Gleiche Ziele, andere Wege
Ein Porträt der Präsidenten von Chile, Venezuela und Brasilien
Lateinamerikas „linke“ Präsidenten Ricardo Lagos, Hugo Chávez und Lula da Silva setzen sich für mehr soziale Gerechtigkeit ein, fordern eine andere Globalisierung und beurteilen die Alleingänge der USA kritisch. Dennoch bestehen große Unterschiede zwischen den überzeugten, international anerkannten Demokraten Lagos und Lula und dem Populisten Chávez.
Stellvertretend für die unterschiedlichen Positionen Lateinamerikas zur Globalisierung stehen drei Länder, deren Präsidenten dem linken politischen Spektrum angehören: Chile, Venezuela und Brasilien. Ricardo Lagos, Hugo Chávez und Lula da Silva sind schon lange im politischen Geschäft und profitieren von, aus europäischer Sicht, traumhaften Wachstumsraten von über fünf Prozent. Trotz aller Unterschiede haben die drei Präsidenten eines gemeinsam: den Diskurs für mehr soziale Gerechtigkeit und eine andere Globalisierung. Der Weg, den sie gewählt haben, um dieses Ziel zu erreichen, ist jedoch nicht derselbe: Lula gilt als moderater Reformer und Vertreter der Schwellenländer, Chávez profiliert sich als neue Ikone der lateinamerikanischen Linken, und Lagos setzt sich für mehr internationale Spielregeln ein. Ebenso unterschiedlich ist ihre Position zur Globalisierung: Zu den Gegnern aus Überzeugung zählt Hugo Chávez, als Kritiker hat sich Lula da Silva profiliert, während Ricardo Lagos der Globalisierung eher positiv gegenübersteht.
Das Globalisierungsverständnis der drei Staatspräsidenten wird am Beispiel des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre deutlich, das im Februar 2005 zum fünften Mal stattfand. Hugo Chávez war der diesjährige Star der Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Gastgeber Lula erntete hingegen heftige Kritik in den Reihen der Linken. Der chilenische Staatspräsident Ricardo Lagos war gar nicht erst angereist. Ebenso unterschiedlich wie ihre Haltung zum Weltsozialforum ist der von den drei Präsidenten eingeschlagene Entwicklungsweg im eigenen Land.
Lagos: Plädoyer für eine gerechtere und geregelte Globalisierung
Der chilenische Staatspräsident Ricardo Lagos gilt als eine moralische Autorität im Land. Er ist nach Salvador Allende der zweite Sozialist im höchsten Staatsamt und, vergleichbar mit Lula, im Laufe der Jahre zu einem moderaten Sozialdemokraten mutiert. Der promovierte Ökonom und Jurist hat einige Jahre im europäischen Exil verbracht, führte die Oppositionsbewegung gegen Pinochet an und diente unter den demokratischen Regierungen Frei und Aylwin als Minister.
In seiner fünfjährigen Amtszeit hat Lagos zwar keine spektakulären Strukturreformen durchgeführt, aber durchaus einschneidende Veränderungen im eigenen Land bewirkt, darunter die Verabschiedung eines Scheidungsgesetzes und die Einsetzung einer Wahrheitskommission zur Aufdeckung der Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur. Im Zuge der Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit sollen die Opfer der Diktatur in Chile nun erstmals staatliche Entschädigungen erhalten.
Stärker noch als in Brasilien ist die politische Haltung von Ricardo Lagos durch die langen Jahre im Exil stark von europäischen Vorstellungen und hier insbesondere von der deutschen Sozialdemokratie beeinflusst. Soziale Gerechtigkeit, das Prinzip der gleichberechtigten Partnerschaft und der Glaube an internationale Institutionen und Regeln bestimmen seine Vision der Globalisierung. Deutlich wurde dies anlässlich seines Deutschland-Besuchs Ende Januar 2005, als Lagos auf die Diskrepanz zwischen der fortschreitenden Globalisierung der Märkte auf ökonomischer Ebene und der Stagnation des multilateralen Systems im politischen Bereich hinwies. Seine Rede war eine moralische Verurteilung der von den USA betriebenen „Politik des Stärkeren“ und ein Plädoyer zugunsten einer multipolaren, auf internationalen Institutionen, weltweiten Normen und Rechtsstaatlichkeit beruhenden Welt, denn „Länder wie Chile ziehen den Rechtsstaat dem Machtstaat vor“.1 All dies steht im Einklang mit dem europäischen Wertesystem und unseren Vorstellungen von einer neuen Weltordnung.
