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01. Juli 2020

Europas geopolitische Chance

Selbst in der Covid-19-Krise wollen die USA multilaterale Institutionen nicht stärken. Europa muss entschiedener auftreten, solange China noch die gleichen Interessen verfolgt.

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Bild: Chinesische Hilfslieferung in Adis Abeba
Öffentlichkeitswirksam hat China Corona für einen Ausbau seines internationalen Engagements genutzt, dabei hat der autokratische Ein-Parteienstaat stets seine eigenen Interessen im Blick. Hier kommen medizinische Güter aus China in Addis Abeba an.
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Wenig ist sicher im Leben, aber dass die Weltpolitik in den kommenden zehn oder zwanzig Jahren von dem gewaltigen Wettstreit geprägt sein wird, der zwischen den USA und China ausgebrochen ist, davon können wir wohl ausgehen. Wie ich in meinem Buch „Has China Won?“ dokumentiere, treiben starke strukturelle Kräfte die Entscheidung der USA an, das Kräftemessen zu beginnen: eine hartnäckige Angst davor, die globale Vormachtstellung zu verlieren, die man ein Jahrhundert oder mehr eingenommen hat; die Enttäuschung über Chinas gescheiterte Demokratisierung (wenngleich zukünftige Historiker darüber staunen dürften, dass eine junge, nicht einmal 250 Jahre alte Republik von einer 4000-jährigen Zivilisation erwartete, ihren politischen Normen zu entsprechen); und schließlich eine tiefsitzende Angst vor der „gelben Gefahr“, unvollständig verschüttet in der westlichen Psyche.



Die Corona-Pandemie hat lediglich bestätigt, wie erbittert der geopolitische Wettstreit bereits geworden ist. Covid-19 ist eine allgemeine Gefahr, der sich sowohl die USA als auch China stellen müssen; theoretisch wäre es eine logische, ja geradezu kluge Entscheidung beider Staaten gewesen, ihre Differenzen ruhen zu lassen, im geopolitischen Wettbewerb die Stopptaste zu drücken und sich gemeinsam an die Arbeit zu machen, um Covid-19 zu bekämpfen. Doch das Gegenteil geschah, es folgten massive Schuldzuweisungen. Vor dem Hintergrund der offenkundig inkompetenten Reaktion der Trump-Regierung auf Covid-19 liegt es natürlich nahe, dass das Weiße Haus nach Sündenböcken sucht.



Covid-19 hat die Unaufhaltsamkeit des geopolitischen Wettstreits zwischen Amerika und China also nur bestätigt. Dieser Wettstreit stellt Europa vor ein großes strategisches Dilemma: Soll man die bisherige Strategie fortsetzen und die transatlantische Allianz mit den USA betonen – auch wenn das in der Konsequenz heißt, sich amerikanischen geopolitischen Interessen zu fügen? Oder sollte man die Gelegenheit beim Schopfe packen, um sowohl die eigenen geopolitischen Interessen voranzutreiben als auch eine strategische Rolle für Europa als neuer, unabhängiger Pol in einer multipolaren Welt zu entwickeln?



Gemeinsam in Afrika

Wenn die Europäer vor dem Hintergrund der Herausforderungen durch Migration und Covid-19 ihren eigenen existenziellen Aufgaben, die aus ihrer Geografie herrühren, Priorität einräumen wollen, sollten sie sich auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Afrikas konzentrieren. Und der beste Partner für die Entwicklung Afrikas ist China.



Pandemien wie Covid-19 könnten in Afrika eine großflächige humanitäre Krise auslösen. Sollte sich die Armut in afrikanischen Staaten durch Covid-19 verschärfen, ist es wahrscheinlich, dass noch mehr Migranten in Europa Schutz suchen werden. Daher ist es für Europa wichtig, mit afrikanischen Staaten zusammenzuarbeiten, um zu verhindern, dass der Kontinent der nächste Hotspot der Pandemie wird.



Covid-19 hat bereits die Stärke der chinesisch-afrikanischen Beziehungen demonstriert (China ist der größte Wirtschaftspartner Afrikas). Peking hat medizinische Ausrüstung, Unterstützung und Experten in beinahe jedes afrikanische Land geschickt. Der chinesische Außenminister Wang Yi erklärte, China und Afrika sollten in der Bekämpfung von Covid-19 als „gute Brüder mit einem gemeinsamen Schicksal“ zusammenarbeiten.



