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01. Juli 2007

Der Westen als Nadelöhr

Amerika und Europa gefährden die Legitimität internationaler Institutionen

Es ist nicht nur der amerikanische Unilateralismus, es ist auch die Uneinsichtigkeit der Europäer, die die Glaubwürdigkeit und Effizienz der Weltordnung unterminiert. Aus asiatischer Perspektive blockiert die undemokratische westliche Dominanz die internationalen Strukturen. Denn sie entspricht nicht mehr den Realitäten der Welt von heute.

Eine neue, friedliche und stabile Weltordnung ist möglich. Wir können das schaffen, aber um dahin zu gelangen, brauchen wir ein kraftvolles Umdenken. Ein Umdenken der führenden westlichen Köpfe.

Wenn westliche Denker die Lage der Welt reflektieren, betrachten sie die großen, globalen Probleme außerhalb der westlichen Hemisphäre. Es herrscht die festgefahrene Annahme, dass das Problem nicht bei „uns“ liegt, sondern bei „denen“. Die größte Veränderung, die das westliche Denken braucht, ist, in Erwägung zu ziehen, dass das Hauptproblem nicht „dort“ existiert, sondern „hier“. Der Westen wird gerade zum einzigen und größten Hindernis für einen friedlichen Übergang zu einer neuen Weltordnung.

Der Westen hat der Menschheit eine Menge Gutes getan. Der Erfolg der westlichen Zivilisation hat anderen Gesellschaften und Kulturen den Weg zum Erfolg geebnet, indem diese die besten Verfahren und Ideen des Westens übernommen haben. Deshalb sind wir Zeugen einer so dramatischen Verbesserung des Lebensstandards von Milliarden Menschen. Doch es ist geradezu eine Ironie der Geschichte, dass heute ausgerechnet der Westen – der den Aufstieg so vieler Länder und vor allem Asiens befördert hat – den kritischen Engpass darstellt, der die Neustrukturierung der Weltordnung verhindert. Es ist umso ironischer, dass die westlichen Vordenker, die die Debatten über Weltordnungsfragen dominieren, sich dieses akuten westlichen Engpasses nicht bewusst sind.

Der britische Historiker Angus Maddison hat darauf hingewiesen, dass vom Jahr eins bis zum Jahr 1820 entweder China oder Indien beständig die größten Wirtschaftsmächte waren. Erst ab 1820 begannen die westlichen Länder, andere Kulturen zu überflügeln. Dadurch war der Westen irgendwann in der Lage, die ganze Welt zu dominieren. Den europäischen Gesellschaften gelang es, alle Teile des Globus zu kolonisieren. Erst nachdem der Zweite Weltkrieg den europäischen Kontinent erschöpft hatte, fand die Kolonialherrschaft ein jähes Ende. Doch die westliche Vorherrschaft endete damit nicht.

Zwei einfache Beispiele veranschaulichen die andauernde Vorherrschaft des Westens in der Weltordnung. Ich meine zwei entscheidende Institutionen, die der Westen streng kontrolliert: Die erste ist der UN-Sicherheitsrat mit seinen zehn gewählten und fünf ständigen Mitgliedern. Die tatsächlichen Machtbefugnisse liegen bei den fünf ständigen Mitgliedern China, Frankreich, Russland, Großbritannien und den USA. Drei davon sind Westmächte (Frankreich, Großbritannien und die USA); sie allein haben 60 Prozent der Kontrolle über den UN-Sicherheitsrat, obwohl der Westen nur 15 Prozent der Weltbevölkerung stellt (900 Millionen von insgesamt 6,5 Milliarden Menschen). Warum sollten 15 Prozent der Weltbevölkerung 60 Prozent der ständigen Sitze im Sicherheitsrat haben?

Das zweite Beispiel ist noch empörender, denn hier geht es nicht nur um 60, sondern sogar um 100 Prozent der Kontrolle: Der IWF und die Weltbank sind die zwei führenden Wirtschaftsinstitutionen der Welt. Seit ihrer Gründung gibt es das ungeschriebene eiserne Gesetz, dass der Vorsitzende des IWF ein Europäer sein muss, der Chef der Weltbank ein Amerikaner. Diese Regelung hat sich seit über 60 Jahren nicht geändert, obwohl Amerikaner und Europäer einen sinkenden Anteil an der Weltbevölkerung ausmachen und – was noch viel schlimmer ist – einen immer geringeren Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt generieren. Eine weitere Ironie ist, dass die demokratischsten Länder der Welt für das Demokratiedefizit verantwortlich sind, das den wichtigsten internationalen Organisationen schadet. Dieses Problem kam durch eine Verschiebung der globalen Machtverteilung zustande. In der Vergangenheit dominierte der Westen die globale Wirtschaftsordnung. Im Jahr 1950 kontrollierten die OECD-Länder fast 75 Prozent der Weltwirtschaft. Folglich gab es einen klaren Zusammenhang zwischen dem ökonomischen und dem politischen Raum, den der Westen in der Weltordnung einnahm.

