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01. Sep 2013

Die Zähmung der Widerspenstigen

Kann Pakistan die Taliban im eigenen Staat kontrollieren?

Lange hat Islamabad die Taliban in Afghanistan unterstützt, um in Kabul mitzuregieren, Indien herauszuhalten und den Zugang nach Zentralasien zu sichern. Doch das hat sich als Bumerang erwiesen: Heute bedrohen die pakistanischen Taliban den Staat. Im Interesse Pakistans wäre eine enge Zusammenarbeit mit der afghanischen Regierung.

Kein anderes Nachbarland Afghanistans wird vom Abzug der internationalen Truppen Ende 2014 so sehr berührt wie Pakistan. Doch wie die Folgen einzuschätzen sind, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Religiös konservative Kreise feiern bereits jetzt den Sieg über die verhasste Supermacht USA und den Westen und erwarten auch ein Ende des Terrors im eigenen Land. Moderate Stimmen warnen dagegen vor negativen Folgen. Sie befürchten ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs in Afghanistan, neue Flüchtlingsströme nach Pakistan sowie weitere terroristische Anschläge. Welche Interessen hat Pakistan in Afghanistan tatsächlich, und welche Mittel und Möglichkeiten, diese durchzusetzen?

Kein Erfolg bei den Taliban

Pakistan fällt eine wichtige Rolle im innerafghanischen Friedensprozess zu. Die Armee und der Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) haben seit Mitte der siebziger Jahre Aufstandsgruppen in Afghanistan unterstützt und verfügen deshalb über Verbindungen zu den afghanischen Taliban unter der Führung von Mullah Omar, dem innerhalb der Taliban-Bewegung autonom agierenden Haqqani-Netzwerk und der Islamischen Partei (Hezb-e Islami) des Warlords Gulbuddin Hekmatyar.

Für die pakistanische Regierung und Armeeführung waren die Taliban ab Mitte der neunziger Jahre ein idealer Partner, um ihre verschiedenen Ziele in Afghanistan zu verfolgen. Erstens war die islamistische Ausrichtung der mehrheitlich paschtunischen Taliban für Pakistan ein wichtiges Gegengewicht zu den ethno-nationalistischen paschtunischen Regierungen, die lange in Kabul regierten. Diese verweigerten seit der Unabhängigkeit Pakistans 1947 die ­Anerkennung der kolonialen Durand-Linie als Grenze, stimmten gegen die ­Aufnahme Pakistans in die Vereinten Nationen und erhoben seit den fünfziger Jahren wiederholt territoriale Ansprüche auf die paschtunischen Gebiete im Nordwesten Pakistans. Zweitens wollte die pakistanische Armeeführung nach dem Abzug der Sowjetunion Anfang 1989 in Afghanistan „strategische Tiefe“ für den nächsten Konflikt mit Indien gewinnen.1 In dieser Perspektive waren die Taliban ein wichtiger „Ordnungsfaktor“ in Afghanistan, die Pakistan zugleich den Zugang zu den neuen Märkten in Zentralasien sicherten. Drittens war die konservative sunnitische Ausrichtung der Taliban für Pakistan in der Auseinandersetzung mit dem Iran wichtig, der in Afghanistan verschiedene schiitische Minderheiten unterstützte.

Mit der Regierungsübernahme der Taliban in Afghanistan 1996 schien die pakistanische Strategie zunächst aufzugehen. Pakistan war einer von nur drei Staaten, die das Taliban-Regime international anerkannten und unterstützten. Allerdings konnte Islamabad seine Interessen in Afghanistan auch gegenüber den Taliban nicht durchsetzen. Sie waren nicht bereit, die Durand-Linie als Grenze anzuerkennen; sie verweigerten trotz pakistanischen Drängens 1998 die Auslieferung Osama Bin Ladens an die USA; und pakistanischen Einwänden zum Trotz sprengten sie die Buddha-Statuen in Bamiyan und isolierten sich damit international.

Ungleicher Krieg in den Stammesgebieten

Die Flucht der Taliban in die pakistanischen Stammesgebiete (Federally Administered Tribal Areas, FATA) nach ihrem Sturz 2001 führte ab 2004/05 zu ihrem militärischen Wiedererstarken in Afghanistan. Weil sie als potenzielle Verbündete Pakistans in Afghanistan gelten, wurden die afghanischen Aufstandsgruppen geduldet. Für Pakistan weitaus bedrohlicher war aber die Entstehung der pakistanischen Taliban, die sich 2007 zur Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) zusammenschlossen. Seit dieser Zeit kämpfen sie gegen die Armee und den pakistanischen Staat, die ihnen als Handlanger der USA gelten, mit dem Ziel der Errichtung eines Taliban-Staates in Pakistan. Afghanische und pakistanische Taliban-Gruppen sind durch tribale, ideologische und logistische Netzwerke eng miteinander verbunden.

