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01. Okt. 2006

Globales Schwergewicht

Erfordert Indiens wachsende weltpolitische Bedeutung eine Neudefinition seiner Außenpolitik?

Die veränderten nationalen und internationalen Konstellationen seit 1991 haben Indiens außenpolitischen Spielraum deutlich erhöht. Die Beziehungen zu den USA und China haben sich verbessert, es ist ein wirtschaftspolitischer Global Player. Sind Eigenständigkeit und Unabhängigkeit somit noch die richtigen Leitlinien für die Außenpolitik?

Kaum ein anderes Land hat so sehr von den veränderten internationalen Konstellationen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts profitiert wie Indien. Die Aufwertung Indiens zeigt sich im wirtschaftlichen, militärischen und politischen Bereich.

Die wirtschaftspolitischen Reformen seit 1991 haben das Wirtschaftswachstum erhöht, so dass Indien heute zusammen mit China als Wachstumsmotor der Weltwirtscaft gilt. Die Atomtests 1998 haben Indiens militärische Fähigkeiten und seinen Anspruch auf Gleichrangigkeit mit China untermauert. Trotz bestehender Restriktionen ist Indiens Status als Atommacht mittlerweile anerkannt. Im Zuge der außenpolitischen Neuorientierung nach 1991 hat Indien seine Beziehungen zu Großmächten wie China und den USA verbessert sowie strategische Partnerschaften mit Deutschland, Frankreich, Japan und der Europäischen Union (EU) vereinbart.

Indien als global agierende Macht ist keine neue Erscheinung. Seit der Unabhängigkeit 1947 hat Indien versucht, das internationale System und seine Institutionen zu gestalten. Indiens Rolle bei der Gründung der Blockfreien--Bewegung und des GATT in den sechziger Jahren zählt ebenso hierzu wie der erste Atomtest 1974, mit dem Indien seinen Anspruch unterstrich, gleichrangiges Mitglied im Konzert der Großmächte zu sein. Das Beharren auf Eigenständigkeit und die Frontstellungen des Ost-West-Konflikts haben aber Indiens globale Rolle während dieser Phase begrenzt. Der wirtschaftliche Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigte indirekt auch die Zahlungsbilanzkrise Indiens im Frühjahr 1991, in deren Folge die wirtschaftspolitischen Reformen eingeleitet wurden. Damit entwickelte sich Indien in den neunziger Jahren zu einem wirtschaftlich attraktiven Handelspartner, der es zuvor aufgrund seiner wirtschaftlichen Abschottung nie war. Diese veränderten nationalen und internationalen Konstellationen haben auch Indiens außenpolitischen Handlungsspielraum auf der internationalen Bühne deutlich erhöht.

Dennoch spricht einiges dafür, dass sich Indiens globale Politik trotz der veränderten Konstellationen nicht allzu sehr von der Phase vor 1991 unterscheiden wird. Im Vordergrund der indischen Außenpolitik steht wie bisher das Bemühen um Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Es gibt weiterhin einen parteiübergreifenden Konsens, dass Indien eine Großmacht und einer der Pole in einer multipolaren Weltordnung sein soll. Seit den neunziger Jahren verfolgt Indien eine Politik des „Balancing“. Dabei betont es in den Beziehungen zu den Großmächten die wirtschafts- und sicherheitspolitischen Gemeinsamkeiten, vermeidet aber eine allzu enge Anbindung an, Abhängigkeit von oder gar Allianzbildung mit einzelnen Ländern. Diese Politik hat im Kontext mit der neuen wirtschaftlichen Attraktivität Indiens internationale Rolle auf der Weltbühne in den neunziger Jahren deutlich erhöht.