Heutzutage wird der ökonomische Einflussbereich des Westens jedoch kleiner, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er noch mehr zusammenschrumpfen wird. Die BRIC-Studie der Investmentbank Goldman Sachs sagt voraus, dass sogar nach vorsichtigen Wirtschaftsprognosen China, die USA, Indien und Japan im Jahr 2050 die vier größten Volkswirtschaften sein werden. Drei der vier größten Volkswirtschaften stammen also in Zukunft aus Asien. Kein einziger europäischer Staat wird unter den ersten vier sein, obwohl die EU als Ganzes weiterhin zu den stärksten Wirtschaftsräumen gehören wird.

Die Schrumpfung des westlichen Wirtschaftsraums geschieht ganz natürlich. Denn die Regeln der freien Marktwirtschaft ebnen den asiatischen Volkswirtschaften den Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum. Die asiatischen Länder haben außerdem enorme Finanzreserven angehäuft. Das bedeutet, dass – obwohl der asiatische Anteil am globalen Bruttosozialprodukt noch weit unter 50 Prozent liegt – Asiens Staaten schon mehr als 65 Prozent der Welt-Finanzreserven besitzen: Das entspricht einer Summe von 3,1 Billionen US-Dollar. Es gibt keine künstliche Einschränkung des wachsenden Wirtschaftsanteils Asiens am globalen Bruttosozialprodukt.

Aber es gibt sehr wohl eine enorme künstliche Beschränkung des asiatischen Anteils an der globalen Weltordnung. Denn alle entscheidenden Positionen und maßgebenden Kontrollsysteme sind in Händen der westlichen Hemisphäre, wie etwa die IWF/Weltbank-Regelung zeigt, nach der kein Asiate, Afrikaner oder Lateinamerikaner der Leiter einer solchen Institution sein darf. Wirtschaftliches Wachstum ist kein Nullsummenspiel, sondern ein Positivsummenspiel; d.h. dass das steigende asiatische Bruttosozialprodukt die absolute Größe der westlichen Wirtschaft nicht verringert. Aber politisches Wachstum ist ein Nullsummenspiel. In jeder internationalen Organisation, in der die Asiaten eine größere Rolle spielen möchten und an welcher sie einen bedeutenderen Anteil haben wollen, werden die westlichen Länder früher oder später etwas von ihrem Anteil abgeben müssen.

Die meisten Intellektuellen in Europa glauben, dass die unilaterale Politik der Bush-Administration den Großteil der Probleme unserer derzeitigen globalen Ordnung verursacht. Die Neokonservativen haben unserer Weltordnung zweifellos Schaden zugefügt; aber nur wenige europäische Intellektuelle sind bereit anzuerkennen, dass der europäische Unwille, Machtpositionen abzugeben, ebenso problematisch ist. Natürlich gibt es auch Ausnahmen: Pascal Lamy etwa hat in seinem mutigen Essay „Towards World Democracy“ auf das Demokratiedefizit hingewiesen, das internationale Organisationen wie die UN aufweisen: „Die wahre Macht der UN liegt beim UN-Sicherheitsrat, insbesondere im Vetorecht. Es ist das exklusive Vorrecht seiner fünf ständigen Mitglieder, deren Legitimität (die sich daraus ableitet, wer den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat), gelinde gesagt, seit 50 Jahren veraltet ist.“1

Europa hat sogar einen größeren Anteil an den strukturellen Anpassungsproblemen der globalen Ordnung, denn im Gegensatz zu den USA lehnt es einen einzigen EU-Sitz zur Repräsentation in führenden internationalen Institutionen ab. Diese starre Ablehnungshaltung ist eine der Hauptursachen dafür, dass der Westen ein so bedenkliches Nadelöhr für die Anpassung der Weltordnung an neue geopolitische und ökonomische Tatsachen geworden ist.

