Geologie des Säkularen
Warum der Glaube im Westen nur noch eine Option unter vielen ist
In westlichen Gesellschaften ist Glaube nur noch eine unter vielen Optionen. Wie kam es dazu? Charles Taylors opulente Studie gibt darüber Auskunft
Es war ein heißer Herbst der Religionskritik. Erst fegte der englische Evolutionsbiologe Richard Dawkins mit seinem flotten Pamphlet „Der Gotteswahn“ beinahe den Jakobspilger Hape Kerkeling von der Spitze der Bestsellerlisten, dann sorgte der in Washington lebende Publizist Christopher Hitchens mit der brillanten Streitschrift „Der Herr ist kein Hirte“ für leidenschaftliche Unglaubensgespräche – in Talkshows und Feuilletons, an Küchentischen und auf Kirchenbänken. Nach der vielbeschworenen „Rückkehr der Religion“ meldete sich der fast schon totgeglaubte weltanschauliche Atheismus fulminant zurück.
„Ich glaube nur, was ich sehe“, verkündet Dawkins und spielt wissenschaftliche Rationalität geschickt gegen einen Glauben aus, der sich für ihn ausschließlich in Gewalt und Fundamentalismus manifestiert. Hitchens, der liberale Polemiker, beschreibt Religion als Widersacherin der Freiheit. Ihre unbeirrbaren Anhänger, ob evangelikale Fundamentalisten oder islamistische Terroristen, sind für den Popper-Schüler die ärgsten Feinde der offenen Gesellschaft. Darüber muss man streiten. Schließlich geht es nicht nur um schneidige Stammtischthesen, sondern um das vielschichtige Verhältnis von Glaube und Vernunft. Im Windschatten der Debatte ist derweil ein gewichtiges Buch erschienen, das erklärt, warum uns die Religion nicht loslässt. Und wie es gekommen ist, dass wir im Westen in Gesellschaften leben, in denen Glauben nur eine unter vielen Optionen ist – und manchmal nicht die einfachste.
Der kanadische Philosoph und Ideengeschichtler Charles Taylor erzählt in „A Secular Age“ (The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge und London 2007) die Geschichte unserer säkularen Kultur. Auf mehr als 800 Seiten umspannt seine opulente Studie die Zeit von 1500 bis 2000 – und greift doch weit über diesen Rahmen hinaus. Über das Thema hat er schon früher geschrieben, es berührt zentrale Fragen seiner bereits zum Klassiker avancierten „Quellen des Selbst“, einer Geschichte der neuzeitlichen Identität.
Wie können wir in der Komplexität der Moderne wissen, wer wir sind? Nur, so Taylors Ausgangsthese, wenn wir wissen, wie wir geworden sind. Um das herauszufinden, verwendet er eine Methode fragmentarischer Geschichtsschreibung, die an Benjamin und Arendt erinnert. Er arbeitet „geologisch“, spürt in den Tiefenschichten unserer Gegenwart den Spuren von Brüchen, Verschiebungen und Verwerfungen nach. „Unsere Vergangenheit ist das Sediment unserer Gegenwart, und wir sind zur Unkenntnis unserer selbst verdammt, solange wir unserer Herkunft nicht angemessen gerecht werden“, schreibt Taylor.
Und begründet so die meisterliche narrative Struktur seines Buches, den gewaltigen Erzählfluss, der Details, Beobachtungen und Ereignisse immer neu verwebt und den Leser mit sich reißt. Bei der Lektüre begegnet man Luther und Lukrez, Calvin und Camus, Max Weber und Franz von Assisi, der Beichtpraxis des Hochmittelalters und der Herz-Jesu-Verehrung des Kulturkampfs. Wie wurde ein Humanismus möglich, der auf Transzendenz verzichtet und sich ganz ohne Ausblick auf Jenseitiges in der Welt einrichtet? Wann sprang der Unglaube von den intellektuellen Eliten auf breite gesellschaftliche Schichten über? Und warum sieht man den Papst von Zeit zu Zeit ganz gern – auch, wenn man mit den Geboten seiner Kirche nichts zu schaffen hat? -Antworten finden sich in den Bohrkernen, die Taylor bei seinen kultur- und ideengeschichtlichen Bodenproben zu Tage fördert. Sie zeigen Spuren eines end-losen Spieles von Fragmentierung und Neukonfiguration: Die Säkularisierung des Westens ist keine Einbahnstraße, die Aufklärung sitzt uns ebenso in den Knochen wie die christliche Tradition.
„A Secular Age“, fertiggestellt am Wissenschaftskolleg zu Berlin, ist Charles Taylors persönlichstes Buch. Nur passend also, dass der Autor es in einem Weblog diskutiert. Mit im virtuellen Salon sitzt der Kultur- und Sozialanthropologe Talal Asad, der Taylors ganz auf den europäischamerikanischen Kulturraum zugeschnittene Thesen aus einer Außenperspektive in den Blick nimmt. Seine Studien decken auf, dass universalistische Definitionen von Religion und Säkularisierung häufig von den ganz partikularen Erfahrungen der europäischen Moderne und des Christentums geprägt sind. Charles Taylor macht diese Partikularität selbst deutlich. Er schreibt aus der Perspektive eines westlich geprägten christlichen Humanismus, ein in den vierziger Jahren aufgewachsener kanadischer Katholik, mit Augustinus und Thomas von Aquin so vertraut wie mit dem Zweiten Vatikanum.
Neulich, als der Herbst zu Ende ging, haben die beiden großen Kirchen Verfassungsbeschwerde gegen das Berliner Ladenschlussgesetz erhoben, das an zehn Sonntagen im Jahr den Verkauf erlaubt. Natürlich muss, wer nach Karlsruhe zieht, sein Anliegen in die Sprache des säkularen Staates übersetzen. Lauscht man aber den bischöflichen Stellungnahmen zum Prozedere, dann verschwinden die christlichen Spuren im sonntäglichen Sediment ganz hinter familienfreundlichem Kulturgutgerede. Bei Gregor Gysi indes war zu lesen, „welcher Kulturverlust darin besteht, dass der Sonntag zu einem völlig normalen Tag geworden ist und eben nichts Heiliges mehr an sich hat. Diesen Tag wieder zu etwas Besonderem zu machen, und seine Heiligkeit, funktioniert nur über Religion.“ Die Wege des Säkularen sind unergründlich. Wie seine Sedimente.
ALEXANDRA KEMMERER, geb. 1972, ist Journalistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg. Sie schreibt regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, über Kultur und Politik, Recht, Religion und Wissenschaft.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 106 - 107