Der geostrategische Kontext

Im Konzert der Großmächte hat Indien durch seine verbesserten Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu China seit den neunziger Jahren enorm profitiert. Die bilateralen Beziehungen zu den USA haben sich in allen Bereichen deutlich verbessert. Die USA sind mit weitem Abstand der wichtigste Handelspartner Indiens, die militärische Zusammenarbeit wurde durch Manöver zwischen den verschiedenen Teilstreitkräften deutlich ausgeweitet. Die Zusammenarbeit wird durch gemeinsame Interessen vorangetrieben, wie z.B. der Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder die Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofs. Einer der wichtigsten Antriebskräfte in dem Prozess der Annäherung ist der wachsende politische Einfluss der Non-Resident Indians (NRI) in den USA, die „Indien“ mittlerweile fest in den politischen Institutionen Washingtons verankert haben.

Die amerikanische Regierung unterstützt die Aufwertung Indiens, u.a. durch die 2004 begonnene Initiative „Next Steps for Strategic Partnership“ (NSSP). Im März 2005 betonte Präsident Bush, dass die USA Indien auf dem Weg zu einer Großmacht unterstützen werden. Mit dem Abkommen über die Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Atomenergie vom März 2006 hat die US-Regierung Indien de facto als erste Atommacht außerhalb des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) anerkannt und zugleich eine Diskussion über die Zukunft dieses Regimes entfacht. Im Hintergrund stehen strategische Überlegungen, die China langfristig als wichtigsten Wettbewerber und Konkurrenten der USA sehen und deshalb Indien als Gegengewicht aufbauen wollen.

Die offizielle Rhetorik über die wachsende Zusammenarbeit zwischen der „ältesten“ und der „größten“ Demokratie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Indien weit davon entfernt ist, als Juniorpartner oder Erfüllungsgehilfe der USA in Asien zu fungieren. So beteiligte sich Indien nicht an der Koalition der Willigen bei der Intervention im Irak und lehnt die von der Bush-Regierung forcierte Strategie der Demokratieförderung und des Regimewechsels ab. Somit wird Indien auch zukünftig seine Truppen nur unter einem Mandat der Vereinten Nationen in Krisenregionen entsenden.

Dass Indien sich seine außenpolitischen Handlungsspielräume offen hält, wird beim Blick auf die Beziehungen mit China offenkundig. Seit der Niederlage im Grenzkrieg 1962 standen die Rivalität mit China und das Bemühen um Gleichrangigkeit im Zentrum indischer Außenpolitik. Der Besuch Rajiv Gandhis in Peking 1988 läutete eine neue Phase der Annäherung zwischen beiden Staaten ein. Die Abkommen 1993 und 1996 haben den Status quo an der Grenze festgeschrieben und die bilateralen Spannungen durch vertrauensbildende Maßnahmen deutlich reduziert. Die gemeinsame Arbeitsgruppe zur Klärung der Grenzfrage hat mittlerweile einen Konsens über eine politische Lösung der Grenzfrage erzielt. Mit der Öffnung eines Passes in Sikkim 2006 werden sich auch die Handelsbeziehungen weiter verbessern. Seit Mitte der neunziger Jahre haben beide Staaten ihre wirtschaftlichen Beziehungen ausgebaut, so dass China mittlerweile zum zweitwichtigsten Handelspartner Indiens nach den USA geworden ist. Diese Entwicklungen haben in Indien einen Umdenkungsprozess in Gang gesetzt, der nicht mehr nur von der „China Fear“, sondern zunehmend vom „China Fever“ und den damit verbundenen wirtschaftlichen Möglichkeiten bestimmt wird. Beide Staaten teilen das Interesse an einer multipolaren Weltordnung und haben ihre internationale Zusammenarbeit verstärkt, trotz ihrer Rivalitäten z.B. in den Beziehungen zu Pakistan und Myanmar. Zwar konkurrieren Indien und China zunehmend um den Zugang zu Energiequellen, doch zielt das Abkommen vom Januar 2006 darauf ab, diese Konkurrenz langfristig durch eine stärkere Zusammenarbeit zu ersetzen. Zudem hat Indien mittlerweile ebenso einen Beobachterstatus in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) wie China in der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC). Darüber hinaus haben sich aus den früheren informellen Beratungen zwischen Russland, China und Indien mittlerweile offizielle Gespräche zwischen den Staats- und Regierungschefs entwickelt, wie am Rande des G-8-Gipfels in Sankt Petersburg im Juli 2006.