Werfen wir einen Blick auf den UN-Sicherheitsrat: Es entwickelt sich gerade ein starker Konsens, dass es bei Einführung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik durch die EU logischer wäre, wenn Europa mit einem einzigen Sitz anstelle von zwei (für Großbritannien und Frankreich) vertreten wäre. Jede andere Formel, auch die vorgeschlagene Aufnahme Deutschlands, würde nur dazu führen, dass Europa im UN-Sicherheitsrat überrepräsentiert wäre. Da die Europäer nur zehn Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, ist es schwer, drei europäische Vetomächte im Sicherheitsrat zu rechtfertigen. Aus diesem Grund wäre die einzig logische Lösung, einen einzigen europäischen Sitz im Sicherheitsrat zu etablieren und auch den neuen aufstrebenden Mächten einen Sitz zu geben. Es ist unerlässlich, dass die Vereinten Nationen einen klaren Konsens finden, um die Vetomächte aus den Mächten der Gegenwart – und nicht aus denen der Vergangenheit – zusammenzusetzen.

Es scheint europäischen Intellektuellen irgendwie zuwider zu sein, darauf scharf zu entgegnen (was einige im Gespräch aber durchaus tun): „Und wenn wir internationale Organisationen wie den UN-Sicherheitsrat dominieren – tun wir der Menschheit nicht einen Gefallen, indem wir diese internationalen Institutionen führen?“ Ich glaube, dass viele europäische Intellektuelle das nicht offen sagen würden, aber dass viele so denken. Daher ist es wichtig zu erklären, auf welche Weise europäische und amerikanische Überrepräsentation in wesentlichen internationalen Organen zu einer Verzerrung der Entscheidungsprozesse dieser Institutionen führt. Organisationen wie der UN-Sicherheitsrat treffen Entscheidungen, die die Interessen der fünf permanenten Mitglieder widerspiegeln, aber nicht die der Welt – obwohl der Sicherheitsrat eigentlich die Aufgabe hat, als ein Aufseher der globalen Gemeinschaft zur Wahrung des Friedens und der Sicherheit zu agieren. Einfach gesagt: Die derzeitigen Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats laufen Gefahr, sich in dieselbe Richtung zu entwickeln wie die Verordnungen von King George III. Sie werden noch eine Weile „legal“ sein, aber ihre „Legitimität“ wird allmählich erodieren – aus denselben Gründen, aus denen die Verordnungen von George III. ihre Legitimität verloren. Die frühen amerikanischen Kolonisten ärgerten sich darüber, dass sie Gesetze befolgen mussten, die sie nicht mitbestimmt hatten. Sie weigerten sich, einem Diktator zu gehorchen. Um ehrlich zu sein, die fünf Mitglieder des UN-Sicherheitsrats fungieren auf genau die gleiche Art und Weise – als Diktatoren der Welt. Sie treffen rechtsverbindliche Entscheidungen für 6,5 Milliarden Menschen, ohne diesen Leuten ein Mitspracherecht bei der Wahl der fünf permanenten Mitglieder zuzugestehen. Nur Monarchen und Diktatoren haben das Recht, fortwährend zu regieren, ohne sich um Wiederwahl bemühen zu müssen und zur Verantwortung gezogen werden zu können.

Weltweit verbreitet sich mehr und mehr die Wahrnehmung, dass der UN-Sicherheitsrat regelrecht von den Amerikanern „gekapert“ worden ist. Diese Aussage mag ein Schock für die Amerikaner sein, die sich noch lebhaft daran erinnern, dass der UN-Sicherheitsrat sich im März 2003 weigerte, den Angriff auf den Irak zu legitimieren. Diese Ablehnung, sich dem amerikanischen Willen zu beugen, war jedoch eine seltene Ausnahme. Denn meistens stimmt der Sicherheitsrat der amerikanischen Agenda einfach zu. Es gibt zwei strukturelle Gründe dafür, dass er normalerweise vor den amerikanischen Vorstellungen einknickt. Erstens sind die meisten Entscheidungen des Sicherheitsrats gewissermaßen ein Resultat von Verhandlungen zwischen den fünf permanenten Mitgliedern. Das fundamentale Prinzip der Verhandlungen ist sehr simpel: „Wie du mir, so ich dir.“ Die amerikanische Geschichte ist sehr vertraut mit solchen Deals – Geschäftemacherei in verrauchten Hinterzimmern im Senat, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Das Prinzip „Wie du mir, so ich dir“

