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01. Apr. 2007

Europas strategische Interessen

Auf dem Weg zur europäischen Selbstbestimmung und globaler Verantwortung

Europa bedroht niemanden, Europa ist stabilitätsorientiert, Europa hat weder Feinde noch territoriale Machtinteressen. Sein Gewicht wäre groß. Aber Europa ziert sich beharrlich, seine Rolle als globaler Akteur auch anzunehmen. Deutschland sollte all seine Bemühungen darauf konzentrieren, dass Europa der fünfte Pol in der multipolaren Welt wird.

Die Diskussion unserer außen- und sicherheitspolitischen Interessen findet in einer günstigen Situation statt. Sie braucht sich nicht um aktuelle Kontroversen zu kümmern. Niemand  erwartet einen bahnbrechenden Durchbruch der europäischen Dinge, solange die politischen Spitzen in Paris und London sich nicht in ihren neuen Verantwortungen eingerichtet haben. Außerdem müssen wir keine Rücksicht auf die Nachfolger von Putin und Bush nehmen; denn niemand kennt sie. Gedankenblitze zur Lösung der Kosovo-Verhandlungen sind nicht gefragt. Eine fast ideale -Voraussetzung also für einen offenen Meinungsaustausch zwischen Menschen aus Wissenschaft, Regierung und Politik. Die Offenheit ist in dem doppelten Sinne zu verstehen, neue Anregungen und Argumente gelten zu lassen. Ich werde mich bemühen, meine Sicht zu begründen und sie auf einige Thesen zu verdichten.

Es gibt drei herausragende Faktoren, die für die Orientierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bestimmend sind. Erstens Amerika, zweitens Europa und drittens Russland.

Dabei halte ich es für das wesentliche Element, Klarheit über unser Verhältnis zu Amerika zu gewinnen. Die Gründe sind einfach: Amerika ist die einzige Supermacht, Amerika ist die Führungsmacht der NATO, Amerikas Glaubwürdigkeit und Festigkeit verdanken wir, dass der Kalte Krieg erfolgreich beendet wurde, mit Amerika verbinden uns Wertvorstellungen, zum Teil gemeinsame, zum Teil unterschiedliche.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit beginne ich bei den Unterschieden. Zu den amerikanischen Werten zählen die Todesstrafe, das Recht zur privaten Bewaffnung, die Macht des Präsidenten, auch ohne Parlament und Kriegserklärung Streitkräfte einzusetzen, ein weitgehend rechtsfreier Raum für Gefangene, in dem entschieden wird, was Folter ist und was nicht, die illegale Entführung fremder Staatsangehöriger ebenso wie die Weigerung, eigene Staatsangehörige vor den Internationalen Gerichtshof stellen zu lassen. Der Weigerung, internationale Bindungen einzugehen, entspricht das Recht, Verträge zu kündigen, die Amerika nicht mehr passen und Kriege auch präventiv zu führen, wenn es Amerika passt. Nationalbewusstsein und Sendungsbewusstsein sind unauflöslich verschmolzen. Dieses Amalgam stellt einen moralischen Maßstab dar, der nicht verhandelbar ist. Das Verständnis von Nation und Staat wird beiderseits des Atlantiks sehr verschieden bleiben; es sind geschichtlich gewachsene Unterschiede der Kultur.

Jeder von uns kann gemeinsame Wertvorstellungen benennen wie Demokratie und Pluralismus. Sie bleiben als Sockel unserer Verbindungen stark genug, ganz abgesehen von den existenziellen wirtschaftlichen Bindungen; aber wer die Beschwörungsformel von der Wertegemeinschaft undifferenziert benutzt, muss wissen, dass daraus Unterwerfungsformeln werden können, wenn die eigenen Werte nicht mehr klar vertreten werden. Ohne die Selbstbehauptung unserer europäischen Werte wären wir auf dem Wege vom Sicherheitsprotektorat zur Kolonie.

