Weniger abhängig von China
Wenn Liefer- und Wertschöpfungsketten nach der Corona-Krise neu organisiert werden, kann dies positive Folgen für Industrie und Integration in Europa haben.
Auf den ersten Blick sieht die Zukunft des internationalen Handels und der grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten im Frühjahr 2020 düster aus. In Europa hat die verarbeitende Industrie einen massiven Rückschlag erlitten. Während die vergangenen beiden Jahrzehnte von Chinas rasantem Aufstieg geprägt waren, könnten die goldenen Zeiten seiner Industrie vorbei sein. Aber welche Länder könnten die „Fabrik der Welt“ ersetzen? Und was würde diese Neuorganisation der Produktion für Deutschland und Italien, die beiden führenden Industrieländer Europas, bedeuten?
Eine Abkehr von der gegenwärtigen Form der Globalisierung wird China am stärksten treffen, denn seit mehr als vier Jahrzehnten erntet es die Früchte dieser Globalisierung. Wenn man durch das heutige China reist, vergisst man leicht die einstige Armut des Landes. 1979 lag die jährliche Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung bei 210 Dollar; 2018 bei 9430 Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt stieg in diesem Zeitraum von 178 auf 13 600 Milliarden Dollar. 2017 produzierte China mit 24,8 Millionen die meisten Fahrzeuge weltweit; eine Steigerung um das 112-Fache gegenüber 1980.
Dieser dramatische Aufstieg hatte Auswirkungen auf die Produktion andernorts: In vielen alten Industriegebieten der OECD-Länder – von Nord- und Mittelengland über das Ruhrgebiet und Norditalien bis hin zu den alten Industrieregionen der USA – führte er zu einer Schneise der Verwüstung. In den letzten Jahren lässt sich jedoch eine Gegenreaktion beobachten, die inländischer Produktion wieder den Vorzug gibt. Dieses Ziel verfolgt US-Präsident Trump mit seiner Wirtschaftspolitik – heute befürworten 71 Prozent der Amerikaner die Rückverlagerung der Produktion aus China in die USA. Und die Covid-19-Krise hat diesen Trend auch in europäischen Ländern massiv beschleunigt.
Im Jahr 2020 könnten die OECD-Länder an einem Wendepunkt ihrer internationalen Wirtschaftsbeziehungen stehen. Eine neue Betonung der sozialen Nachhaltigkeit in Verbindung mit dem Ziel, die Abhängigkeit von China zu verringern, könnte sich in vielen Gesellschaften als populär erweisen.
Die SARS-CoV-2-Krise wird zu einer Abkehr von den etablierten Handels- und Produktionsstrukturen führen. Die Gründe für diesen Wandel sind eher politischer als mikroökonomischer Natur. Die Rivalität zwischen den USA und China wird sich angesichts der Verwüstungen, die das Virus verursacht hat, verschärfen. Heute gibt es im amerikanischen politischen System parteiübergreifende Unterstützung für eine harte Haltung gegenüber China. Die Geschäftswelt mag nicht alle politischen Bedenken Trumps teilen, aber sie wird sich einer Neuausrichtung der US-Wirtschaftspolitik nicht widersetzen und die Produktion aus China in andere Volkswirtschaften verlagern. Und auch die Bevölkerung ist kritisch: Neun von zehn Amerikanern sehen China als Bedrohung, für 62 Prozent ist die Volksrepublik sogar eine erhebliche Bedrohung, so die Ergebnisse einer im März durchgeführten Umfrage des Pew Research Center.
Ein systemischer Rivale
Auch wenn in Europa die Wahrnehmung der Volksrepublik nach wie vor positiver ist, gibt es eine Neubewertung der Rolle Chinas. Während eines Besuchs in Peking im Sommer 2018 ließ der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Premierminister Li Keqiang wissen, dass die EU zwar nicht die Rhetorik und Methoden des US-Präsidenten teile, jedoch die meisten seiner wirtschaftspolitischen Ziele.
Lange Zeit war es für die Regierungen europäischer Staaten schwierig, eine angemessene Antwort auf Pekings aggressive Außen- und Außenwirtschaftspolitik zu finden. Dies hat sich aber geändert. Im März 2019 veröffentlichte die Europäische Kommission ein Dokument, das China ausdrücklich als „systemischen Rivalen“ bezeichnet.
Die politischen Führungen Europas haben verstanden, dass es gegenüber China keine Naivität mehr geben darf. Für die Industrie in der EU könnte dies eine willkommene Entwicklung sein. Wenn die politischen Entscheidungsträger künftig etwas weniger Wert auf wirtschaftliche Effizienz legen und bereit sein werden, der Produktion in Europa den Vorzug zu geben vor der Produktion in China, wäre dies positiv für die europäische Industrie. Aber negativ für die Konsumenten in der Europäischen Union: Die Zeiten billiger Importe aus China gingen dann zu Ende.