Da es im Interesse der fünf permanenten Mitglieder ist, ihre privilegierte Position im Sicherheitsrat zu behalten und dabei ihre Sonderinteressen zu wahren, ist es besser, sich untereinander zu verständigen anstatt dem anderen in den Rücken zu fallen. Ich habe das selbst im Rat miterlebt. Eines Morgens, kurz bevor der UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Demokratischen Republik Kongo verabschieden sollte, die Frankreich eingebracht hatte, wies ein Beamter des UN-Friedenssicherungskomitees darauf hin, dass die in der Resolution vorgegebenen geographischen Koordinaten nicht wirksam von den UN-Friedenstruppen vor Ort umgesetzt werden könnten. Es gab einen Fehler in der Formulierung der Koordinaten. Die britischen und amerikanischen Abgeordneten schlugen daraufhin korrekterweise vor, dass der Rat nochmals bei einem informellen Treffen einen Blick auf den Resolutionsentwurf werfen sollte. Der französische Abgeordnete widersprach entschlossen: „Eine Abmachung ist eine Abmachung. Wir werden jetzt abstimmen.“ Er hatte einfach ein paar Zugeständnisse gemacht, um sich im Gegenzug die Unterstützung der Briten und Amerikaner für die Resolution zu sichern. Dieser Handel überging jedoch die Interessen der kongolesischen Bevölkerung und der UN-Friedenstruppen.

Der zweite Grund, warum sich der UN-Sicherheitsrat dem Willen der Amerikaner beugt, ist die Tatsache, dass es kaum im Interesse der nichtständigen Mitglieder ist (die für eine rotierende Mitgliedschaft von zweijähriger Dauer im Sicherheitsrat sitzen), sich gegen Amerika zu stellen – selbst wenn sie Amerikas Politik für falsch halten. Zwei Anekdoten veranschaulichen, was passiert, wenn Amerika seinen Einfluss im Rat geltend macht. Als Brasilien im Jahr 1999 im Sicherheitsrat saß, hatte es einen ungewöhnlich durchsetzungsfähigen UN-Botschafter: Celso Amorim. Der realisierte, dass für die Irak-Akte keine Lösung in Sicht war. Nach intensiven Verhandlungen schlug er vor, drei Gremien einzurichten, um die verschiedenen Dimensionen des Irak-Problems zu analysieren. Die meisten Mitglieder des Sicherheitsrats stimmten seinem Vorschlag zu. Folglich wurde zur Zeit der brasilianischen Präsidentschaft im Sicherheitsrat eine Resolution erlassen, diese drei Gremien einzurichten.

Doch dann passierte etwas Überraschendes: Botschafter Celso Amorim wurde plötzlich nach Genf versetzt – eine offensichtliche Degradierung. Jeder im Rat war verblüfft, da er ein sehr guter UN-Botschafter war. Präsident Chirac rief daraufhin den brasilianischen Präsidenten an, um herauszufinden, was passiert war. Die Antwort lautete, dass Washington in Brasilien angerufen und gesagt hatte: „Wenn ihr Brasilianer wollt, dass Amerika euch in Bereichen, die euch wichtig sind, unterstützt (wie z.B. im IWF), dann sollte Brasilien Amerika in Bereichen unterstützen, die wichtig für Amerika sind (wie z.B. beim Irak).“ Brasiliens bilaterale Beziehungen mit Amerika würden leiden, wenn es nicht die Interessen Amerikas berücksichtigte. Das passierte wohlgemerkt nicht während der Ära Bush, sondern zu Clintons Amtszeit. Daher macht es keinen Unterschied, wer in Washington regiert, denn Amerika bleibt konsequent und wird diejenigen Länder einen hohen Preis zahlen lassen, die sich gegen amerikanische Interessen im Rat stellen. Wenn das so weitergeht, wird es nicht lange dauern, bis der UN-Sicherheitsrat nur noch als Instrument amerikanischer Außenpolitik wahrgenommen wird.

Die zweite Anekdote bezieht sich auf den UN-Sicherheitsrat und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Das Mandat des Sicherheitsrats ist eindeutig: Er hat die grundlegende Aufgabe, sich mit Bedrohungen des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit auseinanderzusetzen. Es ist ebenso eindeutig, dass er kein Mandat besitzt, um in juristischen Angelegenheiten zu entscheiden. Im Jahr 2002 wurde der IStGH gegründet. Die USA entschieden, dem Gerichtshof nicht beizutreten. Doch obwohl die USA das Statut des IStGH nicht ratifiziert hatten, waren seine Bürger nicht von den Bestimmungen befreit. Amerikanische Soldaten, die Kriegsverbrechen begingen, konnten vor dem IStGH zur Verantwortung gezogen werden (obwohl dies sehr unwahrscheinlich ist, da der IStGH eindeutig vorschreibt, dass die primäre Rechtszuständigkeit bei den nationalen Gerichtshöfen liegt). Amerika wollte dennoch die absolute Immunität für seine Soldaten und nutzte deshalb die rechtsverbindliche Beschaffenheit der UN-Sicherheitsratsresolutionen aus: Es entwarf eine Resolution, die festlegte, dass der UN-Sicherheitsrat den US-Friedenstruppen vollständige Immunität gegenüber dem IStGH gewährleistet.