Dass man in Pakistan zwischen „guten“, das heißt afghanischen, und „schlechten“, also pakistanischen Taliban-Gruppen unterschied, führte zu einem ungleichen Krieg in den Stammesgebieten. Die pakistanischen Streitkräfte bekämpfen vor allem die Tehrik-i-Taliban Pakistan, Kader der Al-Kaida und ausländische Terrorgruppen, unter anderem aus Zentralasien und China, die dort ebenfalls über Rückzugsgebiete und enge Verbindungen zur TTP verfügen. Die amerikanischen Drohnenangriffe richten sich vor allem gegen die afghanischen Taliban und die sie unterstützenden militanten Gruppierungen. Die zivilen Opfer der Drohnenangriffe haben die bilateralen Beziehungen zwischen Pakistan und den USA in den vergangenen Jahren schwer belastet. Die pakistanische Regierung und die Armee hatten zwar ihr Einverständnis für die Angriffe gegeben, dies jedoch offiziell immer wieder geleugnet.2

Während die pakistanische Armee in den Kriegen gegen Indien seit 1965 und im Kampf gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans in den achtziger Jahren militante Gruppen unterstützte, hat sie dagegen kaum eine wirkungsvolle Strategie zur Aufstandsbekämpfung entwickelt.3 So fordert der Einsatz der Luftwaffe und schwerer Artillerie gegen die TTP ebenfalls zivile Opfer und führt zu internen Flüchtlingsströmen.4 Die Armee hat im Kampf gegen die TTP hohe Verluste zu beklagen, kontrolliert aber mittlerweile, abgesehen von Nord-Wasiristan, große Teile der FATA. Durch ihre Verbindungen zu Al-Kaida und anderen militanten Gruppen haben die TTP das Schlachtfeld ausgeweitet und waren für eine Reihe von Anschlägen auf hochrangige Ziele verantwortlich, darunter das Armeehauptquartier in Rawalpindi.

Es fehlt: eine klare Linie

Aus westlicher Perspektive sollten die pakistanischen Verbindungen zu den afghanischen Aufstandsgruppen helfen, einen stabilen Verhandlungsrahmen zu etablieren, der die in den vergangenen Monaten entstandenen Gesprächsansätze internationaler Akteure ersetzen soll.5 Trotz aller Vorbehalte gestehen auch Vertreter des afghanischen Friedensrats Pakistan eine solche Rolle zu.6 Pakistan hat eine Reihe inhaftierter hochrangiger Taliban freigelassen, die als Kontaktleute zu den afghanischen Taliban fungierten. Die Eröffnung des ­Taliban-Verbindungsbüros in Doha gilt auch als Erfolg der pakistanischen ­Bemühungen im Vermittlungsprozess.

Angesichts der großen Opfer, die die pakistanische Armee und Gesellschaft in den vergangenen Jahren im Kampf gegen den Terror gebracht haben, hofft die neue Regierung von Nawaz Sharif (der nach der Wahl im Mai 2013 zum dritten Mal Premierminister wurde) und seiner Muslimliga (PML-N), dass sich eine friedliche Lösung in Afghanistan auch positiv auf die Sicherheitslage Pakistans auswirken wird. Allerdings ist unklar, welche Ziele die Regierung letztlich gegenüber Afghanistan und den Taliban verfolgt. Die frühere Außenministerin der Vorgängerregierung der Pakistan Peoples Party (PPP), Hina Rabbani Khar, sprach sich 2012 für ein „friedliches und stabiles, nicht notwendigerweise freundliches“ Afghanistan aus, was eine Abkehr von der jahrzehntelangen Politik der Intervention zu signalisieren schien. Die Vorschläge der neuen Regierung von Nawaz Sharif über eine mögliche föderale Aufteilung Afghanistans wurden im Juli 2013 in Kabul als neuerliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten kritisiert.7

In Pakistan gibt es bislang auch keine klare Linie zum Umgang mit der TTP. Die beiden Wahlsieger, Premierminister Nawaz Sharif und Imran Khan, dessen Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) die Landesregierung in der nordwestlichen Provinz Khyber-Pakhtunkhwa (KP) übernahm, hatten sich im Wahlkampf für Gespräche mit der TTP und die Einstellung der Drohnenangriffe ausgesprochen. Die Armeeführung hat jedoch deutlich gemacht, dass Gespräche nur im Rahmen der pakistanischen Verfassung stattfinden können, also erst, wenn die TTP die Waffen niederlegt. Sie fürchtet, dass Gespräche mit der TTP oder einzelnen verhandlungsbereiten Taliban-Gruppen bei einem gleichzeitigen Waffenstillstand deren Position stärken und zugleich die eigenen militärischen Erfolge der vergangenen Jahre in den FATA wieder zunichte machen könnten.