Nach der Corona-Krise wird es zu einer Neuorganisation der Lieferketten kommen und die derzeitige Abhängigkeit der OECD-Länder von China wird verringert werden. Bis vor Kurzem war vielen Politikern und Bürgern nicht bewusst, welch große Rolle China bei der Versorgung mit wichtigen Zulieferkomponenten, aber auch bei medizinischer Ausrüstung und Arzneimitteln spielt.
Heute hat China Indien als führenden Hersteller und Exporteur von pharmazeutischen Wirkstoffen abgelöst. Die Volksrepublik dominiert die globalen Lieferungen von Antibiotika, Vitaminen und Heparin; 2018 stammten 79 Prozent aller Antibiotika-Importe der USA aus China.
Die Covid-19-Krise wird zu einem höheren Grad an nationaler Selbstversorgung insbesondere bei Arzneimitteln führen. Im März 2020 richtete die europäische Arzneimittelagentur eine Lenkungsgruppe ein, die Ratschläge bei Versorgungsengpässen von medizinischem und pharmazeutischem Material erteilen soll. Der französische Pharmakonzern Sanofi will eine eigene Arzneimittelfirma in Europa gründen, um weniger abhängig von asiatischen Lieferanten zu sein.
Auf der ganzen Welt wurde die Abhängigkeit von China deutlich, als das Land Ende Januar 2020 mit seiner Abriegelung begann. Die südkoreanischen Hersteller Hyundai und Kia mussten die Produktion aussetzen, weil ihnen Komponenten aus China fehlten. In Japan waren Honda und Nissan gezwungen, die Produktion zurückzufahren. Der britische Hersteller Jaguar Land Rover flog Berichten zufolge Komponenten in Koffern von China nach Großbritannien, um die dortige Produktion aufrechtzuerhalten. Obwohl Chinas Anteil von 8 Prozent am Welthandel mit Autoteilen vergleichsweise gering ist, war er für einige Länder doch von entscheidender Bedeutung. 2018 stammten 29,3 Prozent aller nach Südkorea und 35,7 Prozent aller nach Japan importierten Autoteile aus China. Die italienische und die deutsche Automobilindustrie sind mit 4,8 bzw. 3,7 Prozent deutlich weniger abhängig von Kraftfahrzeugteilen aus China.
In Europa sind Autoteile aus Italien bereits viel wichtiger als die aus China. Im Jahr 2018 stammten 7,3 Prozent aller Komponentenimporte für die deutsche Automobilindustrie aus Italien, was ein doppelt so hoher Anteil ist wie jener der chinesischen Importe von Autoteilen. Italien ist ein wichtiger Lieferant für alle europäischen Automobilhersteller, und der Anteil der in Italien hergestellten Teile an den gesamten Teileimporten reicht von 3,8 Prozent (Portugal) bis 12,3 Prozent (Slowenien).
In den Bereichen Pharmazeutika, Elektronik und Autokomponenten hat die Reorganisation der Lieferketten bereits lange vor der aktuellen Krise begonnen. Die beiden Haupttreiber sind die steigenden Arbeitskosten in China und die von der Trump-Regierung auf Importe aus China erhobenen Zölle. Natürlich wirken sich diese Zölle auch auf die Beschaffung von Komponenten aus. Wenn ein Produkt, beispielsweise aus Spanien für den Export in die USA, zu viele in China hergestellte Komponenten enthält, muss der Importeur den Handelskriegszoll zahlen.
Eine bislang wenig diskutierte Folge dieser Renationalisierung der Produktion wird die Rückkehr der Inflation sein. Wenn die OECD-Länder davon absehen, zahlreiche Güter von den billigsten, in der Regel ausländischen Anbietern zu kaufen und stattdessen auf inländische Güter zurückgreifen, werden die Preise steigen. Die lange Phase der billigen Importe, die für niedrige, zum Teil fallende Preise sorgten, ist also vermutlich vorbei.
Nach den traumatischen Erfahrungen der Krise werden die Bürgerinnen und Bürger der OECD-Länder wahrscheinlich eine begrenzte Reduzierung ihres Lebensstandards akzeptieren. Für viele Menschen wird eine zuverlässige Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern wichtiger erscheinen als eine stete Ausweitung des Konsums. Für Italien und andere hoch verschuldete Volkswirtschaften ist die wahrscheinliche Rückkehr der Inflation jedoch problematisch. Sie wird zu höheren Zinssätzen führen und damit steigen die Kosten des Schuldendiensts.