Nun ist zweierlei nicht zu bestreiten. Ohne diese amerikanischen Wertvorstellungen wäre Amerika kaum die Macht geworden, die es geworden ist. Diese Wertvorstellungen werden weiter wirken, wie immer die nächsten Präsidenten heißen werden. Dass sie von Europa nicht geteilt werden, könnte – etwas unfreundlich gesagt – daran liegen, dass den europäischen Staaten die Macht fehlt, die sie durchaus nicht verachtet haben, solange sie sie hatten. Die Geschichte des Kolonialismus ist unvergessen. Man könnte freundlicher, aber ehrlich, durchaus argumentieren, dass Europa aus der schrecklichen  Geschichte seiner Kriege schmerzhaft und leidvoll gelernt hat und seine militärische Schwäche zu seiner Stärke gemacht hat: Das Wunder seines Lebensstandards wie seine Attraktivität verdankt es der friedlichen Zusammenarbeit. Wer die großen Probleme des Jahrhunderts betrachtet – Umwelt, Spannungen zwischen Christentum und Islam oder die Überwindung des entstaatlichten Terrors – wird zugeben, dass sie letztlich nicht durch Waffengewalt, sondern durch friedliche Zusammenarbeit beherrschbar gemacht werden können. Es ist eine europäische Verantwortung, dass „Kooperation“ zum Schlüsselwort unseres Jahrhunderts wird. Auch die verschiedene Vorstellung beiderseits des Atlantiks, was unter Nation und Staat zu verstehen ist, gehört zu dem Teil der unterschiedlichen Kultur, die ein unveränderbares Ergebnis der Geschichte darstellt.

Aber dieses Faktum braucht für fruchtbare Zusammenarbeit kein größeres Hindernis in der Zukunft zu sein, als es das in der Vergangenheit war. Ausgehend von dem erwähnten soliden Sockel wird dafür das Verständnis gemeinsamer, ähnlicher oder divergierender Interessen ausschlaggebend sein. Amerika hat eine globale Verantwortung und ist in seiner ordnungspolitischen Funktion unentbehrlich. Europa steht noch in den Anfängen, seine globale Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Amerika hat eine festgefügte Identität. Europa sucht sie.

Die Analyse legt zwei Folgerungen nahe: Zum einen, dass sich die Nähe, wie wir sie im Kalten Krieg erlebt haben, zwischen Amerika und Europa nicht wieder herstellen lässt; zum anderen, dass sich die Selbstbestimmung Europas nur durch eine Emanzipation von Amerika erreichen lässt.

Amerikas Emanzipation von Europa

Im Grunde hat diese Entwicklung durch die Emanzipation Amerikas von Europa begonnen. Sie setzte bereits während des Kalten Krieges ein, als die Schutzmacht beobachtete, wie ihr europäisches Mündel jahrzehntelang vergeblich versuchte, sein Ziel der Selbstbestimmung zu erreichen, politisch mit einer Stimme zu sprechen. Amerika hat gelernt, Europa nicht ernst zu nehmen, sondern hat seiner Verantwortung und seinen Interessen gemäß gehandelt. Es konnte und durfte gar nicht anders. Die häufige Klage der Europäer, sie seien nicht informiert und gar konsultiert worden, ist ebenso häufig mit beruhigenden Zusicherungen zur Besserung beantwortet worden. Wer sich vorstellt, wie das Europa von heute von Washington her gesehen wird, kann gar nicht zu einem anderen Ergebnis kommen: Es ist noch immer kein seriöses Datum erkennbar, an dem die EU mit einer Stimme sprechen wird.

Ein bedeutender Schritt der amerikanischen Emanzipation erfolgte mit dem Amtsantritt der jetzigen Administration. Obwohl Sieger im Kalten Krieg, militärisch überlegen und ohne jede Bedrohung durch einen anderen Staat, wurde ein gigantisches Aufrüstungsprogramm erarbeitet, zu Lande, zu Wasser und in der Luft, mit neuen Atomwaffen und der Militarisierung des Weltraums. Jeder Staat oder jede Staatengruppe sollte entmutigt werden, ein Waffenrennen mit Amerika überhaupt zu beginnen. Nach dem demütigenden Schock durch entstaatlichte Gewalt am 11. September 2001 wurde das Programm praktisch ohne Diskussion durch Senat und Repräsentantenhaus genehmigt und wird seither verwirklicht. Es setzte eine Lawine von Rüstungen in Gang, die inzwischen Asien erreicht hat und Russland nicht unberührt ließ. Begrenzt werden diese Rüstungen nicht durch Verträge, sondern durch die finanziellen und technischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten. Rüstungskontrolle ist tot für die internationale Agenda.