Nahezu alle internationalen Juristen waren sich einig, dass der Sicherheitsrat damit seine Entscheidungsmacht in Bezug auf den IStGH überschreiten und missbrauchen würde. Nichts in der Charta der Vereinten Nationen erlaubt eine solche Vorgehensweise. Dies war in der Tat auch die Reaktion der meisten Mitglieder des Sicherheitsrats, als der amerikanische Resolutionsentwurf vorgestellt wurde. Alle europäischen Mitglieder des Rates hatten das IStGH-Statut ratifiziert. Und der britische Abgeordnete betonte, dass Vertragsauflagen unter britischem Gesetz verpflichtend seien und dass das Vereinigte Königreich nicht für eine Resolution stimmen könne, die diesen Auflagen widerspreche. Dennoch verabschiedete der Rat die Resolution zur Immunität der US-Soldaten gegenüber den Bestimmungen des IStGH. Letztlich übertrumpfte die amerikanische Macht damit das internationale Recht. Amerika hatte gewonnen, aber es war ein Pyrrhussieg, denn es hatte gleichzeitig die Bedeutung und Autorität des UN-Sicherheitsrats untergraben.

Nach und nach erkannte auch Amerika den Wahnwitz, den der Missbrauch des Sicherheitsrats zur Umgehung von IStGH-Gesetzen darstellte. Es annullierte die Resolution im Jahr 2004. Jedoch lehrt dieses Ereignis, dass die Bedeutung und Legitimität des UN-Sicherheitsrats nicht selbstverständlich sind. Um eine wirkungsvolle Institution zu bleiben, muss der UN-Sicherheitsrat aber seine Legitimität wahren. Daher ist es an der Zeit, einschneidende Veränderungen an seiner Arbeitsweise und Zusammensetzung vorzunehmen.

Ich bin um die ganze Welt gereist, um über die Zukunft der Vereinten Nationen zu sprechen. Die Bilanz der Gespräche ergab, dass die fünf ständigen Mitglieder und der Sicherheitsrat ernsthaft riskieren, ihre Legitimität zu verlieren. Um diese Aussage zu veranschaulichen, möchte ich ein paar Pressekommentare zitieren. In einem Leitartikel der bekannten pakistanischen Zeitung Dawn schrieb etwa Shamshad Ahmad, der ehemalige Außenminister Pakistans: „Der Sicherheitsrat hat keine erkennbare Bedeutung bei der Prävention und Lösung von Konflikten. Seine Beratungen werden theatralisch in einstudierten Debatten und choreographierten Szenarien veranstaltet. Die Verhandlungen sind nicht transparent. Die öffentlichen Sitzungen des Sicherheitsrats sind lediglich eine Talkshow, in der Mitglieder angehört werden, aber zugehört wird ihnen nicht.

Entscheidungen zu kritischen Themen werden entweder in Washington getroffen oder unter den großen Fünf in verschlossenen Hinterzimmern des Rates ausgemacht.“2 Der türkische Kolumnist Deniz Ulke Aribogan kommentierte im Boulevardblatt Aksam: „Die UN haben einen sehr wichtigen Zweck erfüllt, denn sie haben die Nationen vereint, um die Wunden der zwei Weltkriege zu heilen. Die Struktur der Organisation wurde jedoch von den Siegermächten vorgegeben und gewährleistete ihnen einen privilegierten Vetostatus im UN-Sicherheitsrat. Die privilegierten Mitgliedsstaaten haben seit der Gründung der UN nie ein Problem darin gesehen, die UN zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen zu nutzen.“3 György Fodor, Journalist der liberalen ungarischen Zeitung Magyar Hirlap, schrieb: „Was für eine Institution ist das, die eine Reorganisation und Umorientierung der neuen Weltordnung durch eingebaute Bremsen verhindert? Der Sicherheitsrat kann nicht reformiert, erweitert, verkleinert oder begrenzt werden, da die gegenwärtigen Mitglieder des Sicherheitsrats das nicht wollen und dagegen ihr Veto einlegen würden. Ist das klar? Das ist der Surrealismus des 21. Jahrhunderts (...). Die Vereinten Nationen können nicht reformiert werden. Sie sollten zerlegt und neu aufgebaut werden.“ Diese drei kritischen Kommentare aus verschiedenen Teilen der Welt veranschaulichen die ernsthaften Schwierigkeiten des Sicherheitsrats, seine Legitimität zu wahren. Legalität allein ist nicht genug. In den Augen der amerikanischen Kolonisten waren auch die Entscheidungen von King George III. legal, aber nicht legitim. Den Entscheidungen des Sicherheitsrats könnte dasselbe passieren.4

