Eine nukleare Allianz
Die NATO beschließt den Verbleib der amerikanischen Atomwaffen in Europa
Wie schreckt man wen und womit ab? Dazu verabschiedete die NATO ein neues Dokument, das eine wichtige Einigung enthält: Die amerikanischen Atomwaffen bleiben in Europa. Darüber hinaus kann man den „Deterrence and Defense Posture Review“ für eine glaubhafte Abschreckungsstrategie oder als ein Festhalten am Althergebrachten bewerten.
Weitgehend unbeachtet von der Politik und den Medien verabschiedete die NATO bei ihrem Gipfel im Mai 2012 ein Dokument mit dem Titel „Deterrence and Defense Posture Review“. Hinter diesem typischen Produkt Brüsseler Verhandlungsdiplomatie – nur für Experten verständlich – verbirgt sich die zumindest vorläufige Lösung im Streit um die amerikanischen Atomwaffen in Europa.
Zur Erinnerung: Im November 2009 forderte die damals frisch gewählte gelb-schwarze Bundesregierung in der NATO den Abzug der Atombomben, welche die USA nach wie vor auf deutschem Boden lagern und für deren Einsatz die Bundeswehr Tornado-Flugzeuge mit deutschen Piloten bereitstellt. Dieses so genannte „Zweischlüssel-System“ ist, genau wie die Bomben selbst, ein Relikt des Kalten Krieges. Diese Waffen sollten die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Nukleargarantie für die europäischen Verbündeten symbolisieren. Nach dem Fall der Mauer wurden die Bomben auf sehr geringe Stückzahlen in Deutschland und wenigen anderen NATO-Staaten reduziert.
Angesichts der veränderten Sicherheitslandschaft war die deutsche Frage nach dem Sinn dieser Waffen durchaus berechtigt. Auch hatte der amerikanische Präsident Barack Obama erst im Frühjahr 2009 seine Vision einer atomwaffenfreien Welt verkündet und erhebliche Erwartungen für eine umfassende nukleare Abrüstung geweckt. Schließlich stand ein Neustart der Beziehungen zu Russland an und gab der deutschen Abrüstungseuphorie weiter Auftrieb. Das Nuklearproblem stand im Raum.
Doch in seiner Rüstungskontollbegeisterung hatte Deutschland den Abzug der Bomben gefordert, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie denn Abschreckung in einer Welt künftig gewährleistet werden solle, in der Kernwaffen nach wie vor eine Rolle spielen. Es hatte die NATO-Partner nicht konsultiert, die aufgrund ihrer Geschichte und geografischen Lage immer noch großen Wert auf amerikanische Sicherheitsversprechen – auch nukleare – legen. Und wie die drei Nuklearstaaten im Bündnis (USA, Frankreich und Großbritannien) darüber denken, hatte man ebenso wenig abgeklärt.
So gab es große Meinungsunterschiede vor dem historischen Gipfeltreffen in Lissabon im Herbst 2010, bei dem eine neue NATO-Strategie für das nächste Jahrzehnt beschlossen werden sollte. Deutschland rückte von der Abzugsforderung nicht ab, hatte man diese doch sogar im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP verankert. Andere NATO-Partner machten aus ihrer Ablehnung dieser Idee keinen Hehl und sahen in dem Verbleib der amerikanischen Atomwaffen nach wie vor den Lackmustest für die Bündnissolidarität. Auch bei Obama war mittlerweile viel vom nuklearen Abrüstungselan verflogen, der Neustart mit Russland stockte schon länger, und Frankreich passte die gesamte Debatte nicht, pocht Paris doch seit jeher auf seine nukleare Unabhängigkeit.
In dieser schwierigen Situation wurde klar, dass sich die nukleare Grundsatzfrage „Wie schreckt man wen und womit ab?“ nicht mehr länger unterdrücken ließ. Man einigte sich darauf, diese heikle Debatte im Bündnis zu führen. Allerdings sollte es nicht um die Nuklearwaffen allein gehen. Auch die Frage, was konventionelle Waffen zur Abschreckung beitragen könnten, sollte untersucht werden, ebenso wie die möglichen Auswirkungen einer Raketenabwehr. Als reichte dies noch nicht aus, sollte es natürlich auch noch um Abrüstung gehen – ein umfassender „Deterrence and Defense Posture Review“/DDPR) eben.