Als wirklich verheerender Schritt der Emanzipation erwies sich, wie Amerika die uneingeschränkte Solidaritätsbereitschaft Europas beantwortete. Die Gefühle der Verbundenheit nach dem 11.9. waren frei von jedem politischen Kalkül, nachdem die Allianz gegen den Terror geboren und das Mandat der UN gegen die Terroristen in Afghanistan gefolgt war. Die NATO bot zum ersten Mal in ihrer Geschichte an, den Bündnisfall zu erklären. Der höfliche Dank Washingtons und seine Entscheidung, zwischen Willigen und Unwilligen auszuwählen, spaltete das Bündnis, und seine Unterscheidung zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Europa spaltete Europa. Diese Unterscheidung muss nicht das Resultat einer politischen Nützlichkeitserwägung gewesen sein, im Sinne von divide et impera. Sie kann auch aus dem amerikanischen Selbstverständnis der Gleichung entsprossen sein, wonach neu immer besser und alt immer schlechter ist. Doch gerade, wenn in dem Diktum Rumsfelds nicht nur eine aktuelle unfreundliche Entgleisung steckt, zeigt sich eine weitere Facette der unterschiedlichen kulturellen Befindlichkeit jenseits und diesseits des Atlantiks: Drüben die zweifelsfreie Gewissheit der Mission, hier die Suche der angemessenen Verantwortung.

Dass Deutschland und Frankreich zusammen mit einigen anderen Europäern die Teilnahme am Irak-Krieg verweigerten, war ein gutes Zeichen: In Europa beginnt man die eigenen Interessen zu definieren und folgt dem Ergebnis der eigenen Analyse, die sich außerdem als richtig erwies. Ein überlegen geführter, brillanter Feldzug ist keine Garantie für den politischen Erfolg. Wer der Führungsmacht nicht „Nein“ sagen will, kann Selbstbestimmung nicht erreichen.

Gleichzeitig ist die Stringenz bewundernswert, mit der Präsident Bush seine strategische Linie verfolgt. Bei seinem ersten Besuch in Polen formulierte er, noch nicht überall ernst genommen, das Ziel einer geschlossenen Landbrücke von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Wer auf die Karte sah, bekam auf der anderen Seite Georgien und die Kaukasus--Region in den Blick. Die strategische Ausrichtung der amerikanischen Politik, die vom unsinkbaren Flugzeugträger Europa aus nach Südosten weist und über den Nahen und Mittleren Osten hinaus eine Region mindestens kontrollieren will, zu der Afghanistan und der Iran gehören und in der die neuen Staaten am Südrand der ehemaligen Sowjetunion auftauchen, entspricht amerikanischem Interesse. Auch durch verlustreiche Rückschläge hat sich Präsident Bush nicht von seiner strategischen Linie abbringen lassen.

Zu den Rückschlägen gehört der Bruch mit der überheblichen Haltung der Unipolarität nach 2001, als Washington glaubte, auf die lästigen Behinderungen durch die Vereinten Nationen und die NATO verzichten zu können. Das war die Phase des höchstentwickelten Machtbewusstseins der USA. Sie reichte bis 2005. Es wird dem Weißen Haus nicht leicht gefallen sein, sich seither um die Hilfe der UN und des Bündnisses in der Irak-Krise zu bemühen. Es könnte sein, dass wir Zeugen sind für eine teils vorsichtige, teils widerwillige methodische Anpassung der amerikanischen Politik an die Erkenntnis, dass mit jedem Monat China und Indien stärker werden und Russland nicht schwächer wird, dass jedenfalls eine amerikanische Orientierung auf Multipolarität unvermeidbar geworden ist. Das kann auch zu der Hoffnung berechtigen, dass die Nachfolger des jetzigen Präsidenten seine arrogante Sicherheitsdoktrin sterben lassen und in die Weltordnung der UN zurückkehren. Das wäre eine große Erleichterung.

Für die eigene Orientierung ergeben sich drei Thesen:

  1. Die nächsten Präsidenten werden die Stärkung des eigenen Landes und seines Einflusses weiter verfolgen. Amerika wird mindestens für die nächsten 20 Jahre die Macht bleiben, deren militärische Überlegenheit weiter wächst.
  2. Die nationale „Grand Strategy“ verlangt die Kontrolle der Region des Nahen und Mittleren Ostens – und darüber hinaus. Auch sie wird sich nicht ändern. Beide Elemente sind überparteilich gestützt.
  3. Das Interesse, dass Europa ein ständiger fünfter Pol wird, kann nicht groß sein.