Ich habe vor allem dem UN-Sicherheitsrat Aufmerksamkeit geschenkt, weil er theoretisch die mächtigste Organisation der Welt ist. Es ist die einzige globale Organisation, die die rechtliche Befugnis hat, Gewaltanwendung zu autorisieren. Nach dem geltenden Völkerrecht ist die Anwendung von Gewalt nur legitim, wenn es sich um Selbstverteidigung handelt oder sie vom UN-Sicherheitsrat genehmigt ist. Jede Organisation mit einer derart bedeutenden Macht muss das Vertrauen der 6,5 Milliarden Menschen genießen, die auf unserem Planeten leben. Doch die Legitimität des Sicherheitsrats wird zunehmend schwinden, wenn der Westen nicht erkennt, dass er seine Macht mit anderen aufstrebenden Ländern teilen muss. Europa muss sich schnellstens auf einen einzigen Sitz im UN-Sicherheitsrat einlassen, um den bedenklichen Engpass durch eine Reform dieser Institution zu beseitigen.

Der UN-Sicherheitsrat ist nicht die einzige mächtige Institution, die Gefahr läuft, ihre Rechtmäßigkeit aufgrund eines Mangels an „demokratischer Legitimität“ zu verlieren. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank befinden sich in fast genau derselben Situation. Eine der sonderbarsten Anomalitäten unserer Zeit ist, dass es praktisch nicht möglich ist, dass ein Asiate den Vorsitz im IWF oder der Weltbank innehat.

Die Vorsitzenden zu bestimmen, ist nicht das einzige Mittel, mit dem die USA und Westeuropa den IWF und die Weltbank dominieren. Sie beherrschen durch die Quotenregelung auch das Stimmrecht. Trotz der enormen Verschiebung der ökonomischen Gewichte haben die USA und Westeuropa im IWF und der Weltbank einen überproportionalen Anteil an diesen Quoten. Ein Papier des australischen Finanzministeriums zur Quotenregelung vom November 2004 kommt zu einer einfachen Erkenntnis: Egal welcher Maßstab verwendet werde, um das ökonomische Gewicht festzulegen (Bruttoinlandsprodukt basierend auf dem Marktpreis oder der Kaufkraftparität) – es zeichne sich ab, dass „China und Japan (sowie andere asiatische Staaten) immer unterrepräsentiert sind“.5 Schlussfolgerung: „Es wird für den IWF zunehmend schwieriger werden, sich als unzweifelhaft internationale Institution zu behaupten, wenn stetig wachsende Teile der Welt kein hinreichendes, ihrer ökonomischen Größe entsprechendes Mitspracherecht besitzen.“6

Ideologische Fehler, falsche Entscheidungen

Nach Ansicht des amerikanischen Ökonomen Jeffrey D. Sachs „begannen die Fehler der Bank in den frühen achtziger Jahren, als unter dem ideologischen Einfluss von US-Präsident Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher versucht wurde, die Regierungsinvestitionen und -leistungen in Afrika und anderen armen Regionen zu drosseln oder ganz wegfallen zu lassen.7 Diese extreme Ideologie der freien Marktwirtschaft, die so genannte ‚strukturelle Anpassung‘, widersprach den praktischen Erfahrungen der Entwicklungserfolge in China und dem restlichen Asien. Praktische Entwicklungsstrategien erkennen an, dass staatliche Investitionen – in Landwirtschaft, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur – notwendige Ergänzungen zu privaten Investitionen bilden. Die Weltbank hat stattdessen fälschlicherweise geglaubt, dass solche staatlichen Investitionen sich nicht mit Entwicklungen im Privatsektor vereinen lassen. Und immer dann, wenn die extreme Ideologie der freien Marktwirtschaft versagte, gab man den Armen die Schuld dafür und sprach von Korruption, Misswirtschaft oder Mangel an Initiative.“8 Jeffrey Sachs’ Ausführungen machen deutlich, warum die Kontrolle des IWF und der Weltbank durch die Amerikaner und Europäer schädliche Auswirkungen haben kann. Viele Laien glauben auch, es sei irgendwie angemessen, dass die USA und Westeuropa die Kontrolle des IWF und der Weltbank für sich beanspruchen, da sie das meiste Geld in diese Organisationen investieren. Dies galt jedoch nur für die ersten Jahre des IWF und der Weltbank, inzwischen nicht mehr.

