins Stocken geraten lassen. In einigen Ländern, allen voran Großbritannien und die USA, hat der Rückzug auf nationalstaatliche Ansätze 2016 eine unerwartete Unterstützung erfahren. Der Nationalstaat erlebt ein Comeback, während die Zusammenarbeit von Staaten auf den unterschiedlichsten Ebenen stagniert oder gar rückläufig ist. Bedenkt man die vor zwei Jahrzehnten zu beobachtende Zuversicht hinsichtlich der Weiterentwicklung von Global Governance, ist dieser Befund überraschend.
Bei der Diskussion um Global Governance wird häufig betont, dass immer größere Interdependenzen zwangsläufig zu globaler Regulierung führen. Der rasch gewachsene Waren- und Dienstleistungshandel sowie technologische Innovation hätten dazu geführt, dass einzelne Staaten mit der Lösung von wirtschaftlichen Problemen überfordert sind. Die Welt braucht demnach globale Regeln, globale Abkommen, globale Institutionen. Alternativen gibt es aus dieser Perspektive nicht.
Unbeachtet bleibt dabei jedoch, dass die politischen Präferenzen der an Global Governance beteiligten Gesellschaften deckungsgleich sein müssen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger in sämtlichen Demokratien die gleichen regulatorischen Präferenzen teilen würden, könnte die Vereinbarung globaler Regeln erfolgen, ohne die Demokratie zu gefährden. Aber genau diese Bedingung für das Gelingen von Global Governance ist nicht überzeugend: Fraglos kann Regieren jenseits des Nationalstaats glücken, wenn Mehrheiten in den beteiligten Staaten die gleichen Ziele verfolgen. Aber die zentrale Frage ist, was passiert, wenn sich diese Präferenzen unterscheiden?
Hinzu kommen die empirischen Befunde der bisherigen Versuche, etwa Finanzmärkte auf globaler Ebene zu regulieren. Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte seit den siebziger Jahren haben die Risiken für die Nationalstaaten nicht verringert, sondern erhöht. Die internationalen Regelwerke, vor allem die unter den Abkürzungen Basel I, II und III firmierenden gemeinsamen Konzepte der Bankenaufseher, haben die zahlreichen Finanzkrisen der vergangenen zwei Jahrzehnte nicht verhindert. Deshalb ist es folgerichtig, dass einzelne Staaten heute einen strengeren Regulierungsansatz verfolgen, der über die geltenden globalen Regelwerke weit hinausgeht. Im Finanzsektor haben sich die supranationalen Regeln als unzureichend erwiesen. Strengere Vorschriften wären zur Verhinderung künftiger schwerer Krisen unverzichtbar, werden jedoch von einigen Staaten verhindert.
Globalisierung nach Maß
In den kommenden Jahren wird die Neugestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen sowohl für die Länder der Europäischen Union als auch auf globaler Ebene eine vordringliche Aufgabe sein. Der Verweis auf vermeintliche Sachzwänge wird nicht genügen, um die Kritik an der Globalisierung und an der europäischen Integration zu dämpfen. Kluge Politik muss die Globalisierung vor populistischer Kritik und zugleich vor blindem Vertrauen in die Märkte schützen.
Die entschlossenen Vorkämpfer einer Hyperglobalisierung, aber auch uneingeschränkter Integration in Europa haben bislang zweierlei versäumt: Sie haben die tatsächlichen Nachteile der bisherigen Form der internationalen Arbeitsteilung – innerhalb Europas wie auf globaler Ebene – heruntergespielt und damit der vereinfachenden Kritik eines Donald Trump Tore geöffnet. Zudem wurde es mit der bisherigen Radikalität der Forderungen nach Liberalisierung unmöglich, die Vorteile einer moderateren Form der Globalisierung zu sehen.6 Auch in Europa haben führende Politiker immer wieder gemäßigte Ansätze verworfen und auf eine vollständige Integration etwa der Arbeits- und Kapitalmärkte beharrt.