Viele Fragen, schwierige Antworten
Worauf man sich da eingelassen hatte, wurde schon in den ersten Sitzungen in Brüssel im Januar 2011 deutlich. Nicht nur die Positionen der NATO-Mitglieder lagen meilenweit auseinander, auch das Abschreckungsthema selbst war voller politischer Fallgruben. Ist die Frage der nuklearen Abschreckung schon schwierig genug, so sind alle vier Bereiche – Nuklearwaffen, konventionelle Streitkräfte, Raketenabwehr und Abrüstung – unmittelbar miteinander verknüpft.
Wenn beispielsweise die internationale Wirtschaftskrise die NATO-Staaten zu drastischen Kürzungen bei den konventionellen Waffen zwingen sollte, heißt das, dass mehr Nuklearwaffen benötigt werden? Aber wie erklärt man das dem Bürger? Führt umgekehrt nukleare Abrüstung zu einem größeren Bedarf im konventionellen Bereich, und wer soll diesen bezahlen? Bedeutet eine funktionierende Raketenabwehr, dass man überhaupt keine nukleare Abschreckung mehr braucht, weil man ja vor Angriffen geschützt ist, und wie kann man sich dessen sicher sein? Sollen mit Atomwaffen nur die Staaten abgeschreckt werden, die ebenfalls über Nuklearwaffen verfügen? Soll die NATO also offiziell erklären, dass sie Atomwaffen nie gegen Nichtnuklearstaaten einsetzt, und was soll eine solche Erklärung bewirken?
Der DDPR ist schwere Kost, weil um jedes Komma gerungen und mancher Dissens mit verschachtelten Sätzen und komplizierten Formulierungen übertüncht wurde. Allerdings ist er mehr als ein kleinster gemeinsamer Nenner, denn er brachte eine Einigung in der zentralen Nuklearfrage. So stellt der Review in Paragraph 8 lapidar fest, dass die derzeitige Nuklearstruktur der NATO – die „Posture“ – den Erfordernissen von Abschreckung und Verteidigung entspricht.1 Das gilt sowohl für die Waffen (die amerikanischen Atombomben), die Stationierungsorte (auf dem Boden europäischer NATO-Staaten) als auch für die mögliche Einsatzform (mit Flugzeugen der europäischen Bündnismitglieder).
Nun kann man sicher streiten, ob eine Posture, die ihre Wurzeln im Kalten Krieg hat, noch den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts entspricht. Der Umstand aber, dass alle 28 NATO-Mitglieder dem zugestimmt haben und dass das Dokument öffentlich zugänglich ist, schafft eine Realität, hinter die kein Allianzpartner zurückfallen kann. Die Abzugsdiskussion ist damit auf absehbare Zeit vom Tisch.
Aber der DDPR geht noch weiter und stellt klar, dass alle Bestandteile der nuklearen Posture sicher und effizient gehalten werden müssen. Was nicht mehr heutigem Stand der Technik und der Sicherheit entspricht, muss also modernisiert werden. Folglich werden die derzeit in Europa gelagerten Atombomben vom Typ B-61 durch neuere Modelle gleichen Typs, aber mit anderer Sicherheitstechnik ersetzt. Das wird die USA etwa vier Milliarden Dollar kosten und soll bis 2023 abgeschlossen sein. Deutschland bringt übrigens 250 Millionen Euro auf, um die alternden Tornado-Flugzeuge noch bis 2024 in ihrer nuklearen Rolle halten zu können.
Von Obamas Idee einer nuklearwaffenfreien Welt ist in dem Review nur noch wenig die Rede. Die NATO erklärt sich bereit, die Bedingungen für weitere nukleare Reduzierungen zu schaffen. Abrüstung mit Russland soll es nur dann geben, wenn Moskau „reziprok“ agiert und von seinen vielen tausend Atomwaffen deutlich mehr abbaut als die NATO, deren Bestände im kleinen dreistelligen Bereich liegen. Angesichts der großen Bedeutung, die Russland seinen Atomwaffen beimisst, ist damit nicht wirklich zu rechnen.