Eine politische Lösung des Konflikts mit der TTP in Pakistan ist vermutlich noch schwieriger zu bewerkstelligen als die Verhandlungen mit den Taliban in Afghanistan. Erstens ist die TTP nur ein loser Zusammenschluss verschiedener militanter Gruppen, zwischen denen es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. Zweitens hat die TTP keine erkennbare politische Agenda. Forderungen wie die Schaffung eines Taliban-Staates oder der Abbruch der Beziehungen zu den USA sind für Regierung, Armeeführung und die Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptabel. Drittens hat die TTP eine wichtige „Brückenfunktion“ im Netzwerk verschiedener terroristischer Gruppen.8 Ihre Logistik und Infrastruktur ist für militante Gruppen wie die Lashkar-e-Jhangvi (LeJ) von Bedeutung, die für zahlreiche Anschläge auf Schiiten in Pakistan verantwortlich ist; für lokale Taliban-Gruppen im Punjab und im Sindh sowie für Kader der Al-Kaida und die ausländischen Terrorgruppen in den Stammesgebieten. Um Gespräche mit der Regierung zu führen, müsste die TTP diese Verbindungen ebenso beenden wie ihre Anschläge auf gemäßigte Muslime und staatliche Einrichtungen, was wenig wahrscheinlich ist. In der Vergangenheit gab es bereits verschiedene Abkommen mit militanten Gruppen in den FATA, die allesamt gescheitert sind.9

Wie weiter mit den Taliban?

Diese Konstellation in Pakistan lässt für die Sicherheitslage in Afghanistan negative und positive Szenarien zu. Gespräche, Verhandlungen oder gar ein Abkommen mit der TTP, verbunden mit einem Waffenstillstand und der Einstellung der Drohnenangriffe, würden direkt oder indirekt auch die Position der afghanischen Aufstandsgruppen in den FATA stärken. Damit dürfte sich aber die Sicherheitslage in Afghanistan für die afghanische Regierung und die westlichen Truppen verschlechtern. Käme es zu einem Abkommen mit der TTP in Pakistan und gleichzeitig zur Einbindung der afghanischen Taliban in die Regierung in Kabul, würde beiderseits der Durand-Linie eine von Taliban kontrollierte, de facto staatsfreie Zone entstehen. Das wäre wohl nicht im Interesse Islamabads, Kabuls, ihrer Nachbarn und der internationalen Gemeinschaft. Wohl könnte die Beteiligung der Taliban aus der Perspektive pakistanischer Sicherheitskreise das umfangreiche wirtschaftliche und politische Engagement Indiens begrenzen – Indien ist schließlich der größte nichtwestliche Geber in Afghanistan und genießt, ganz im Unterschied zu Pakistan, eine überaus hohe Wertschätzung in der afghanischen Bevölkerung. Nach den bisherigen Erfahrungen zu urteilen darf man aber bezweifeln, dass die TTP ihre Angriffe auf den pakistanischen Staat im Falle eines solchen politischen Erfolgs einstellen würde.

Es ließe sich aber auch ein positives Szenario denken. Sowohl die afghanische als auch die pakistanische Regierung müssten eine politische Lösung mit den jeweiligen Taliban-Gruppen finden. Unter diesen Umständen könnten sich Islamabad und Kabul auf eine gemeinsame Einschätzung der Bedrohung durch die Taliban einigen und durch abgestimmte militärische Aktionen den Druck auf beiden Seiten erhöhen. Dass Afghanistan und Pakistan die Taliban so unterschiedlich bewerten, behindert seit Jahren den Ausbau der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen beiden Staaten. Mittlerweile haben nicht nur die afghanischen Taliban ihre Rückzugsgebiete in Pakistan – umgekehrt zieht sich auch die TTP auf afghanisches Gebiet zurück, was in den vergangenen Monaten wiederholt zu Grenzzwischenfällen führte,10 die die bilateralen Beziehungen weiter belasteten. Dass sich Afghanistan und Pakistan bei ihrer Einschätzung der Taliban annähern, mag zwar wenig wahrscheinlich sein. Auch hinge dies vor allem von der Entwicklung in Pakistan ab. Nawaz Sharif mit seiner konservativen PML-N wäre jedoch vermutlich der richtige Premier, um die zu erwartenden Proteste religiöser Parteien im Zaum zu halten.