Zum letzten Punkt sind die Überlegungen in Washington zur NATO wichtig und erhellend. Die Wiederentdeckung der NATO unter dem Stichwort „Transformation“ läuft in verschiedenen Strängen, aber in eine Richtung: Wie können wir das Bündnis zu einem Instrument der Unterstützung unserer weltweit konzipierten Politik machen? Dabei werden die Vorteile für die Bündnispartner den Interessen der USA untergeordnet. Zum Beispiel ist das Interesse der USA an der Eingrenzung des russischen Einflusses im Kaukasus klar, für die Türkei vielleicht auch, aber für Norwegen und Deutschland nicht unmittelbar. Dass die NATO nicht länger der zentrale Ort des transatlantischen Dialogs sei, was Gerhard Schröder vor zwei Jahren in München moniert hat, begegnet in Washington teils Zustimmung, teils dem Zweifel an der Geschlossenheit der Partner, unter denen man sich vielleicht doch die jeweils Willigen und Fähigen für die jeweilige Aktion suchen müsse. Außerdem gibt es keinerlei Neigung, die sicherheitspolitische Diskussion zwischen der EU und den USA zu formalisieren; denn das würde der EU helfen, ein Pol zu werden. Die Ausweitung des Bündnisses um Mitglieder und Kompetenzen soll pragmatisch für die nationale „Grand Strategy“ der USA nutzbar gemacht werden. Dazu gehören etwa als neues Thema die Energiesicherheit, für die die NATO Verantwortung übernehmen sollte, und ein stärkeres Engagement in Afrika.

Inzwischen wird der Druck auf die Verbündeten verstärkt, jedenfalls mehr Geld für eine schnellere Modernisierung ihrer Streitkräfte bereitzustellen: Modernisierung, damit europäische Verbände neben amerikanischen einsetzbar werden. Sofern die Ausrüstung dafür nicht reicht, wird die Arbeitsteilung zwischen Stabilisierung, also Peacekeeping, und Kriegführung, also Peaceenforcing, zu entwickeln sein, wie das ursprünglich für Afghanistan vorgesehen war. Erstaunlich dabei ist, dass Rüstungserwartungen, Art, Ort und Tempo der Einsätze von den Amerikanern bestimmt wurden und werden, ohne dass die Europäer bisher fähig gewesen wären, nach ihrer Analyse zu bestimmen, welche Art von Globalisierung, welche geographischen Schwerpunkte und welche Ausrüstung ihrer Streitkräfte ihren Interessen entsprechen.

Noch immer stimmt der Spruch: Armut kommt von der Pauverté. Das heißt aus amerikanischer Sicht: Mit der Entwicklung der EU zu einem Global Player ist nicht zu rechnen, die Europäer sind einzeln auch leichter manipulierbar, zumal ihre militärischen Fähigkeiten für unsere Größenordnungen von untergeordneter Bedeutung sind. Unsere Hegemonialstellung ist innerhalb des Bündnisses unangefochten; die EU als Organisation, zu der Amerika nicht gehört, verfügt nicht über die souveräne Eigenschaft von Staaten. Ihre Bemühungen um selbständige Führungsfähigkeit und entsprechenden Einsatz ihrer Streitkräfte dürfen nicht unterstützt werden, was mit dem Totschlagargument leicht begründbar ist, dass Doppelfunktionen zu vermeiden sind. Letztlich heißt der Armutsspruch auf europäisch: Solange sich Europa seine Selbstbestimmung nicht nimmt, wird es nicht selbständig werden.

Globalisierung der NATO?

Europa in seiner gegenwärtigen Situation ist geradezu eine Einladung an die Amerikaner, es als Unterstützung ihrer nationalen „Grand Strategy“ zu denken. Man kann ihnen das nicht übel nehmen. Diese Überlegungen werden unter der Überschrift „Globalisierung der NATO“ zusammengefasst. Aus dem regionalen Verteidigungsbündnis soll eine globale Organisation werden, die ohne geographische Beschränkung mit jedem Partner zur Lösung einer Krise oder einer Sicherheitsbedrohung zusammenwirkt. Das heißt: Aus der alten NATO, in der Amerika die Sicherheit seiner Partner gegen die potenzielle Bedrohung aus dem Osten garantiert hat, soll eine neue NATO werden, in der seine Partner verpflichtet sind, Amerika bei der Durchsetzung seiner globalen Ziele zu unterstützen. Die amerikanische Gewohnheit legt nahe, für die NATO ähnlich wie für Europa zu empfinden: Das Neue ist dem Alten vorzuziehen.