Ralf Dahrendorf hat schon in den späten siebziger Jahren verwundert bemerkt, in europafreundlichen Kreisen sei die Sicht verbreitet, das Schlimmste, was passieren könnte, sei eine Bewegung hin zu einem Europa à la carte. Dies, so Dahrendorf, würde den merkwürdigen Puritanismus, um nicht zu sagen Masochismus, hervorheben, der vielen Aktivitäten der Gemeinschaft zugrunde läge: Europa müsse wohl schmerzen, um gut zu sein.7
Die Lösung des Zielkonflikts zwischen Nationalstaat, demokratischer Freiheit und Effizienzgewinnen durch internationale Arbeitsteilung kann nicht durch Schaffung eines neuen, für alle Staaten verbindlichen wirtschaftspolitischen Korsetts gelingen. Die Freiheit der Entscheidung von Gesellschaften sollte die oberste Richtschnur sein. Der europäische Integrationsprozess wird zur Zwangsjacke, wenn den Mitgliedsländern keine Optionen verbleiben. Mit der Ablehnung von unterschiedlichen Niveaus der Integration ist implizit eine Ablehnung demokratischer Prozesse verbunden. Ralf Dahrendorf hat schon vor fast 40 Jahren für Rosinenpickerei als Modell plädiert. In der heutigen Debatte zur Zukunft der EU wird ein solcher Ansatz von der Bundesregierung indes entschlossen abgelehnt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich unmittelbar nach der Entscheidung der britischen Wähler, die EU zu verlassen, auf den Standpunkt gestellt, dass es in den Verhandlungen mit den Briten kein Eingehen auf britische Präferenzen geben könne. Sie lehnte in einer Regierungserklärung die „Rosinenpickerei“ der Briten ab.8
Zu fragen ist, ob die Artikulation der Präferenzen von Gesellschaften in der Gestaltung der internationalen Beziehungen gleichzusetzen ist mit egoistischem Verhalten. Bundeskanzlerin Merkel unterstellt, dass die Organisation der EU geprägt ist vom gemeinsamen Schultern von Lasten. Die ursprüngliche Idee der EU ist jedoch eine andere: Es geht dabei um die Mehrung des Nutzens für alle beteiligten Gesellschaften. Die EU ist im Kern ein Projekt, das den beteiligten Gesellschaften zur Steigerung des Wohlergehens dienen soll. Den eigenen Präferenzen nach zu handeln, ist also wünschenswert. Ohne Wahlmöglichkeiten ist die Demokratie in Europa genauso gefährdet wie auf globaler Ebene. Rosinenpickerei ist damit der Kern erfolgreicher internationaler Zusammenarbeit. Aufgabe der Politik ist es, den Präferenzen von Gesellschaften Rechnung zu tragen. Die Diskreditierung von unterschiedlichen Präferenzen der Länder ist im Kern eine Absage an demokratische Entscheidungsprozesse.
Die EU sowie die existierenden Institutionen auf globaler Ebene gefährden also ihre Zukunft, wenn den Gesellschaften keine Wahlmöglichkeiten eingeräumt werden. Internationale Kooperation erfordert das Vorhandensein eines reichhaltigen Menüs. Sinnvoll und möglich erscheinen sowohl Dahrendorfs „Europa à la carte“ als auch eine maßgeschneiderte Globalisierung. In den kommenden Jahren besteht eine zentrale Aufgabe für die internationale Politik darin, flexible Kooperationsformate zu entwickeln und Gesellschaften nicht zu bevormunden, also Wahlmöglichkeiten zu eröffnen.
Prof. Dr. Heribert Dieter lehrt politische Ökonomie an der Zeppelin Universität, Friedrichshafen, und arbeitet in der SWP. Soeben erschien sein neues Buch „Globalisierung à la carte“.
- 1Francis Fukuyama: American Political Decay or Renewal? The Meaning of the 2016 Election, Foreign Affairs, Juli/August 2016, S. 58–68.
- 2Jonathan D. Ostry, Prakash Loungani und Davide Furceri: Neoliberalism: Oversold?, Finance & Development, Juni 2016, S. 38–41.
- 3„… rather a poor master than a rich servant“, http://www.telegraph.co.uk/news/2017/04/06/sir-michael-caine-reveals-vo…
- 4John Maynard Keynes: National Self-Sufficiency, The Yale Review, Juni 1933, S. 755–769.
- 5YouGov Survey, November 2016, https://yougov.co.uk/news/2016/11/17/international-survey/
- 6Dani Rodrik: Put Globalization to Work for Democracies, The New York Times, 18.9.2016.
- 7Ralf Dahrendorf: A Third Europe? Third Jean Monnet Lecture, European University Institute, 26.11.1979, http://aei.pitt.edu/11346/
- 8Keine Vorverhandlungen, keine Rosinenpickerei, Der Spiegel, 28.6.2016.
Internationale Politik 4, Juli/August 2017, S. 114 - 119