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01. Nov. 2007

Gemeinschaft braucht Visionen

Das Konzept "Asien" sollte für mehr stehen als Wirtschaftsboom

Güter, Touristen, Filme und Musik lassen Ostasien wirtschaftlich und kulturell zusammenwachsen. Doch Misstrauen zwischen den Staaten schwächt die Verbindungen – schließlich hatten die Nachbarn jahrhundertelang kaum Kontakt miteinander. Im 21. Jahrhundert muss Asien sich versöhnen und sich als Verfechter universeller Rechte neu definieren.

Die ostasiatische Gemeinschaft ist bereits etabliert – viele sehen das so. Im Jahr 2003 beispielsweise hatte der Anteil des Handels innerhalb Ostasiens (Japan, China, Südkorea, Taiwan und die ASEAN-Mitglieder) 50 Prozent erreicht. Das entspricht etwa dem Handel innerhalb der Europäischen Union in den frühen achtziger Jahren, und es übertrifft den derzeitigen Anteil innerhalb der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA. Auch der Tourismus entwickelt sich: Jedes Jahr reisen vier Millionen Touristen zwischen Japan und Südkorea, mehr als vier Millionen zwischen China und Japan und drei Millionen zwischen China und Südkorea. Bei den jungen Menschen, besonders in Japan, Südkorea, Taiwan, Hongkong, entlang der Küstenregion Chinas und im Gebiet um Peking boomt der kulturelle Austausch in Bereichen wie Musik, Filme, Mode und Soaps, was eine Art kulturelle Gemeinschaft hervorbringt.

Parallel zu diesem kulturellen Zusammenwachsen entsteht auch ein institutioneller Rahmen, etwa die ASEAN+3 als ein Forum für regelmäßige Treffen zwischen Staatsoberhäuptern, Regierungen und Kabinettsministern. Wege zur Erschaffung einer formalen Gemeinschaft

Neben dieser funktionalen Entwicklung wurde in den letzten Jahren besonders in Japan viel über die Schaffung einer formalen Ostasiatischen Gemeinschaft (EAC) gesprochen. Die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Ziele derer, die eine solche Gemeinschaft wollen, lassen sich in unterschiedliche Kategorien einteilen. Erstens kann eine offizielle EAC effektiver bereits bestehende Bündnisse entwickeln. Zweitens ist man der Meinung, dass eine formale Verbindung das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken kann. Und drittens fordern viele die Etablierung einer solchen Übereinkunft als Katalysator für politische Initiativen. Damit soll die im Vergleich zu den sich ständig verbessernden ökonomischen und sozialen Beziehungen relativ schwache Institutionalisierung angeschoben werden.

Wesentlicher als diese Gründe sind jedoch strategische Überlegungen. Man hofft, dass eine offizielle Gemeinschaft die Region gegen ökonomische Bedrohungen schützen kann. Die Wirtschaftskrise von 1997 schärfte das Bewusstsein unter den Menschen in Asien, vor allem in Südostasien, Südkorea und Taiwan, für die Anfälligkeit ihrer Ökonomien gegenüber den Gefahren, denen sowohl ihre Währungen als auch die Energieversorgung ausgesetzt sind. Daraus entstand die Forderung, dass die Asiaten ein Sicherheitsnetz schaffen sollten, um gemeinsam mit diesen Gefahren umgehen zu können. Die EAC ist als ein internationaler Puffer gegen wirtschaftliche oder energiepolitische Schocks gedacht. Dieses defensive Denken beinhaltet auch den Wunsch, der weltweiten Zunahme regionaler Bündnisbildung etwas entgegenzusetzen – die EU hat expandiert und auch NAFTA ist gestärkt. Die EAC könnte in den Augen ihrer Befürworter wesentlich dazu beitragen, die Position der Staaten in der Region durch eine gemeinsame Linie in Handels- und Wirtschaftsfragen innerhalb der internationalen Gemeinschaft aufzuwerten.

Neben defensiven Gründen liegen den Forderungen nach Schaffung einer EAC auch strategische Überlegungen einiger Staaten hinsichtlich ihrer Rolle in der Weltwirtschaft zu Grunde. Japan, China, Südkorea, Taiwan, Hongkong und einige ASEAN-Mitglieder haben in hohem Maße vom globalen Handelssystem profitiert und nehmen darin wichtige Positionen ein. Daher wollen sie das internationale Wirtschaftssystem stärken. Die EAC könnte ein institutioneller Kern werden, um diese Verantwortung zu übernehmen.