Es geht um nichts weniger als die institutionelle Ausweitung der NATO nach Asien, für die zunächst Japan, Südkorea, Neuseeland, Australien und vielleicht die Philippinen als demokratische Staaten in Frage kämen. Da die NATO keine supranationale selbständige Entscheidungsfähigkeit hat, würde die Dominanz Amerikas wie bisher wirken, und Amerika würde ein Instrument erhalten, das zunächst Europa marginalisieren, aber auch die UN beeinträchtigen würde – denn wer wollte Entscheidungen einer derartig globalen NATO in den Arm fallen? Mit einer solchen neuen NATO könnte Amerika der Multipolarität ruhig entgegensehen. Schon eine NATO-Mitgliedschaft Israels würde überaus komplizierte Fragen aufwerfen. Die Vorstellung, das alte Europa würde gebunden und mitverantwortlich für Konflikte in Asien, ist abenteuerlich. In dem Augenblick, in dem solche Verpflichtungen eingegangen werden, ist die Selbstbestimmung Europas beendet. Frankreich wünscht weder funktionell oder institutionell noch geographisch eine Ausweitung der NATO; der deutsch-französische Motor könnte verschrottet werden, wenn Paris und Berlin sich in dieser Frage nicht einig sind.

Im Frühjahr 2008 kann ein amerikanischer Vorschlag zur Globalisierung der NATO erwartet werden. Angesichts der Komplexität ist damit zu rechnen, dass es sich um einen milden Entwurf für einen Grundsatzbeschluss handeln wird, der sich mit der prinzipiellen Bereitschaft und Erwägung begnügt, diese Perspektive zu prüfen, zu sondieren und zu untersuchen. Hier gilt: Wehret den Anfängen. Die europäischen Interessen verlangen eine klare Ablehnung.

Für diese Haltung spricht auch ein weltpolitischer Aspekt. Zu den großen Problemen dieses Jahrhunderts gehören die Spannungen zwischen Christentum und Islam. Einen wichtigen Nebeneffekt der Ablehnung in Europa, am Irak-Krieg teilzunehmen, stellte das wochenlange irritierte Schweigen des islamischen Fundamentalismus dar. Denn neben dem christlichen Westen in Amerika erschien plötzlich ein ebenso unbezweifelbar christlicher Westen in Europa, der sich explizit weigerte, das amerikanisch geführte Vorgehen gegen den Irak mitzumachen. Das störte die Bildung einer geschlossenen islamischen Front gegen die angenommene politische Geschlossenheit des Christentums. Auch die klare Unterstützung des Papstes für die europäische Haltung konnte nicht übersehen werden. Die für einen Papst ganz ungewöhnlichen Bemühungen Benedikts XVI., die Irritationen seiner Regensburger Rede in der islamischen Türkei vergessen zu machen, spiegelte das Bestreben des Heiligen Stuhls, aus Glaubensunterschieden keinen Glaubenskampf werden zu lassen.

Ein institutionelles Ausgreifen der NATO nach Asien würde als unwiderlegbare Demonstration verstanden, dass unter der Führung Amerikas eine Geschlossenheit des christlichen Lagers entsteht, die eine Geschlossenheit des Islam geradezu verlangt, fördert, zumindest nahe legt. Die Welt erkennt in der NATO nur Amerika in multinationalem Umhang. Ganz falsch ist das ja nicht. Eine Globalisierung der NATO wäre ein Geschenk an den fundamentalistischen Teil des Islam. Jede institutionelle Verklammerung der NATO mit Asien würde den Zusammenstoß der Zivilisationen fast unvermeidbar machen. Menschen, die zur Selbsttötung bereit sind und die wir Terroristen nennen, erhielten frischen Zulauf; neben diejenigen, die ihre Heimat von Fremden befreien wollen, treten Glaubenskämpfer. Die Risiken einer globalisierten NATO wären unverantwortlich für den Globus, zu dem bekanntlich auch Europa gehört.