Begrenzte Mittel und Möglichkeiten

Der Abzug der ISAF-Kampftruppen Ende 2014 wird die Zielkonflikte und begrenzten Möglichkeiten der pakistanischen Regierung gegenüber Afghanistan deutlich machen. Sie muss dort ihre strategischen Interessen gegenüber Indien sichern, einen neuen Bürgerkrieg verhindern, dessen Folgen vor allem Pakistan zu tragen hätte, die ungeklärte Grenzfrage regeln und letztendlich darauf hoffen, dass eine Befriedung Afghanistans auch die Sicherheitslage in Pakistan deutlich verbessern wird. Die pakistanische Außenpolitik verfügt aber kaum über Ressourcen, um diese Probleme anzugehen. Islamabads Afghanistan- und Indien-Politik setzte in der Vergangenheit zu sehr auf militärische Mittel und besaß zu wenig Kohärenz: Regierung, Sicherheitskräfte, religiöse Parteien und militante Gruppen verfolgten allzu oft jeweils nur ihre eigenen Ziele. Die schlechte wirtschaftliche Situation lässt der Regierung zudem wenig Raum für außenpolitische Initiativen, um die tief sitzenden Vorbehalte der Nachbarn abzubauen.

Diese Politik war ein Fehlschlag: Selbst in den Zeiten der Taliban-Herrschaft konnte Pakistan seine Ziele in Afghanistan nicht durchsetzen. Der Einfluss Pakistans auf die afghanischen Taliban dürfte deutlich geringer sein als häufig angenommen.11 Auch innenpolitisch war die Politik kontraproduktiv, denn eine Reihe von militanten Gruppen, die einst unterstützt wurden, haben sich mittlerweile verselbständigt und wenden sich, Frankensteins Monster gleich, heute gegen den pakistanischen Staat.12 Die angekündigte neue nationale Sicherheitspolitik muss deshalb zu einer größeren außenpolitischen Kohärenz von Regierung und Armee führen, was auch das sensible Thema der Kontrolle des ISI berührt.13 Zugleich muss eine politische Lösung im Konflikt mit der TTP angestrebt werden, an deren Ende die staatlichen Strukturen und Reformvorhaben in den FATA gestärkt und nicht zugunsten der Militanten geschwächt werden.

Dr. habil. Christian Wagner leitet die Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

  • 1Vgl. Husain Haqqani: Pakistan. Between Mosque and Military, Washington 2005, S. 289.
  • 2Drones “useful“, Pasha, The Nation, 11.7.2013.
  • 3Pakistan Institute for Peace Studies: Pakistan Security Report 2012, Islamabad 2013, S. 5.
  • 4Seth G. Jones und Christine C. Fair: Counterinsurgency in Pakistan, Santa Monica 2010, S. 72.
  • 5Nils Wörmer: Sondierungsgespräche und Friedensinitiativen in Afghanistan. Akteure, ihre Forderungen und Deutschlands Rolle als Vermittler, SWP-Aktuell A 70, Berlin, November 2012.
  • 6Tahir Khan: Stabilising Afghanistan: Pakistan has crucial role, peace negotiator, The Express Tribune, 1.4.2013.
  • 7 Pakistan angers Afghans by suggesting Taliban share power, Daily Times, 2.7.2013.
  • 8Pakistan Security Report 2012, a.a.O. (Anm. 3), S. 11.
  • 9M. Rana, S. Sial, A. Basit: Dynamics of Taliban Insurgency in FATA, Islamabad 2010.
  • 10Clash resumes on contested Afghan, Pakistan border area: Officials, The Express Tribune, 6.5.2013.
  • 11Baqir Sajjad Syed: FO defends Pakistan’s role in Afghanistan, Dawn, 2.7.2013.
  • 12Declan Walsh: Pakistan: Frankenstein military at war with its own monster – the Taliban, The Guardian, 12.10.2009.
  • 13Farooq Awan: Nawaz gets ISI “input“ on new security policy, Daily Times, 12.7.2013.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 38-43

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