Professor Stephany Griffith-Jones erläutert, dass zum Beispiel die Weltbank immer weniger von den Beiträgen der reichen Industrieländer abhängig ist: „Die Führung der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD – International Bank for Reconstruction and Development) spiegelt nicht die aktuellen finanziellen Beiträge zum Kapital der IBRD wider. Zur Zeit ihrer Gründung war das eingezahlte Grundkapital eine Starthilfe für die Institution. Während der folgenden Jahrzehnte wuchs das Eigenkapital der Bank stetig an; teilweise durch Zuschüsse zum Grundkapital, aber vor allem durch Rücklagen aus beträchtlichen Nettoeinkommen, die von den Gewinnen der Darlehen an Entwicklungsländer stammen (...). Demzufolge hat das finanzielle Argument für die Dominanz der entwickelten Länder im Weltbank-Gremium an Zugkraft verloren. In der Weltbank ist das Mitbestimmungsrecht an die Kapitalbeteiligung gebunden. Während ihrer Gründung, als Kapitalbeteiligungen noch stark an die finanziellen Beiträge gebunden waren, war das sinnvoll. Heutzutage nehmen jedoch einige Großaktionäre, insbesondere die USA, einen Einfluss auf die Institutionen, der nicht im Verhältnis zu ihren laufenden Kosten steht.“9

Weltbank wie IWF müssen realisieren, dass ihre politische Glaubwürdigkeit weltweit schwindet. Beide Organisationen schienen unbesiegbar, unverwundbar und unfehlbar. Heutzutage sehen viele sie als inkompetent und unbedeutend an. Die Weltbank hat noch das bessere Ansehen von beiden. Trotzdem meint Lex Rieffel, Gaststipendiat des Globalen Wirtschafts- und Entwicklungszentrums bei Brookings: „Eine Schließung des IWF würde eine gravierende Lücke in das internationale Finanzsystem reißen, aber auf die Stilllegung der Weltbank trifft das nicht zu. Um ihre Bedeutung für die nächsten 60 Jahre aufrechtzuerhalten, muss die Weltbank wahrscheinlich ihren Hauptsitz von Washington weg verlegen, ihre Mitarbeiter auf Dienststellen in den Ländern verteilen, in denen sie agiert, einen nichtamerikanischen Präsidenten wählen und sich vom IWF unabhängig machen.“10 Wegen seiner unzulänglichen Leistungen während der asiatischen Finanzkrise 1997/98 hat aber auch der IWF seine Glaubwürdigkeit noch nicht wieder vollständig herstellen können. Obwohl seine Aktivitäten nicht so schlecht waren, wie viele Kritiker behaupten, ist die Ansicht weit verbreitet, dass der IWF damals geschludert hat. Dieser Vertrauensmangel spiegelt sich nicht nur in der öffentlichen Meinung wider, sondern auch in der Abneigung vieler Entwicklungsländer, einen IWF-Kredit aufzunehmen. Länder, die ihre Kredite vollständig zurückzahlen können, erklären ihre „Unabhängigkeit“. Selbst lateinamerikanische Staaten machen das. Und mehrere asiatische Länder sichern sich die Unabhängigkeit vom IWF durch die Anhäufung von enormen Finanzreserven. Alle diese Faktoren stellen ein akutes Problem für den IWF dar, denn da nur wenige Länder noch Kredite aufnehmen wollen, hat sich das IWF-Einkommen stark verringert. Es ist an der Zeit, dass sich Amerika und Westeuropa fragen, ob es wirklich ihren nationalen Interessen entspricht, den gegenwärtigen Zustand des IWF und der Weltbank aufrechtzuerhalten. Sie stehen vor einem simplen Dilemma: Machen sie weiter wie bisher und nehmen den zunehmenden Verlust an Glaubwürdigkeit und Effektivität in Kauf? Oder sind sie bereit, eine Veränderung in den Führungspositionen und eine Umstrukturierung der Mitspracherechte zugunsten der aufstrebenden Länder zu akzeptieren, was die Legitimität der beiden Institutionen verbessern würde? Um ein Bonmot meines Kollegen Charles Adams zu bemühen: Werden Europa und Amerika der große Fisch im schrumpfenden Teich bleiben oder werden sie sich damit abfinden, ein etwas kleinerer Fisch in einem gedeihenden See zu sein?