Timothy Garton Ash, Professor für Europa-Studien in Oxford, hat vor kurzem einen Kern des europäischen Dilemmas entdeckt, als er schrieb: „Europäer sind nicht dazu aufgerufen, für Europa zu sterben“.1 Die großen Errungenschaften Freiheit, Frieden, Recht, Wohlstand, Vielfalt und Solidarität, durchaus nicht perfekt, aber beneidet, jedenfalls attraktiv, haben nicht die Kraft der Nationalstaaten entwickelt. Sie haben in 50 Jahren keine Identität geschaffen. Europa hat keine Feinde und ist entsprechend unkriegerisch. Im Vergleich zu seiner Geschichte ist das ein Zustand, der für seine Menschen im Einzelnen verbesserungsfähig, aber im Prinzip nicht mehr änderungsbedürftig ist. Man könnte ihn als ideal bezeichnen. Aber er ist eine Verführung, denn in Wirklichkeit kann Europa der Globalität nicht entkommen. Es ist durchaus lehrreich für unsere Bevölkerung, mit welchen außereuropäischen Themen sich die deutsche Präsidentschaft der EU und der G-8 beschäftigen muss – durchweg Krisen, die auch Blut kosten: Naher und Mittlerer Osten, Irak, Iran, Afghanistan. Eine Strategie für Zentralasien wird endlich – weil notwendig – ausgearbeitet. Globalisierung bedeutet auch Ringen um Macht und Machterweiterung.

In dieser Welt will Europa selbstbestimmt werden. Als auffällige Schwäche erweist sich, dass es zu lange seine Grenzen nicht bestimmt hat. Selbst der späte Entschluss, keine neuen Verhandlungen zur Mitgliedschaft aufzunehmen, lässt den Staaten, mit denen maßgeschneiderte Partnerschaften vereinbart werden, noch Hoffnungen. Aber auch ohne solche Hoffnungen ist die EU überdehnt und laboriert an den Problemen ihrer inneren und äußeren Regierungsfähigkeit. Ihre innere, gewissermaßen administrative Selbstverwaltung herzustellen, ist schwierig genug. Ihre Handlungsfähigkeit nach außen verlangt Selbstbestimmung. Ohne das beschlossene Ziel der Selbstbestimmung müsste sie kein Global Player werden und könnte sich mit dem Gewicht zufrieden geben, das sie währungs- und wirtschaftspolitisch in den bestehenden Organisationen der Welt besitzt.

Die Überdehnung ist zum einen Teil auf die Verpflichtung, aber auch auf die historische Chance zurückzuführen, den früheren Staaten des Warschauer Paktes, wenn sie frei entscheiden können, einen Platz offen zu halten. Zum anderen war England überaus erfolgreich, die Erweiterung der EU vor ihrer Vertiefung zu betreiben. Das entspricht seinem Interesse, eine unwiderrufliche institutionelle Bindung an den Kontinent zu vermeiden und seine Sonderbeziehungen zu Amerika zu erhalten.

Bezeichnenderweise machte Großbritannien Schwierigkeiten, als es im Vorfeld der Berliner Erklärung darum ging, zu den Erfolgen der 50-jährigen europäischen Entwicklung das Schengener Abkommen und den Euro zu zählen. Der Vollintegration in Europa wird sich England auch weiterhin entziehen, besonders, wenn sie die Möglichkeit einschließt, dass Europa außen- und sicherheitspolitisch Entscheidungen treffen könnte, die Amerika unangenehm findet. Solange Europa nicht die Kraft findet, England vor die Entscheidung zu stellen, ob es seine Sonderbeziehung zu den Vereinigten Staaten oder seine Vollintegration in die EU bevorzugt, wird es seine gegenwärtig komfortable Lage beibehalten. Solange das so bleibt, wird die globale Handlungsfähigkeit Europas nur ohne Großbritannien denkbar und erreichbar.

Das wäre mehr als tief bedauerlich. Aber das Ziel seiner globalen handlungsfähigen Selbstbestimmung kann Europa nicht aufgeben und nicht auf Dauer durch England blockieren lassen. Die logischen und praktischen Überlegungen, die vor einigen Jahren die Kollegen Schäuble und Lamers vorgestellt haben, dass man mit einem Kern derer beginnen sollte, die zu einer engeren Integration fähig und willens sind, und der offen ist für jeden Staat, der sich daran beteiligen will, hat mich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu der Überzeugung geführt, dass jedenfalls am Beginn eines solchen Prozesses ein osteuropäischer Staat beteiligt sein sollte, vorzugsweise Polen. Das wäre übrigens eine willkommene Garantie, dass europäische Identität nicht zu Antiamerikanismus degeneriert.