Seinen politischen Ausdruck fand die Haltung des Präsidenten im UN-Sicherheitsrat während der Irak-Debatte, als sich Chile, zusammen mit dem ebenfalls temporären Mitglied Mexiko, gegen einen Krieg aussprach. Dies war nicht zuletzt deshalb erstaunlich, da Chile, wenn auch nicht im gleichen Maße wie das NAFTA-Mitglied Mexiko, enge Beziehungen zu den USA unterhält und als einziges lateinamerikanisches Land ein bilaterales Freihandelsabkommen mit Washington unterzeichnet hat. Sanktionen seitens der USA hat die chilenische Position – entgegen zeitweiliger Befürchtungen, der US-Kongress würde das Freihandelsabkommen blockieren – nicht nach sich gezogen.
Der 15-Millionen-Einwohner-Staat Chile gehört zusammen mit Brasilien, Mexiko und Argentinien zu den vier wichtigsten Ökonomien Lateinamerikas. Durch seine wirtschaftliche und politische Stabilität bildet Chile in der Region eine Ausnahme und gilt im Ausland als ein sehr verlässlicher Partner. Seit Beendigung der Diktatur 1990 produziert das Land kontinuierlich hohe Wachstumsraten (im vergangenen Jahr 5,7 Prozent), verzeichnet einen Exportboom und einen hohen Investitionsstand, die Sparquote ist überdurchschnittlich hoch, und mit 20 Prozent – die Hälfte des regionalen Durchschnitts – hat Chile zudem die niedrigste Armutsquote Lateinamerikas. Das Geheimnis der chilenischen Erfolgsstory sind gut funktionierende Institutionen, eine leidliche Infrastruktur und ein drakonisches wirtschaftliches Sanierungsprogramm, das noch unter General Pinochet durchgesetzt wurde.
Ökonomisch gesehen nutzt Chile mit Hilfe einer rein marktwirtschaftlichen Politik erfolgreich die Nischen der Globalisierung für die Länder der „Peripherie“. Chile hat die – im Sinne des Washingtoner Konsenses – neoliberale Wirtschaftspolitik der Militärdiktatur, unter Einbeziehung einer humaneren Sozialpolitik, auch unter den nachfolgenden demokratischen Regierungen weitgehend beibehalten. Gleichzeitig ist Chile durch Freihandelsverträge mit unterschiedlichen Partnern nicht nur eine Diversifizierung seiner Handelsbeziehungen, sondern (mit Abstrichen) auch seiner Produktionsstrukturen gelungen. Ebenso wie Mexiko ist Chile allerdings extrem abhängig vom Exportgeschäft, das 60 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts ausmacht.
Trotz seiner im regionalen Vergleich erfolgreichen Politik ist der Einfluss des kleinen südamerikanischen Landes in Lateinamerika traditionell begrenzt. Der „Musterstaat“ Chile ist kein Vorbild für andere Staaten des Subkontinents, sondern eher eine Ausnahmeerscheinung in einer immer wieder von wirtschaftlichen und politischen Krisen gekennzeichneten Region. Zwar spielt das Land eine aktive Rolle in der lateinamerikanischen Rio-Gruppe, ist assoziiertes Mitglied des Mercosur. Durch seine Politik der wechselnden Allianzen und das Freihandelsabkommen mit den USA hat Chile jedoch einen eigenständigen Weg gewählt und bleibt in Lateinamerika trotz einer sehr aktiven Außenpolitik relativ isoliert.
Erst unter der Regierung Lagos hat eine stärkere außenpolitische Bezugnahme auf die eigene Region stattgefunden. Durch die Entsendung von Friedenstruppen engagiert sich Chile u.a. bei der Stabilisierung Haitis. Im Rahmen des Mercosur und der im Dezember 2004 gegründeten „Südamerikanischen Staatengemeinschaft“ wurde die Allianz der einstigen ABC-Staaten (Argentinien, Brasilien und Chile), nicht zuletzt durch die Affinitäten ihrer jeweiligen sozialdemokratisch orientierten Regierungen, wieder gestärkt.
