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01. Juni 2008

Europäische Krämerseelen

Die EU vergibt wichtige Entwicklungschancen, wenn sie die Potenziale der Balkan-Staaten nicht nutzt

Wo manifestiert sich Europa am spontansten? Im Eurovision Song Contest? Oder in der Europa-Meisterschaft im Fußball? In wirklich europäischen Universitäten wie in Brügge, Maastricht, Bologna, Frankfurt an der Oder? Oder ist das Herz Europas doch die Politik – und damit Brüssel mit Parlament, Rat und Kommission?

Für mich stirbt der europäische Gedanke seit 1990 jedes Jahr ein bisschen mehr. Der Fortschritt – ob bei Vertiefung oder Erweiterung – ist nicht zu leugnen. Schließlich sind weitere Länder als Mitglieder hinzugekommen. Das Schengen-Land wird immer größer. Die Geld- und Kapitalmärkte sind zusammengewachsen, nicht zuletzt wegen des Financial Services Action Plan, einer brillanten Leistung insbesondere der EU-Kommission. Und natürlich, symbolkräftiger als alles Übrige: die Einführung und der Erfolg der europäischen Währung, des Euro.

All diese Fortschritte sind Realität. Und doch: Daraus entstand kein europäischer Geist. Stattdessen dominiert rückwärtsgewandtes Gefühl. Ein Drittel der Deutschen wünscht sich die DM zurück. Selten war die Marktwirtschaft so unverstanden, wurde so abgelehnt wie derzeit. Jede Runde der Erweiterung wird mit Missmut, mit Ängsten assoziiert. Sorgen vor Überfremdung, Sorge vor unfairer Konkurrenz, die Befürchtung, von noch mehr Kostgängern umgeben zu sein und die Zeche zahlen zu müssen, beherrschen die Szene. Es gibt kein europäisches Bewusstsein. Es gibt nur Krämerseelen. Niemand spricht über die Chancen der Händler und Produzenten. Niemand empfindet die große Freiheit, die Wahlmöglichkeiten, die nie größer waren als im Europa von heute. Viele Länder haben durch die EU Zugang zu freiem Handel bekommen, haben eine Nabelschnur zum Kapitalmarkt erhalten, sind Teil einer erfolgreichen Wirtschaftsordnung. All diese Ergebnisse sind den Weichenstellungen der großen europäischen Architekten zu verdanken, die bereits abgedankt haben oder schon gestorben sind. Nun hat auch die politische Klasse ihren europäischen Impuls verloren. Manche reden noch europäisch. Aber ihr Handeln ist von Bedenkenträgerei geprägt. Die Rückwendung ins Nationale feiert Urständ, mancherorts gar die Hinwendung zum Stamm. Tribalismus ist die neue Realität Europas. Die Kämpfer sind erweiterungsmüde, sie sind vertiefungsmüde. Sie sind des Integrationsdiskurses überdrüssig. Sie wollen Ruhe.

Aber Geschichte lässt sich nicht aufhalten. Darauf zu bestehen, dass die Integration weiterer Teile Europas uns überfordere, wäre ungeschichtlich. Es ist wahr: Das Europa von heute mit seinen fast 30 Mitgliedern ist ein Klub, der noch immer eine Verfassung hat, die sich für eine Gemeinschaft von sechs sehr homogenen Gesellschaften eignet. Wir haben unsere Verfassung nicht der heutigen Realität angepasst. Damit ist die Arbeitsfähigkeit dieser Gemeinschaft gefährdet. Und Europa ist nicht vorbereitet darauf, jene neuen Aufgaben erfolgreich anzupacken, die vor uns stehen. Wie können Italien, Österreich, Ungarn, Griechenland – um nur einmal die unmittelbaren Nachbarn zu nennen – glauben, dass die Region Südosteuropa stabil bleiben könnte, wenn wir Slowenien ganz im Klub haben, die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen und nicht neben Kroatien auch Serbien und Mazedonien eine zeitnahe Beitrittsperspektive zur EU anbieten? Da wird den Integrationsbefürwortern entgegengehalten, dass schon der rasche Beitritt Bulgariens und Rumäniens in Anbetracht der mangelnden realen Konvergenz verfrüht gewesen sei, dass die Bereitschaft, den Acquis communautaire zu akzeptieren, überstrapaziert gewesen sei. Und bei Serbien wird die Nähe zu Russland als ein wichtiger Grund für Skepsis bezüglich des Integrationswillens gesehen.

Es ist offenkundig, dass das ehemalige Jugoslawien sowohl ethnisch als auch religiös eine besondere Herausforderung für die europäische Integration darstellt. Aber es ist ebenso offenkundig, dass allein die starke Institution EU eine Basis für den Reformprozess in Südosteuropa ist. Ohne eine offene, arbeitsteilige Gesellschaft ist die Chance auf eine ökonomische und gesellschaftliche Weiterentwicklung gering. Und das umliegende Europa verschenkt seine Entwicklungschancen, wenn es die verschiedenen und attraktiven Talente der Menschen dieses Teiles Europas nicht aufsaugt. Die Logistik Südosteuropas funktioniert nicht ohne ein integriertes Serbien. Die Economies of scale können mit kleinstaatlichen Lösungen nicht genutzt werden. Nur mithilfe der Moderatorenrolle der EU werden die Streitigkeiten zwischen den Teilen des ehemaligen Jugoslawien auf ein akzeptables Minimum zu begrenzen sein.

Grundrechte lassen sich in der EU verlässlicher für alle Menschen in dieser Region sichern. Worauf also warten wir? Wir sollten etwas früher aufstehen, etwas kürzer Mittagspause machen, einen Teil des abendlichen Fernsehkonsums lieber zur Gestaltung unseres Kontinents einsetzen. Diesen kulturellen und ökonomischen Schatz zu pflegen, ihn mit anderen auf diesem Globus zu teilen, das muss doch faszinieren! Das muss doch stolz machen! Belgrad ist Europa mit sehr beeindruckenden Moscheen. Und sein Schinken kann es mit spanischem Jamón absolut aufnehmen.

Prof. Dr. NORBERT WALTER, geb. 1944, ist Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe in Frankfurt am Main;  www.norbert-walter.de.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2008, S. 78 - 79

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