Dieser Essay hat sich mit dem UN-Sicherheitsrat, dem IWF und der Weltbank befasst, da sie die krassesten Beispiele für die enormen globalen Verzerrungen liefern, die aus der westlichen Vorherrschaft in diesen Institutionen resultieren. Dieselbe Analyse kann jedoch auch auf andere wichtige globale Geschehnisse übertragen werden, zum Beispiel den Prozess der G-7 bzw. G-8. Seit 1976 haben die G-7-Mitglieder, also die USA, Kanada, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan der Welt ihre globale Vorherrschaft vorgegaukelt. Und trotz der Einbeziehung Japans ist die G-8 eindeutig ein westlicher Club geblieben. Sie treffen sich einmal im Jahr und machen jedes Mal aufgeblasene und anmaßende Aussagen, die den Zustand der Weltordnung wiedergeben sollen. Außerdem sind sie zahllose Verpflichtungen eingegangen, um die Lage der Welt zu verbessern, besonders die der afrikanischen Länder. Jedes Treffen verursacht einen gewaltigen Medienrummel.

Doch die objektive Prüfung dieser Gipfel zeigt, dass die G-7/G-8 nichts erreicht hat. Sie hat die Welt weder sicherer noch besser gemacht. Noch schlimmer ist, dass es nach unzähligen Versprechen für Afrika dem Kontinent trotzdem schlechter geht. Vielleicht gibt es da sogar einen Kausalzusammenhang. Der größte Schaden, den diese Gipfeltreffen verursachen, ist die Erzeugung der Illusion, dass irgendjemand von irgendwoher den gesamten Globus verwaltet. Die schlichte Wahrheit dagegen wird in den westlichen Medien nicht verbreitet: Alle Gipfelteilnehmer sind mehr daran interessiert, gut auszusehen, als Gutes zu tun. Die westlichen Medien sind sogar ein Teil des Problems, weil sie die Illusion kreieren, dass die Gipfelstaaten die globale Vorherrschaft besitzen. Die Gipfelländer verkörpern außerdem die mächtigen Demokratien der Welt. Wenn Demokratien tatsächlich dazu da wären, sich um globale Interessen zu kümmern, gäbe es genügend Belege für diese Tendenz im Verhalten der Gipfelländer in den letzten 30 Jahren. Stattdessen finden sich zahlreiche Beweise für das Gegenteil: Demokratien sind darauf programmiert, globale Bedürfnisse zu Gunsten nationaler Interessen zu opfern. Es ist deshalb höchste Zeit, dass der Westen erkennt, dass er für den kritischen Engpass bei der Reform der Weltordnung verantwortlich ist. Jeder westlichen Analyse zur Lage der Weltordnung sollte die Annahme zugrunde liegen: Das Problem liegt nicht bei den „anderen“, es liegt bei „uns“. Die große Frage für die Welt ist: Wann wird der Westen vom Problem zur Lösung werden?

Prof. Dr. KISHORE MAHBUBANI, geb. 1948, ist Dekan und Professor für Public Policy an der Lee Kuan Yew School of Public Policy der National University of Singapore (NUS). Publikationen u.a. „Can Asians Think?“ und „Beyond the Age of Innocence: Rebuilding Trust Between America and The World“. Dieser Essay enthält Auszüge aus seinem demnächst erscheinenden Buch „Teheran to Tokyo“.

  • 1Pascal Lamy: Towards World Democracy, London 2005, S. 21–22.
  • 2Shamshad Ahmad: No more of this global carnival, Dawn, 2.12.2006.
  • 3United Nations: At „The Crossroads“ at 60, globalsecurity.org, 29.9.2005, zu finden unter http://www.globalsecurity.org/wmd/library/news/un/wwwh90529.html.
  • 4Ebd.
  • 5Karen Taylor u.a.: IMF Quotas, Representation and Governance, Australian Government Treasury Working Paper, November 2004, S. 11.
  • 6Ebd., S. 12.
  • 7Jeffrey D. Sachs: China Steals a march on the World Bank, The Straits Times, 25.5.2007.
  • 8Ebd.
  • 9Stephany Griffith-Jones: Governance of the World Bank, Paper prepared for the UK Department for International Development, 2002, S. 11.
  • 10Lex Rieffel: Don’t Rush to Reform the Fund (and the Bank), The Examiner, 23.3.2006.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 54 - 66.

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