Ähnlich positive Entwicklungen zeigen sich in den Beziehungen Indiens zur EU und zur ASEAN. Da Indien bislang nicht Mitglied des ASEM-Prozesses ist, gibt es seit 2000 bilaterale Gipfeltreffen mit der EU. 2004 vereinbarten beide Seiten eine strategische Partnerschaft, der 2005 ein gemeinsamer Aktionsplan folgte. Um die wirtschaftlichen Beziehungen noch weiter zu intensivieren, ist Indien sogar an einem Freihandelsabkommen mit der EU interessiert. Noch stärker ist das indische Engagement in Südostasien, wo es seine Beziehungen zur ASEAN und ihren Mitgliedsstaaten im Rahmen der 1994 verkündeten Look East Policy systematisch ausgebaut hat. 2003 unterzeichneten Indien und die ASEAN ein Freihandelsabkommen. Zudem hat Indien seine sicherheitspolitischen Beziehungen zu Singapur, Indonesien, Malaysia und Thailand intensiviert und patrouilliert im Rahmen des Antiterrorkampfs in der Straße von Malakka. Die Staaten der ASEAN sehen in der stärkeren Einbeziehung Indiens, u.a. in das ASEAN Regional Forum (ARF), auch ein Gegengewicht gegenüber einer möglichen chinesischen Dominanz in der Region.

Wenn die wirtschaftlichen Erfolge Indiens seine internationale Bedeutung verstärkt haben, dann ist der damit verbundene wachsende Energiebedarf eine Achillesferse dieser Entwicklung. Mit der Liberalisierung hat sich auch die Frage der Energiesicherheit in den neunziger Jahren zu einem zentralen außenpolitischen Interesse entwickelt. Indiens Energiebedarf wird in den nächsten Jahren die einheimischen Vorkommen bei weitem übertreffen und zu einer wachsenden Nachfrage auf dem Weltmarkt führen. Bereits heute muss Indien ca. 60 Prozent seines Rohölbedarfs importieren. Schätzungen der Regierung gehen davon aus, dass sich die Erdöleinfuhren in den nächsten Jahren auf bis zu 90 Prozent erhöhen werden. Indien wird damit auch im Energiebereich zu einem globalen Akteur, der seine Beziehungen zu den erdölreichen Staaten Asien, Afrika und Lateinamerika ausbauen muss.

Der multilaterale Rahmen

Indien fordert nicht erst seit der G-4-Initiative mit Deutschland, Brasilien und Japan einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UN. Es untermauert seinen Anspruch u.a. durch seine Größe und die Kontingente von Blauhelmsoldaten, die Indien der internationalen Gemeinschaft bei Kriseneinsätzen regelmäßig zur Verfügung stellt. Im Zuge der außenpolitischen Neuorientierung hat Indien in den neunziger Jahren schrittweise Abschied genommen von der Politik der Blockfreienbewegung. Forderte Indien als einer der Wortführer der Entwicklungsländer in den achtziger Jahren noch eine auf Umverteilung basierte „Neue Weltwirtschaftsordnung“, so unterstützte Indien nach 1991 die Institutionen des Weltwirtschaftsystems. Indien war 1995 Gründungsmitglied der WTO, zählt zur G-20, in der sich die Finanz- und Wirtschaftsminister der wichtigsten Industrie- und Entwicklungsländer treffen, und nimmt zusammen mit China und Brasilien regelmäßig an den Treffen der G-8 teil.

Indien hat seine Tradition der Süd-Süd-Kooperation den neuen internationalen Bedingungen angepasst. In den multilateralen Verhandlungsrunden stehen heute auch für Indien die eigenen Interessen, wie der Schutz seiner Bauern vor Agrarimporten oder eine weitere Liberalisierung des Dienstleistungssektors, im Vordergrund. Indien setzt auf eine Zusammenarbeit mit Staaten wie Brasilien und Südafrika und zählt in den WTO-Verhandlungsrunden zu den wichtigsten Gegenspielern der Industriestaaten. Indien steht auch dem Kyoto-Protokoll ablehnend gegenüber, da es durch die Umweltauflagen Einschränkungen seiner wirtschaftlichen Entwicklung fürchtet.