Wenn es aber doch zu einer Verminderung (es wird ausdrücklich nicht von „Eliminierung“ gesprochen) der NATO-Nuklearwaffen kommt, dann soll geprüft werden, wie man nichtnukleare NATO-Mitglieder stärker an möglichen nuklearen Einsätzen beteiligen könne. Schon heute leisten 13 NATO-Staaten zumindest konzeptionell Unterstützung für nukleare Operationen. Sollte es zum extrem unwahrscheinlichen Fall eines Kernwaffeneinsatzes mit NATO-Flugzeugen kommen, so würden diese Länder etwa Luftbetankung, Begleitflüge oder Aufklärungsdaten bereitstellen.
Konsens in der Nuklearfrage
In einigen Bereichen bleibt der DDPR hinter den Erwartungen zurück. Die Wechselwirkung zwischen Kernwaffen, konventioneller Rüstung und Raketenabwehr hat man nicht überzeugend darstellen können. Was also eine funktionierende Raketenabwehr oder drastische Kürzungen bei den NATO-Streitkräften für die Abschreckung insgesamt bedeuten (und wen man eigentlich abschreckt), ist offen geblieben. Auch misst der Review gelegentlich mit zweierlei Maß: Von Russland wird gefordert, bei den eigenen Kernwaffenbeständen und den Lagerstätten möglichst große Transparenz zu zeigen, während die NATO selbst die Zahl ihrer Bomben immer noch geheim hält.
Je nach Standpunkt wird man den DDPR entweder als ein Festhalten am Althergebrachten oder als Gewinn für eine glaubhafte Abschreckungsstrategie in einem unvorhersehbaren Sicherheitsumfeld bewerten. In jedem Fall zwang er alle Bündnismitglieder, sich mit heiklen Fragen zu befassen, die in der Vergangenheit gerne unter den Teppich gekehrt wurden. In dieser Hinsicht war der Prozess des DDPR so wichtig wie das Resultat selbst. Dass auch noch substanzielle Einigung erzielt wurde, schafft einen Konsens in der Nuklearfrage, den die NATO in der Form lange nicht hatte. Er beendet damit eine Debatte, die für die Fortentwicklung der NATO notwendig gewesen ist, die aber teilweise von unrealistischen Hoffnungen auf Abrüstung und Träumen von der Rückkehr in das vornukleare Zeitalter gekennzeichnet war.
Die derzeitigen Entwicklungen im Iran und in Nordkorea zeigen, wie viel Realismus in der Abschreckungsfrage heute erforderlich ist. Damit ist das Problem der künftigen Rolle von Atomwaffen auch nicht grundsätzlich ad acta gelegt. Sobald Teheran über Kernwaffen verfügt oder Pjöngjang einen neuen Atomtest durchführt, steht das Thema erneut auf der Tagesordnung. Wie glaubwürdig ist das Abschreckungskonzept der NATO, wenn die Zahl der Nuklearstaaten ansteigt? Was können die NATO oder ihre drei Nuklearstaaten tun, um die weitere Verbreitung von Kernwaffen im Mittleren Osten oder in Asien zu verhindern? Ist vielleicht die MENA-Region (Middle East and Northern Africa) mit all ihren Friktionen viel mehr das Problem für das NATO-Abschreckungskonzept als Russland?
Darum ist die jetzige nukleare Posture der NATO auch nicht in Stein gemeißelt, sondern wird in Abständen auf ihre Tauglichkeit geprüft werden müssen. Wer aber Vorschläge zur Veränderung oder zum Abbau einzelner Waffenkategorien macht, muss künftig nicht nur die Funktionsfähigkeit der Abschreckung insgesamt im Auge behalten, sondern sich auch in dem Rahmen bewegen, den der DDPR gesteckt hat.
Dr. Karl-Heinz Kamp ist Forschungsdirektor am NATO Defense College in Rom. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 98-101