Darüber hinaus hat Chile sein Prestige in der Region durch die Wahl von Miguel Insulza zum Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erhöht. Der angesehene Innenminister und Parteigenosse Lagos wurde von Südamerika (mit Ausnahme Boliviens) favorisiert; im April trat er gegen den mexikanischen Außenminister Luis Ernesto Derbez an, fünf Wahlgänge endeten jeweils mit einem Unentschieden. Der Kandidat der USA, der salvadorianische Expräsident Francisco Flores, hatte sich mangels Unterstützung schon vorzeitig zurückgezogen. Mit der Wahl von Insulza vom 2. Mai wird das Profil Chiles und Südamerikas auf dem amerikanischen Kontinent sicherlich gestärkt.
Um sein Werk zu vollenden, verbleiben Lagos nur noch Monate, denn im März 2006 endet seine Amtsperiode. Ersetzt werden könnte er durch eine Frau in den eigenen Reihen: Verteidigungsministerin Michelle Bachelet, die sich Umfragen zufolge bei den Wahlen im Dezember 2005 sowohl gegen die christdemokratische Herausforderin und Außenministerin Soledad Alvear als auch gegen den Kandidaten des Rechtsbündnisses durchsetzen könnte.2 Es wäre das erste Mal, dass in Chile eine Frau das Präsidentenamt übernimmt, nahezu eine Revolution in einem Land, das erst vor kurzem ein Scheidungsgesetz verabschiedet hat. Der fortschreitende Modernisierungs- und Demokratisierungsprozess des Landes ist nicht zuletzt das Verdienst von Ricardo Lagos, der durch seinen persönlichen Werdegang und seine politischen Überzeugungen für ein demokratischeres und gerechteres Chile steht.
Hugo Chávez: die neue Ikone der Globalisierungsgegner
Durch Präsident Hugo Chávez hat der lateinamerikanische Linkspopulismus eine Renaissance erfahren. Der einstige Militär, der einen alternativen Sozialismus propagiert, wird von Teilen der lateinamerikanischen Linken als neuer Befreier Lateinamerikas gefeiert. Chávez zieht einen Großteil seiner innen- und außenpolitischen Legitimation aus dem Diskurs gegen den Imperialismus und das kapitalistische System. Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre war er der eigentliche Protagonist. In seiner mehrstündigen Rede vor einem ideologisch eingestimmten Publikum nannte Chávez die USA „die größte negative Kraft der Welt“, und zuvor hatte er Außenministerin Condoleezza Rice als „Analphabetin“ bezeichnet.
Bei jeder Gelegenheit profiliert sich Chávez als Gegner der Globalisierung, des Neoliberalismus und einer kontinentalen Freihandelszone ALCA, die er als „neokoloniales, imperialistisches Projekt“ der USA bezeichnete.3 Seine politischen Vorbilder sind Che Guevara und Fidel Castro; die von ihm meistzitierte historische Figur ist der nationale Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar, den er zum Symbol seiner politischen Bewegung machte. Chávez ist zudem ein überzeugter Katholik und Bewunderer des argentinischen Populisten Domingo Perón.
Vor seinem Wahlsieg brachte es der 51-jährige Chávez im Laufe seiner Militärkarriere zum Oberstleutnant und rundete seine politischen Ideen durch einen Master in Politikwissenschaft ab. Sein Einstieg in die Politik begann bereits 1982, als Chávez die zivil-militärische „Bolivarianische Bewegung“ gründete. Zehn Jahre später versuchte er durch einen Putsch an die Macht zu kommen; dies gelang ihm schließlich 1998 durch seinen überraschenden Wahlsieg. Seit seiner Amtsübernahme hat Chávez eine umfassende Staats- und Verfassungsreform durchgesetzt.4
Außenpolitisch versucht er, die traditionell enge Partnerschaft mit den USA durch eine stärkere Anbindung an die Region und die Länder des Südens zu ersetzen. Auch in der OPEC spielt das Gründungsmitglied Venezuela eine aktive Rolle, indem es sich für konstant hohe Weltmarktpreise und eine Drosselung der Produktion einsetzt. Denn, Chávez zufolge, ist die OPEC die „Waffe der Entwicklungsländer“. Wirtschaftlich gesehen verschafft Chávez der hohe Weltmarktpreis für Erdöl, der für das spektakuläre Wirtschaftswachstum von 18 Prozent im Jahre 2004 verantwortlich war, neue innen- und außenpolitische Spielräume. Kooperationsverträge mit China, Iran, Russland und Libyen im Bereich der Energiepolitik sowie jüngste Waffengeschäfte mit Brasilien, Russland und Spanien machen Venezuela aus Sicht der Vereinigten Staaten zu einem immer weniger berechenbaren Partner.