Dass Indien seine nationalen Interessen gegenüber internationalen Regimen durchzusetzen versucht, zeigt sich vor allem in seiner Haltung zum NVV. Obwohl sich Indien immer für nukleare Abrüstung eingesetzt hat, lehnt es bis heute den in seinen Augen diskriminierenden Vertrag ab. Mit seinen Atomtests 1974 und 1998 hat Indien seine militärischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt und zugleich seinen Anspruch auf Gleichrangigkeit mit den anerkannten fünf Nuklearstaaten untermauert. Deshalb steht für Indien ein Beitritt zum NVV als Nichtkernwaffenstaat außer Frage. Allerdings haben indische Regierungen wiederholt deutlich gemacht, dass sie Prinzipien des NVV wie Abrüstung und Nonproliferation unterstützen. So steht die indische Regierung auf Seiten der internationalen Gemeinschaft in den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm, obwohl der Iran im Energiebereich für Indien ein strategischer Partner ist.

Ausblick: Unabhängigkeit und Interdependenz

Als Folge der Wirtschaftsreformen von 1991 wird Indien mehr als je zuvor zu einer Weltmacht – im Sinne eines global agierenden Staates – werden. Die wachsende Integration des Landes in die Weltwirtschaft sowie die damit verbundene steigende Abhängigkeit von Energieimporten werden die Interdependenz Indiens mit dem internationalen System noch weiter steigern. Bislang liegt Indiens Weltmarktanteil noch bei unter einem Prozent. Die Aufrechterhaltung des hohen Wirtschaftswachstums ist notwendig, weil nur dadurch die Probleme von Armut und Unterentwicklung langfristig gelöst werden können. Indien ist durch die Reformen wirtschaftlich und politisch stärker, zugleich aber auch durch die wachsende Abhängigkeit von Energieeinfuhren verwundbarer geworden. Wachsende Interdependenz und Indiens zunehmende globale Bedeutung bedeuten neue Herausforderungen für die Außenpolitik. Die künftigen Probleme, von Sicherheit bis Ökologie, lassen sich aber nicht mehr von den Staaten allein, sondern nur im Kontext multilateraler Regime bewältigen. Damit stellt sich die Frage, ob Eigenständigkeit und Unabhängigkeit noch als Prinzipen und Leitlinien für die indische Außenpolitik im 21. Jahrhundert taugen. Die Annäherung an die USA hat innenpolitisch eine kontroverse Debatte über für künftige (Un-) Abhängigkeit der indischen Außenpolitik entfacht.

Trotz seines Großmachtanspruchs und seiner militärischen Kapazitäten ist Indien kein revisionistischer Staat, der mittels Gewalt versucht, eine Neuverteilung der internationalen Machtbalance zu seinen Gunsten herbeizuführen. Im Gegenteil: Die westliche Staatengemeinschaft teilt mit kaum einem anderen Land zwischen Israel und Japan so viele Interessen und Werte wie mit Indien. Es gibt innenpolitisch einen breiten Konsens über Demokratie, wirtschaftliche Reformen und den Schutz der Menschenrechte, selbst wenn deren Umsetzung nicht immer westlichen Vorstellungen entspricht. Außenpolitisch stützt Indien aktiv die bestehenden Strukturen des internationalen Systems. Indien ist damit in vielen außen- und sicherheitspolitischen Fragen ein wichtiger Partner für die westliche Staatengemeinschaft. Gerade im Vergleich mit China sind diese Gemeinsamkeiten in den Beziehungen des Westens zu Indien bislang nicht immer entsprechend gewürdigt worden. Allerdings ist Indien nicht automatisch ein „natürlicher Verbündeter“ des Westens, sondern wird auch zukünftig seinen eigenen Interessen in der Weltpolitik verfolgen.

Dr. habil. CHRISTIAN WAGNER, geb. 1958, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 14‑19

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