Die Regierungen der OECD-Länder fürchten, dass chinesische Unternehmen Schlüsseltechnologien in westlichen Ländern kaufen. Deshalb sind sie immer öfter bereit, den Export solcher Innovationen zu stoppen. 2015 scheiterte der Versuch eines chinesischen Investmentfonds, den amerikanischen Halbleiterhersteller Micron für 23 Milliarden Dollar zu kaufen. 2017 blockierte Präsident Trump eine 1,3 Milliarden Dollar schwere Übernahme der Lattice Semiconductor Corp. durch die chinesische Investmentfirma Canyon Bridge Capital Partners. Im selben Jahr wurde der Kauf des Halbleiterherstellers Qualcomm durch eine in Singapur ansässige Firma für 117 Milliarden Dollar verhindert. Viele europäische Volkswirtschaften kopieren den amerikanischen Ansatz und begrenzen ausländische Direktinvestitionen, um den Einfluss Chinas und die Nutzung technologischer Kenntnisse durch chinesische Investoren einzuhegen.
Ein europäisches Dilemma
Italien verfolgt eine andere Strategie und unterhält besonders intensive Beziehungen zu China. So unterzeichneten beide Länder im März 2019 eine Absichtserklärung über die Teilnahme Italiens an der „Belt and Road Initiative“. Davon erhofft sich die italienische Regierung dreierlei: einen erleichterten Marktzugang für Unternehmen und Produkte, verstärkte chinesische Investitionen in Italien sowie die Zusage Pekings, auch bei Finanzmarktturbulenzen italienische Anleihen zu kaufen. Mit dieser Erklärung unterstützt die italienische Regierung jedoch Chinas Bemühungen, einen Keil in das atlantische Bündnis zu treiben, und sie untergräbt die Bemühungen der EU, eine gemeinsame Position gegenüber Peking zu finden.
Die SARS-CoV-2-Krise hat in der italienischen Bevölkerung nicht dazu geführt, Zweifel an China zu nähren; sie hat vielmehr die seit Jahren bestehende Skepsis gegenüber der EU verstärkt. Mario di Stefano, Staatssekretär im Außenministerium, betonte die Vorteile der Lieferung von medizinischen Hilfsgütern aus China und erklärte, dass die Stärke Chinas bei der Herstellung dieser Güter die Notwendigkeit enger italienisch-chinesischer Beziehungen unterstreiche. Giovanni Tria, Wirtschaftsminister von Juni 2018 bis September 2019, sprach schon im März 2019 von einer „Brückenfunktion“ , die Italien zwischen China und den USA einnehmen könnte; Italien könne dazu beitragen, dem „konfrontativen Vorgehen“ der Supermächte ein Ende zu bereiten.
Angesichts der geopolitischen Lage besteht aber dennoch eine Chance, dass sich die europäische Integration mittelfristig als attraktiver erweisen könnte, als es den Anschein hat. Gegenwärtig verharrt die italienische Gesellschaft in einer unproduktiven Suche nach einem Sündenbock. Premier Giuseppe Conte schürt antideutsche Ressentiments mit der Andeutung, dass Italien von Ländern im Stich gelassen wurde, die am meisten vom europäischen Integrationsprozess profitieren. Zeitungskommentatoren in Deutschland beklagen sich, dass Conte die Opfer von Covid-19 für seine innenpolitische Agenda missbrauche. Der Premier setzt eine unheilvolle Politik fort, die Kommissionspräsident Barroso bereits 2014 in einem Interview kritisierte: Europa habe keine glänzende Zukunft, wenn die Gemeinschaft für alle Übel verantwortlich gemacht werde. Das alte Konzept – Europäisierung des Scheiterns, Nationalisierung der Erfolge – könne nicht ewig halten.
Die europäische Integration ist nach wie vor ein zerbrechliches Konstrukt. Man kann sich für oder gegen sie entscheiden, wie Großbritannien gezeigt hat. In einem geopolitischen Umfeld, das von der Konfrontation zwischen China und den USA geprägt ist und sein wird, könnte die europäische Integration für ihre Mitgliedsländer aber noch wichtiger werden als bisher. Der vermutlich lange anhaltende Konflikt zwischen China und den USA sowie die Verärgerung vieler Bürger über das hohe Maß an Abhängigkeit von China werden zu einer Neuorganisation der internationalen Wirtschaftsbeziehungen führen. Europas Wirtschaft kann von dieser Umgestaltung der Globalisierung profitieren, wenn es gelingen sollte, die Zerwürfnisse innerhalb der EU zu überwinden.
Prof. Dr. Heribert Dieter ist Director of Policy Research an der University of Hong Kong.
Internationale Politik 4, Juli/August 2020, S. 31-35