Geändert hat sich im eigenen Land seit Chávez’ Amtsübernahme 1998 jedoch nicht allzu viel. Zwar unterstützt der Präsident die Verteilung des Landbesitzes und will den Abnehmerkreis des Erdöls zuungunsten der USA diversifizieren, die marktwirtschaftlichen Grundlagen hat er bislang jedoch ebenso wenig angetastet wie die Grundrechte ausländischer Investoren im Land. Zu sehr ist Venezuela auf die Unterstützung aus dem Ausland und insbesondere auf den ungeliebten Partner USA angewiesen, denn das Land exportiert zwei Drittel seines Erdöls in die Vereinigten Staaten, die einen Anteil von mehr als 50 Prozent an seinem Außenhandel haben. Die Aufkündigung der Wirtschaftsbeziehungen mit den USA wäre, zumindest kurzfristig, ein Eigentor für Venezuela und könnte nicht zuletzt auch das Ende der politischen Karriere von Staatspräsident Chávez bedeuten.
Dennoch spitzt sich der latente Konflikt mit den USA zu. Nach wiederholten Ankündigungen des Präsidenten, den USA den Ölhahn abzudrehen, gewann der Ton der Bush-Regierung gegenüber der venezolanischen Regierung an Schärfe. Außenministerin Condoleezza Rice nannte Chávez eine „negative Kraft“ in Lateinamerika und, besorgt über die neuen Töne aus Caracas, hat der amerikanische Kongress eine Studie zu den Folgen einer möglichen Einstellung der Erdöllieferungen aus Venezuela in Auftrag gegeben. Fest steht, dass es Washington trotz Unterstützung der Opposition und möglicher Beteiligung der CIA am Putschversuch im April 2002 nicht gelungen ist, Chávez aus dem Amt zu drängen. Durch das von der Opposition initiierte Referendum, das nach langem Hin und Her schließlich im August 2004 stattfand, hat der Präsident paradoxerweise an demokratischer Legitimation gewonnen und dürfte sich nun bis 2007 im Amt halten. Ob sich die USA zu Sanktionen oder anderen Strafmaßnahmen gegen Venezuela durchringen werden, ist sicherlich auch davon abhängig, ob Chávez seine Androhungen wahrmacht und welche Konsequenzen dies für die USA hätte.
Chávez aggressiver antiimperialistischer Diskurs geht einher mit einem wachsenden Engagement in Lateinamerika durch eine engere Allianz mit Fidel Castro sowie mit den moderaten Linksregierungen in Argentinien und Brasilien. Mit Argwohn beobachtet Washington Venezuelas Allianz mit Castros Inselstaat, die im Jahre 2000 durch das Tauschgeschäft Öl gegen Ärzte und Lehrer aus Kuba vertraglich besiegelt wurde. Gleichzeitig sucht Venezuela eine stärkere Anbindung an die südamerikanischen Nachbarstaaten. Die Assoziierung mit dem Mercosur und die Teilnahme an den südamerikanischen Gipfeltreffen, das Projekt, einen lateinamerikanischen Erdölkonzern Petrosur zu schaffen oder aber Chávez Gegenentwurf zur ALCA – die so genannte „Alternativa Boliviariana para la América Latina“ (ALBA, „Sonnenaufgang“) – sind Beispiele für eine Lateinamerikanisierung der venezolanischen Außenpolitik mit dem Ziel, eine regionale Position zur Globalisierung aufzubauen. In diesem Sinne gibt es durchaus Gemeinsamkeiten mit dem benachbarten Brasilien.