Was für England gilt, muss mindestens insofern auch für Polen gelten, als diejenigen Staaten der EU, die ihre außen- und sicherheitspolitischen Fähigkeiten bündeln wollen, sich davon nicht abhalten lassen sollten. Doch Polen hat im Unterschied zu England eine kontinentale Tradition und wird die Vorteile seiner vollen Beteiligung nicht nur bei Schengen und dem Euro, sondern auch bei einer europäischen Armee erkennen.

Deutschland sollte all seine Bemühungen darauf konzentrieren, dass Europa der fünfte Pol in der multipolaren Welt wird. Der überragende Stellenwert ergibt sich aus der Erkenntnis, dass Europa der einzige globale Faktor wäre, der keine territorialen Machtinteressen hätte. Sein Gewicht ergibt sich aus der Summe, dass es niemanden bedroht und stabilitätsorientiert ist. Sein Gewicht würde wachsen, wenn es über eine eigene, selbständig einsatzfähige Armee verfügt. Sie müsste modern ausgerüstet und in der Lage sein, gegebene Garantien auch einhalten zu können; nicht mit allen Fähigkeiten, einen Irak-Krieg führen zu können – und unter der übergeordneten Verpflichtung, keinen Einsatz ohne ein Mandat der UN vorzunehmen. Das würde Änderungen in Ausrüstung und Bewaffnung ermöglichen, aber es würde nicht weniger, sondern mehr Mittel für die Bundeswehr erfordern. Die Globalisierung wird in jedem Falle höhere Kosten verlangen, ob wie bislang an der Seite der Amerikaner oder europäisch selbst bestimmt.

Es fehlt eine Definition unseres Verhältnisses zu Russland. Fünf Bundeskanzler haben sich in erstaunlicher Kontinuität seit bald 40 Jahren bemüht, anstelle der unvergesslichen Last der Vergangenheit Vertrauen zu entwickeln, Zusammenarbeit und möglichst Freundschaft. Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder und Merkel haben, jeweils persönlich unverwechselbar, mit ihren auch unverwechselbaren Partnern Breschnew, Andropow, Gorbatschow, Jelzin und Putin daran gearbeitet. Die Beziehungen haben gegeneinander gerichtete Raketenstationierungen überstanden, das Ende der Sowjetunion und ein für Europa so epochales Ereignis wie die deutsche Vereinigung, deren sicherheitspolitische Bedingungen der amerikanische Präsident Bush und der sowjetische Präsident Gorbatschow vereinbart haben. Die deutsche Wirtschaft hat diese Entwicklung unterstützt, zum Vorteil beider Länder. Schröder hat die Bezeichnung „strategische Partnerschaft“ geprägt, die Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung wiederholt hat. Die Bundeskanzlerin ist sich bewusst, welches wertvolle Erbe sie übernommen hat.

Russland: unentbehrlich

Es hat eine Dimension erhalten, von der Brandt, Schmidt und Kohl nicht träumen konnten: Russland ist unentbehrlich, damit die gefährlichste Krise der Gegenwart, die Atompolitik des Iran, eine friedliche Lösung findet. Russland ist unentbehrlich, um für die Region des Mittleren Ostens unter Einschluss Syriens, Saudi-Arabiens, des Irak und des Iran eine Regelung zu erreichen, die Stabilität verspricht. Russland wird für eine Kosovo-Lösung gebraucht. Russland ist auf dem Sektor der Energie zu einem Faktor besonders für Europa geworden, solange der Energiebedarf steigt und die Preise nicht fallen, was für die nächsten 20 Jahre wahrscheinlich ist. Deutschland ist das Land, das über fast 40 Jahre das größte Kapital an Vertrauen angesammelt hat, vielleicht von China abgesehen. Deutschland hat damit eine unerhörte Verantwortung, dieses Kapital für ein Zusammenwirken mit Russland einzusetzen, um die gefährlichen Krisen zu entschärfen. Zumal das unentbehrliche Amerika nicht nur Ansehen verloren, sondern durch seine partiell konfrontative Politik gegenüber Russland auch Einfluss eingebüßt hat. Ich verweise ausdrücklich auf den Artikel von Vizeadmiral Ulrich Weisser in der März-Ausgabe der IP.2

Es ist eine in der deutschen Geschichte kaum vergleichbare Konstellation entstanden, in der Deutschland über einen Einfluss verfügt, der größer ist als das Gewicht einer europäischen Mittelmacht. Die Außen- und Sicherheitspolitik braucht Weitsicht, verbunden mit der Erkenntnis der Prioritäten, die sich nicht von anderen Themen oder Neigungen beirren lässt.