Wenn Europa die eigenen Interessen schützen möchte, wäre die Entwicklung Afrikas gemeinsam mit China eine unmittelbare Priorität. Das Vernünftigste, was europäische Spitzenpolitiker tun könnten, wäre en masse das nächste China-Afrika-Gipfeltreffen in Peking zu besuchen. Eine große Beteiligung europäischer Politiker bei einem solchen Gipfel würde ein starkes Signal an die Märkte senden. Es könnte auch eine kraftvolle Welle neuer Investitionen in Afrika auslösen. Mit der Zeit wird es durch die Stärkung der afrikanischen Wirtschaft weniger Anreize für eine Auswanderung nach Europa geben.



Es gibt nur ein Hindernis für Europa, diesen vernünftigen Schritt zu gehen: Die USA werden ihn ablehnen. Man braucht sich nur die Versuche amerikanischer Regierungsvertreter anzusehen, andere Staaten davon abzubringen, an Chinas Belt and Road Initiative (BRI) teilzunehmen. „Wenn China an die Tür klopft, ist es nicht immer zum Wohle Ihrer Bürger“, warnte US-Außenminister Mike Pompeo bei einer Pressekonferenz nach einem Treffen mit Panamas Präsident Juan Carlos Varela im Oktober 2018. Die USA würden Einspruch erheben, „wenn staatliche Unternehmen in einer Art und Weise agieren, die offensichtlich nicht transparent, nicht marktgetrieben und nicht von der Absicht geprägt ist, den panamaischen Bürgern zu nutzen, sondern nur der chinesischen Regierung“. Sollten sich die Europäer entschließen, gemeinsam mit China an Investitionen in Afrikas Zukunft zu arbeiten, dürfte der US-Druck stark wachsen.



Für Amerika ist es jedoch wahrlich unklug, die Europäer anzuhalten, ihre eigenen langfristigen und existenziellen Herausforderungen im Umgang mit China zu ignorieren. Der Aufstieg Chinas ist keine Bedrohung für Europa. Vielmehr könnte es der langfristigen Stabilität Europas dienen, wenn China die afrikanische Entwicklung unterstützt. Die USA könnten natürlich versuchen, China in der Entwicklung Afrikas gleichzukommen. Doch der Umfang der Geldmittel, die Amerika angeboten hat, ist erstaunlich gering. Dagegen hat Peking im Rahmen der BRI über eine Billion Dollar zur Unterstützung von Infrastrukturinvestitionen angeboten. Bei einer solchen Summe kann Washington nicht mithalten.



Zu zögerliche Kritik an Amerika

Einen von den Vereinigten Staaten unabhängigen Standpunkt einzunehmen, wird europäischen politischen Entscheidungsträgern und strategischen Denkern nicht leichtfallen. Hin und wieder hat Europa dies bereits getan. Zum Beispiel, als die Trump-Regierung das Atomabkommen mit dem Iran verließ; Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich gründeten daraufhin die Zweckgesellschaft INSTEX, um weiter mit dem Iran handeln zu können. Das war mutig, wenn auch ineffektiv.



Jedoch hatte keine europäische Regierung den Mut, öffentlich darauf hinzuweisen, dass die US-Regierung dadurch, dass sie den Deal mit dem Iran nicht umsetzte, gegen das Völkerrecht verstieß; schließlich war das Abkommen vom UN-Sicherheitsrat in Resolution 2231 am 20. Juli 2015 befürwortet worden. Eine Resolution des Sicherheitsrats zu verletzen, ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht.



Der Internationale Gerichtshof verurteilte 2018 Amerikas Wiedereinführung von Sanktionen gegen den Iran und stellte fest, dass „die von den Vereinigten Staaten eingeführten Maßnahmen das Potenzial haben, die Sicherheit der zivilen Luftfahrt im Iran und das Leben der Flugreisenden zu gefährden, [und] dass Einschränkungen der Einführung und des Erwerbs von Gütern, die für humanitäre Zwecke benötigt werden, etwa Nahrungsmittel und Medikamente, einschließlich lebensrettender Medikamente ... schwere schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit und das Leben von Individuen auf dem Staatsgebiet des Iran haben können“. Die USA ignorierten dieses Urteil. Nichtsdestotrotz hat kein europäischer Spitzenpolitiker diesen Verstoß gegen das Völkerrecht als solchen benannt.