Lula: Globalisierung anders gestalten
Mit Lula wählte Brasilien 2002 erstmals in der jüngeren Geschichte des Landes einen linken Präsidenten. Luiz Inácio Lula da Silva blickt auf eine geradezu vorbildliche Karriere eines lateinamerikanischen Linksaktivisten zurück: Der ehemalige Metallarbeiter aus dem armen Nordosten Brasiliens war langjähriger Gewerkschaftsvorsitzender, Mitbegründer der Linkspartei Partido dos Trabalhadores (PT) und Oppositionsführer. Sein politischer Werdegang verschafft dem 59-Jährigen, trotz aller Kritik, Glaubwürdigkeit und einen Vertrauensvorschuss, der noch immer nicht aufgebraucht ist.
Seine Regierung ist gekennzeichnet von Kontinuität nach innen und Wandel nach außen. Im Gegensatz zu Chávez hat sich Lula, zur Enttäuschung der linken PT-Anhänger, nicht als lateinamerikanischer Linkspopulist mit antiimperialistischem Diskurs erwiesen, sondern als ein Pragmatiker, der, vergleichbar mit Lagos, in den gesetzten Grenzen eine Politik des Machbaren betreibt. Wer sich eine rasche Lösung der eklatanten sozialen Probleme des Staates mit 175 Millionen Einwohnern erwartete, wurde bitter enttäuscht. Wie sein Vorgänger Fernando Henrique Cardoso setzt die Regierung Lula auf wirtschaftliches Wachstum und eine restriktive Haushaltspolitik. Durch seinen Realismus und eine Politik der Allianzen (u.a. mit der konservativen Partei PMDB) hat sich Lula den Ruf eines lateinamerikanischen Tony Blair erworben.5 Kritiker sprechen ironisch von einer „dritten Amtsperiode“ seines Amtsvorgängers Cardoso, und Parteigenossen bezeichneten Lula auf dem diesjährigen Weltsozialforum als „Verräter“.
Lulas ambivalente Position zur Globalisierung kommt allein dadurch zum Ausdruck, dass er seit seinem Wahlsieg sowohl am Weltsozialforum in Porto Alegre als auch am Weltwirtschaftsforum in Davos teilnimmt. Auf internationalen Foren vertritt Lula eine eigenständige, pragmatische Position gegenüber den Herausforderungen der Globalisierung. Im eigenen Land setzt er die Politik seines Vorgängers Cardoso fort; dabei ist es ihm gelungen, wichtige Reformen (u.a. des Renten- und Steuersystems) zu verabschieden und gleichzeitig neue Sozialprogramme zu schaffen. Das bekannteste Beispiel für letzteres ist sein Antihungerplan Fome Zero, von dessen guten Absichten zwar im Sumpf der brasilianischen Bürokratie wenig übrig geblieben ist,6 der aber durch die nationale Kampagne der Regierung einen Mentalitätswandel in der traditionellen brasilianischen Elite bewirkt hat.
Im Bereich der Außenpolitik nimmt Brasilien erstmals eine aktive, von den Nachbarstaaten weitgehend akzeptierte, regionale Führungsrolle wahr. Mit Lula ist die brasilianische Außenpolitik offensiver, ehrgeiziger und unabhängiger geworden. Brasilien hat die Herausforderungen der Globalisierung angenommen und gestaltet den Prozess als einziges lateinamerikanisches Land aktiv mit. Dabei handelt Brasilien zwar vorwiegend als kooperative Führungsmacht in Abstimmung mit anderen Staaten des Südens, versucht aber auch, nationale Eigeninteressen durchzusetzen.7 So findet Brasiliens historischer Großmachtanspruch gegenwärtig Ausdruck in den Bemühungen um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Um dieses Ziel durchzusetzen, hat Brasilien zusammen mit Deutschland, Japan und Indien die Gruppe der Vier gegründet.