Ein methodischer Rahmen unseres Handlungsspielraums ist erkennbar geworden, als wir uns in den Krieg mit Jugoslawien verwickelt haben. Der damals wachsende Druck aus Washington und London, deutsche Bodentruppen gegen Belgrad einzusetzen, war zu Ende, als der Bundeskanzler dem amerikanischen Präsidenten ein definitives „Nein“ sagte. Diese Erfahrung zeigte, dass in einer Situation europäischer Dimension, in der Deutsche gebraucht werden, Deutschland ein fast vetoähnliches Gewicht hat. Etwas später entwickelten wir einen Fünf-Punkte-Plan, der Russland wieder ins Boot brachte, die Akzeptanz der Chinesen erhielt und neben einem Mandat der UN auch die Zustimmung Amerikas für Verhandlungen mit Milosevic zur Beendigung des Krieges bewirkte. Glücklicherweise standen die Finnen im Vorsitz der EU, und Martti Ahtisaari war erfolgreich. Diese Erfahrung zeigte, dass Deutschland mit einer guten Idee, sofern es genügend Unterstützung und Partner findet, sogar führen kann – ohne sich dessen zu rühmen. Ohne Partner zu gewinnen, bleibt auch die beste Idee fruchtlos.

Dieser Rahmen ist ausreichend, fast ideal, weil niemand Angst vor den Deutschen haben muss; aber er mutet wie eine Fingerübung an, gemessen an der globalen Dimension der deutschen Verantwortung, vor der wir heute stehen.

Aus den dargelegten Elementen ergeben sich für die Orientierung der deutschen Politik einige Thesen:

  • Deutschland sollte sich bemühen, Russland, eine unveränderbar ebenso in Asien wie in Europa verankerte Macht, so fest und eng wie möglich mit dem alten Kontinent zu verflechten. Es sollte vorschlagen, den NATO-Russland-Rat zu dem Gremium zu entwickeln, dem nach der Erörterung sicherheitspolitischer Fragen auch Entscheidungsbefugnisse eingeräumt werden. Dazu sollte gehören, die unzeitgemäße gegenseitige Drohung eines nuklearen Ersteinsatzes abzuschaffen.
  • Deutschland sollte versuchen, auf der Basis des Bündnisses mit Amerika Einverständnis herzustellen, dass die ungleichen Verantwortungen – dort globale Interessen, hier europäische Selbstbestimmung – in einem Verhältnis von Partnerschaft und Arbeitsteilung verfolgt und verbunden werden können.
  • Deutschland sollte Rüstungskontrolle wieder zu einem Markenzeichen machen. Die Prinzipien Gewaltverzicht und gemeinsame Sicherheit, in Verträge umgesetzt, haben in Europa die potenzielle Gefahr eines Dritten Weltkriegs beseitigt. Sie könnten auch in anderen Regionen helfen, Konfrontationen zu vermeiden.
  • Deutschland sollte darauf hinwirken, seine Positionen im Abrüstungsbericht der Bundesregierung zu konkretisieren, damit die fortdauernde Stationierung amerikanischer Atomwaffen und die deutsche Teilhabe an nuklearen Aufgaben der NATO beendet wird.
  • Deutschland sollte anregen, die früheren Überlegungen wieder zu beleben, gegen mögliche Bedrohungen in der Zukunft eine europäische Raketenabwehr mit amerikanischer und russischer Beteiligung zu entwickeln.

 EGON BAHR, geb. 1922, Professor, Minister a.D., mit Willy Brandt Architekt der Entspannungspolitik der sechziger Jahre, ist der wichtigste außenpolitische Vordenker der SPD. Dieser Text basiert auf der Rede, die er am 19. März auf
einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin hielt. Egon Bahr wurde am 18. März 85 Jahre alt.
 

  • 1Timothy Garton Ash: Europe’s true stories, Prospect Magazine, Februar 2007. 2 Ulrich Weisser: Wir brauchen Russland!, Internationale Politik, März 2007, S. 48–55.
  • 2Ulrich Weisser: Wir brauchen Russland!, Internationale Politik, März 2007, S. 48–55.