Diese europäische Zögerlichkeit, gegen beständige amerikanische Anstrengungen zur Schwächung oder Herabsetzung multilateraler Institutionen vorzugehen, sitzt tief. Ich konnte dies mit eigenen Augen sehen, als ich über zehn Jahre lang Singapurs Botschafter bei den Vereinten Nationen war. Traurigerweise hat Europa sogar amerikanische Versuche unterstützt, internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation zu schwächen, obwohl (wie Covid-19 aktuell beweist) unser globales Dorf eine starke WHO dringend braucht. Wie wurde sie geschwächt? Die USA und Europa senkten ihren Anteil an der verbindlichen Finanzausstattung des WHO-Budgets von 62 Prozent in den Jahren 1970/71 auf den heutigen Wert von weniger als 18 Prozent. Dies hat die Fähigkeit der WHO gelähmt, langfristig wissenschaftliche Expertise anzuwerben. Als die Trump-Regierung die WHO auf unfaire Weise für deren Krisenbekämpfung in der Corona-Pandemie attackierte, hat Europa sie nur zögerlich verteidigt.



Paradoxerweise untergräbt Europa sowohl sein eigenes als auch Amerikas langfristiges strategisches Interesse, indem es globale multilaterale Institutionen nicht gegen US-Angriffe verteidigt. Covid-19 hat eine neue globale Realität bestätigt, mit der wir leben müssen: Wir sitzen alle im gleichen Boot.



Den Multilateralismus bewahren

Viele europäische Spitzenpolitiker wie Angela Merkel und Emmanuel Macron sind sich der Bedeutung globaler multilateraler Institutionen bewusst und haben sich klar für sie ausgesprochen. Präsident Macron hat erklärt, dass „wir heute mehr denn je den Multilateralismus brauchen. Nicht, weil es ein bequemes Wort ist. Nein, sondern weil Multilateralismus Rechtsstaatlichkeit bedeutet. Er bedeutet Austausch zwischen Völkern, er steht für unser aller Gleichheit. Er erlaubt uns, Frieden zu erreichen und alle Herausforderungen, die sich uns stellen, anzugehen.“



Jetzt, wo die Weltpolitik wieder Fahrt aufnimmt, wird Europa herausfinden, dass es in dieser dramatisch veränderten Post-Corona-Welt die eigenen – aber auch die chinesischen und amerikanischen – langfristigen Interessen nur dann schützen kann, wenn es in Wort und Tat zum effektivsten Unterstützer multilateraler Normen und Institutionen wird. Glücklicherweise besteht die Chance noch, weil China sich weiterhin der Stärkung multilateraler Institutionen und Prozesse verpflichtet fühlt, wie Präsident Xi Jinping bei seinen Reden in Davos und Genf im Januar 2017 deutlich machte: „[Wir sollten] einen gut koordinierten und vernetzten Ansatz verfolgen, um ein Modell offener Kooperation zum gemeinsamen Vorteil zu entwickeln. … Staaten haben weitgehend konvergente Interessen und sind voneinander abhängig. Alle Staaten haben ein Recht auf Entwicklung. Gleichzeitig sollten sie ihre eigenen Interessen in einem größeren Gesamtzusammenhang betrachten und davon absehen, sie auf Kosten anderer zu verfolgen“, so Xi.



Um es deutlich zu sagen: Die Chance, multilaterale Institutionen zu stärken, besteht nicht ewig, sondern nur, solange China sich diesem Ziel ebenfalls verpflichtet fühlt. Covid-19 hat demonstriert, dass multilaterale Institutionen gestärkt werden müssen, damit Staaten zusammenarbeiten, um ein Virus zu besiegen, das keine Grenzen kennt. Das größte Problem dabei bleibt amerikanische Uneinsichtigkeit.



Doch ist diese Uneinsichtigkeit auch ein Ergebnis des Versagens amerikanischer Verbündeter wie der EU, die USA politisch zu überzeugen, dass die Welt, inklusive Amerika, mit einer stärkeren multilateralen Ordnung besser dasteht. Bezeichnenderweise hat der EU-Botschafter in Peking eine Erklärung abgegeben, der zufolge sowohl China als auch die EU „Vorzüge darin sehen, den Multilateralismus mit den Vereinten Nationen und der WTO als dessen Kern zu erhalten und zu verteidigen“. Der EU-Botschafter in Wa­shington sollte nun hart an einer Erklärung arbeiten, der zufolge auch die EU und die USA „den Multilateralismus mit den Vereinten Nationen, der WTO und der WHO als dessen Kern erhalten und verteidigen“.



Wenn Europa dies erreichen könnte, stünde am Ende eine sicherere, verlässlichere und stabilere Welt – zum Vorteil der Menschen in Europa und rund um den Globus. Das Glück hilft den Tapferen. Für Europa ist die Zeit gekommen, mit Mut Führungsstärke zu zeigen. 

 

Kishore Mahbubani diente 33 Jahre lang als hochrangiger Diplomat Singapurs (1971–2004) und war Gründungsrektor der Lee Kuan Yew School of Public Policy (2004–2017).

Übersetzung aus dem Englischen: Matthias Hempert

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2020, S. 26-30

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