Das strategische Ziel der brasilianischen Außenpolitik besteht darin, den Schwellen- und Entwicklungsländern ein größeres Stimmrecht zu verschaffen und den Interessen des Südens größeres Gewicht in internationalen Foren wie den Vereinten Nationen und der WTO zu geben. Zu diesem Zweck hat Brasilien neue Bündnisse geschlossen. Beispiele hierfür sind die Gründung der Gruppe der Drei mit den Regionalmächten Indien und Südafrika, die Gruppe der 20 Schwellen- und Entwicklungsländer innerhalb der WTO sowie die Übernahme einer brasilianischen Führungsrolle im Mercosur und bei den Freihandelsverhandlungen mit der EU und den USA. Auch die im Dezember 2004 im peruanischen Cuzco gegründete „Südamerikanische Staatengemeinschaft“8 geht auf eine brasilianische Idee zurück.
Die neuen Initiativen zeigen, dass Integration und Zusammenarbeit für Präsident Luiz Inácio Lula da Silva die besten Antworten auf die Globalisierung sind. Brasiliens Allianz des Südens beruht auf einer Kooperation der konzentrischen Kreise: Den Kern bildet der Mercosur, das regionale Umfeld die Südamerikanische Staatengemeinschaft, dann folgt international die Gruppe der Drei mit Indien und Südafrika, und den großen Rahmen bildet die Gruppe der 20 Schwellen- und Entwicklungsländer innerhalb der WTO.
Südamerikanische Allianz als Antwort auf die Globalisierung?
Ein integriertes Südamerika ist der gemeinsame Nenner, der Chávez, Lagos und Lula trotz aller Unterschiede im Hinblick auf die Globalisierung verbindet. Für Brasilien sind Chile und Venezuela, neben der strategischen Allianz mit dem Nachbarn Argentinien, durch ihre Wirtschaftskraft und Ressourcenvielfalt die bedeutendsten südamerikanischen Allianzpartner. Alle drei Länder haben ihre Zusammenarbeit verstärkt. Chile und Venezuela sind sowohl assoziierte Mitglieder des von Brasilien angeführten Mercosur als auch Teil der neuen Südamerikanischen Staatengemeinschaft.
Im Rahmen dieser beiden Foren schreitet der südamerikanische Integrationsprozess voran: Seit 2000 finden jährliche Gipfeltreffen statt, ein regionales Infrastrukturprojekt (IIRSA) soll die Vernetzung zwischen den zwölf Staaten verbessern und eine Freihandelszone zwischen Mercosur und Andengemeinschaft – die von Brasilien angestrebte SAFTA – ist geplant. Langsam aber stetig entsteht in Südamerika ein von Brasilien dominierter Gegenentwurf zur gesamtamerikanischen ALCA/FTAA, der nach dem Verstreichen des Stichtags 1. Januar 2005 immer weniger Realisierungschancen eingeräumt werden. Die neue Südamerikanische Staatengemeinschaft besiegelt eine bereits in den neunziger Jahren erfolgte Abgrenzung zu Nord- und Zentralamerika einschließlich Mexikos.
Ähnlich wie der europäische wird auch der südamerikanische Integrationsprozess von Regierungen gelenkt und ist deshalb in erheblichem Maße von politischen Konjunkturen abhängig. Zweifellos wird ein südamerikanisches Bündnis durch gewisse politische Affinitäten zwischen den derzeitigen Präsidenten in Brasilien, Chile und Venezuela begünstigt. Andere Gemeinsamkeiten werden jedoch allein dadurch relativiert, dass sie ein höchst unterschiedliches „institutionelles“ Spektrum der Macht in Lateinamerika repräsentieren: Der ehemalige Metallarbeiter Lula kommt aus der Gewerkschaftsbewegung, Oberstleutnant a.D. Chávez steht stellvertretend für das Militär und der Sozialdemokrat Lagos für die politischen Parteien.
Die Beziehungen zwischen Brasilien und Chile basieren auf Kooperation und persönlicher Wertschätzung der Präsidenten. Anlässlich eines Staatsbesuchs in Chile bezeichnete Lula seinen Amtskollegen Lagos als einen anerkannten Staatsmann, den er als Person und Politiker bewundere, und der eine großartige Arbeit für ein gerechteres und demokratischeres Chile leiste.9 Lagos wiederum sieht Brasilien aufgrund seiner wirtschaftlichen Größe und Bevölkerungszahl als das eigentliche Sprachrohr Südamerikas. Beispiele für die Vertiefung der bilateralen Zusammenarbeit sind die gemeinsame Leitung der Friedensmission in Haiti, die brasilianische Unterstützung für OAS-Generalsekretär Insulza und die chilenische Zustimmung zu einem ständigen Sitz Brasiliens im UN-Sicherheitsrat.