Die Zerbrechlichkeit der ostasiatischen Gemeinschaft

Die zusammenwachsende ostasiatische Gemeinschaft hat einige Schwächen, und ihrer Vollendung stehen Hindernisse im Weg. Eine der Schwachstellen ist, dass die großen Städte so weit voneinander entfernt sind. Zwischen Tokio und Hongkong liegen vier Flugstunden; Westeuropa ist wesentlich kompakter. Ein zweites Problem sind die Ungleichheiten innerhalb der Region, insbesondere was die Höhe der Einkommen betrifft. Sogar zwischen China, Südkorea und Japan gibt es enorme Unterschiede bei der Kaufkraft und noch größere bei den sozialen Indikatoren. Die Differenzen zwischen den ostasiatischen Ländern in Bezug auf die Sozialsysteme sind sogar noch größer als die zwischen ihren Wirtschaftsleistungen. Ein drittes Hindernis sind unterschiedliche Vorstellungen der Menschen, was es bedeutet, „asiatisch“ zu sein. In einer Umfrage bezeichneten sich 42 Prozent der Japaner auf die Frage „Identifizieren Sie sich mit einer transnationalen Gruppe?“ als „asiatisch“.1 In Südkorea war der entsprechende Wert mit 71 Prozent deutlich höher, jedoch gaben in China nur sechs Prozent diese Antwort. Viertens ist gegenseitiges Misstrauen ein Problem. Es bestimmt Japans Beziehungen zu China und Südkorea und ist durch die unterschiedlichen Wahrnehmungen historischer Prozesse zu erklären. Allerdings sind sich die ostasiatischen Staaten auch über diese Diskrepanz der historischen Wahrnehmungen selbst uneinig. Im Grunde ist der Mangel an gegenseitigem Vertrauen weniger ein Problem des Denkens über die Vergangenheit als vielmehr eine Nebenerscheinung im Reifungsprozess der Demokratie und der politischen Ausbeutung nationalistischer Gefühle.

Viele sehen das Problem der „Vergangenheit“ als emotionales Phänomen in Ostasien an. Andere hingegen behaupten, dass dies kaum nur auf Empfindungen der Menschen basiert, sondern sich aus den Bestrebungen ergibt, diese für politische Zwecke zu nutzen. Sicher trägt die Unterschiedlichkeit der politischen Systeme in der Region dazu bei, dass die Vergangenheit so verschieden interpretiert wird. Aber auch fehlende Interaktion zwischen den Ländern ist ein wesentlicher Aspekt. Im Altertum und im Mittelalter bestanden vielfältige wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen, aber ungefähr seit dem 17. Jahrhundert lassen sich dafür immer weniger Nachweise finden. Der westliche Kolonialismus, Japans nationale Abschottung und die unterschiedlichen politischen Systeme und Ideologien von China und Korea sind Gründe dafür. Nachdem sich Japan Mitte des 19. Jahrhunderts dem Westen geöffnet hatte, bestanden Verbindungen mit Korea, China und den Ländern Südostasiens nur durch Kolonialisierung und Krieg. Die Austauschprozesse innerhalb Ostasiens seit der jüngeren Geschichte lassen sich in Qualität und Quantität kaum mit denen innerhalb Europas und zwischen Europa und der islamischen Welt vergleichen. Wir müssen dies als eine der Wurzeln des gegenseitigen Misstrauens zwischen den Staaten der Region berücksichtigen.

Ein neues Konzept für „Asien“

Soll sich das derzeit formierende Bündnis zu einer vollwertigen Gemeinschaft auf politischer und institutioneller Ebene entwickeln, müssen wir zuerst unser Konzept für Ostasien und die dem zugrunde liegende Idee „Asiens“ redefinieren. Das Konzept für Asien ist prinzipiell ein künstliches Konstrukt. Historisch gesehen wurde es mehr oder weniger willkürlich durch die Europäer kreiert. Sie stellten ihren modernen Nationalstaaten die Gesellschaften Asiens gegenüber, die sie als rückständig, stagnierend, absolutistisch und traditionsverhaftet ansahen. Das Konzept „Asien“ wurde aber auch innerhalb Asiens selbst künstlich erschaffen. Persönlichkeiten wie Chinas Sun Yatsen und Indiens Rabindranath Tagore, zusammen mit einigen Denkern in Japan, forderten die Etablierung von „Asien“ als Konzept, um eine politische und psychologische Plattform für den Widerstand gegen den westlichen Kolonialismus zu schaffen.

Ungeachtet dessen, ob es durch die Europäer, Asiaten oder beide kreiert wurde, ist das Konstrukt eher negativ konnotiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch entwickelten sich die Länder Ostasiens mit Japan an der Spitze wirtschaftlich und sozial, was zu einer Verbreitung neuer Sichtweisen über Asien in der Welt beitrug. Nun hieß es, dass die Region dank der „asiatischen Werte“ in der Lage sei, sich wirtschaftlich zu entwickeln und gleichzeitig ihre gesellschaftliche Ordnung und kulturellen Traditionen beizubehalten. So wandelte sich das Konzept Asien in den achtziger und beginnenden neunziger Jahren. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise 1997 und der fortschreitenden Globalisierung verlor die Rolle Asiens als Modell für Wirtschaftswachstum etwas an Gültigkeit. Es scheint, als bedürfe es eines anderen, neuen Konzepts für das 21. Jahrhundert, das verbunden ist mit globalen, universellen Werten wie Menschenrechten und Demokratie. Diese Werte sind nicht „westlich“; sie gehen auch auf asiatische Traditionen zurück. Das Konzept Asien sollte im Zusammenhang mit diesen Werten verstanden werden.

In unserem Zeitalter sollte es möglich sein, den Ursprung dieser Werte nicht mehr nur als westlich anzusehen. Es entsteht gerade eine neue Diskussion über Asien – basierend auf der Idee, dass sich auch von dieser Region aus die universell gültigen Menschenrechte in der Welt verbreiten können. So werden die „asiatischen Werte“ von etwas Antiwestlichem, sich Abgrenzendem zu etwas Wesentlichem für die gesamte Menschheit.

Prof. Dr. KAZUO OGURA, geb. 1938, ist Präsident der Japan Foundation und lehrt Politikwissenschaft an der Aoyama Gakuin Universität in Tokio.