Mit Ausnahme des gemeinsamen Interesses an einer Integration Südamerikas gibt es für eine ideologische Allianz zwischen Brasilien und Venezuela keine Grundlage. Zu unterschiedlich sind die jeweiligen nationalen Projekte und politischen Vorstellungen der Präsidenten Lula und Chávez. Während Chávez’ demokratische Gesinnung zweifelhaft ist, hat Brasilien unter der Regierung Lula in Südamerika die Rolle eines Schiedsrichters und Schlichters zugunsten der repräsentativen Demokratie übernommen. Beispiele hierfür waren die Beilegung der Regierungskrise in Bolivien und die Gründung der „Freundschaftsgruppe Venezuela“ unter brasilianischer Leitung, in der auch Chile vertreten ist.
Trotz einiger Berührungspunkte – wie eine kritische Haltung gegenüber der Globalisierung und den Alleingängen der USA – haben sowohl Lagos als auch Lula mit dem Populisten Chávez politisch gesehen wenig gemeinsam. Die Präsidenten Brasiliens und Chiles sind überzeugte Demokraten, werden international anerkannt und respektiert, waren lange Zeit in der Opposition und haben im Laufe der Zeit einen pragmatischen Wandel von sozialistischen zu moderat sozialdemokratischen Positionen vollzogen.
Demgegenüber ist der Populist Chávez ein politisch unberechenbares Enfant terrible der internationalen Politik, der selbst innerhalb der eigenen Region nur über bedingten Rückhalt verfügt und dessen Allianz mit Kuba im Ausland mit wachsender Skepsis verfolgt wird. Eine neue „Achse der Macht“ gegen die USA, wie sie Chávez propagiert, ist trotz des momentanen Links trends in Südamerika (Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay und Venezuela), der vor allem auf die eklatanten sozialen Verwerfungen zurückzuführen ist, nicht zu erkennen.
1 Rede des Präsidenten der Republik Chile über die Bedeutung des Multilateralismus im internationalen System. Friedrich-Ebert-Stiftung, 16.2.2005, S. 1 und 6.
2 Vgl. Michael Radseck, Georg Strüver: Ergebnisse und Folgen der jüngsten Kommunalwahlen im Lichte der anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Chile, Brennpunkt Lateinamerika (Januar 2005), Hamburg, S. 13–24.
3 Wörtlich ließ Chávez auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre verlauten: „Die ALCA ist tot, es gibt jetzt Alquitas“ (in Anspielung auf die bilateralen Freihandelsabkommen der USA mit lateinamerikanischen Partnern).
4 Vgl. Susanne Gratius: Venezuela: Staatszerfall in einem polarisierten Land, in: Ulrich Schneckener (Hrsg.): States at Risk. Fragile Staaten als Sicherheits- und Entwicklungsproblem (SWP-Studie 43) Berlin, November 2004, S. 84–105.
5 So heißt es in einem Essay des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa.
6 Vgl. Wilhelm Hofmeister: Zur Halbzeit ein halber Erfolg. Das zweite Regierungsjahr von Präsident Lula da Silva in Brasilien, Focus Brasilien, Februar 2005, Rio de Janeiro, S. 7.
7 Vgl. Susanne Gratius: Die Außenpolitik der Regierung Lula: Brasiliens Aufstieg von einer diskreten Regional- zu einer kooperativen Führungsmacht (SWP-Studie 7), Berlin, März 2004.
8 Siehe hierzu Günther Maihold: Die Südamerikanische Staatengemeinschaft: Ein neuer Partner für die EU in Lateinamerika? (SWP-Aktuell 60), Berlin, Dezember 2004.
9 Zitiert nach der chilenischen Tageszeitung La Tercera, 20.8.2004.
Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 76 - 83