Kein neuer Kalter Krieg
Aber die NATO muss entschieden auf Russlands Annexion der Krim reagieren
Angesichts der Krim-Krise steht die klassische Funktion der NATO als transatlantisches Verteidigungsbündnis wieder im Mittelpunkt. Bei ihrem Gipfel im September muss sie Antworten auf das völkerrechtswidrige Verhalten Russlands finden. Dazu sollte gehören, die Präsenz in den osteuropäischen NATO-Mitgliedstaaten auszuweiten.
Niemand konnte ahnen, wie viel Aufmerksamkeit auf diesem Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO liegen würde, als die Atlantische Allianz vor einigen Monaten mit den konkreten Planungen für den Gipfel im September 2014 im walisischen Cardiff begann. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim-Halbinsel durch Russland hat die sicherheitspolitische Agenda in Amerika und Europa schlagartig geändert und Erinnerungen an den Kalten Krieg wieder aufleben lassen. Nicht nur in Osteuropa fragt man sich besorgt, ob Moskau seinen Expansionsdrang auf die Krim beschränken wird oder auch Teile der Ostukraine mit russischen Truppen zu „befreien“ beabsichtigt. Die klassische Funktion der NATO als transatlantische Verteidigungsallianz steht auf einmal wieder im Mittelpunkt, nachdem das Bündnis jahrelang vor allem als Instrument zum Krisenmanagement in Regionen außerhalb Europas gesehen wurde.
Auch wenn das, was der sonst eher zurückhaltende deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die schärfste Krise seit 1989 nannte, noch lange nicht vorüber ist und die Folgen für die NATO nicht absehbar sind, stellen sich dennoch vier unmittelbare Fragen: Was sind die Folgen des völkerrechtswidrigen Handelns für die künftige Rolle Russlands? Auf welche Szenarien muss sich die NATO einstellen? Welche Maßnahmen muss die euro-atlantische Allianz ergreifen, um ihrer Rolle als Sicherheitsbündnis gerecht zu werden? Und schließlich: Bedeutet die Ukraine-Krise eine Rückkehr zu den Mechanismen des Kalten Krieges?
Der russische Präsident Wladimir Putin scheint mit dem Anschluss der Krim an Russland seinem offensichtlichen Ziel der Wiederherstellung einstiger russischer Größe einen Schritt näher gekommen zu sein; doch die Kosten-Nutzen-Bilanz dürfte insgesamt eher negativ ausfallen. Hatte Moskau in der Vergangenheit mit Hilfe des willfährigen Janukowitsch-Regimes in Kiew Einfluss auf die gesamte Landmasse der Ukraine, so kontrolliert man künftig nur noch kleine Teile des Landes, während sich andere der russischen Bevormundung widersetzen. Niemand weiß, wie sich die Auseinandersetzungen zwischen der ukrainischen und der russisch-stämmigen Bevölkerung entwickeln werden. Mit einer in sich zerrissenen Ukraine hat sich Putin selbst eine neue Quelle der Instabilität in seinem ohnehin problembeladenen Machtbereich geschaffen.
Die NATO präsentiert sich hingegen in ungewohnter Einigkeit – trotz ihrer begrenzten Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Geschehen in der Ukraine. Von Nuancen in der Position gegenüber Russland abgesehen – hier etwas konzilianter, dort etwas mehr auf Härte drängend –, war die Ablehnung der Aktionen Moskaus einhellig. Kein Vergleich zu den innereuropäischen und transatlantischen Grabenkämpfen um den Irak-Krieg oder in der Libyen-Krise. Das hat Auswirkungen über die Tagespolitik hinaus. Fragte man vor Monaten noch besorgt, wie denn die Allianz ihre künftige Existenz nach dem Ende des Afghanistan-Einsatzes rechtfertigen könne, so scheint sich diese Zukunftsangst erledigt zu haben.
Neue Beitrittsperspektiven
Stattdessen gewinnt das Bündnis Zuspruch. In Schweden und Finnland hat in den vergangenen Wochen eine ernsthafte Debatte über einen Beitritt zur NATO eingesetzt, und die schwedische Regierung hat bereits anklingen lassen, dass sie den Verteidigungshaushalt erhöhen wird. Eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO steht angesichts der aktuellen Lage nicht zur Debatte. Allerdings gibt es einen weiteren Bewerberstaat, dessen Beitrittswunsch nach den jüngsten Ereignissen neu bewertet werden muss. Georgien hatte 2008 zusammen mit der Ukraine die prinzipielle Zusage zu einer NATO-Mitgliedschaft erhalten, ohne dass ein konkreter Beitrittszeitpunkt festgelegt wurde.
Bislang gab es neben engagierten Unterstützern einer georgischen NATO-Mitgliedschaft auch wichtige NATO-Staaten wie Deutschland, die eine Aufnahme des Landes mit Rücksicht auf Moskau ablehnten. Georgien erhielt trotz seines starken Engagements in Afghanistan nicht einmal den sogenannten „Membership Action Plan“ (MAP), ein Vorbereitungsprogramm für Bewerberstaaten und eine Vorstufe zur endgültigen Aufnahme. Es spricht viel dafür, sich auf dem kommenden NATO-Gipfel der Mitgliedsfrage erneut anzunehmen und Georgien in den MAP aufzunehmen. Damit setzt sich die NATO nicht unter Zeitdruck, da sie nach wie vor im Konsens aller 28 Bündnismitglieder selbst entscheiden kann, wann die endgültige Aufnahme erfolgt. So hat Albanien zehn Jahre lang die Auflagen des MAP erfüllen müssen, bevor es 2009 endgültig der NATO beitreten konnte. Mit der Aufnahme Georgiens in den MAP würde die Allianz ein deutliches Zeichen für das Selbstbestimmungsrecht und die freie Bündniswahl von Staaten setzen, ohne die akuten territorialen Streitigkeiten Georgiens mit Russland zu importieren.
Die negativen Folgen für Russland gehen weit über die NATO hinaus. Der üblichen EU-Schelte zum Trotz hat sich die Europäische Union in der Krise als handlungsfähig erwiesen. Sanktionen mögen weniger dramatisch ausfallen, als von manchem gewünscht; wirkungslos bleiben sie nicht. Auch Einzelstaaten werden aktiv: Polen wird die Genehmigungsverfahren für die Gewinnung von Schiefergas mithilfe des Frackings erleichtern, und die USA erwägen die Lieferung von Flüssiggas nach Europa, um das Erpressungspotenzial russischer Energieexporte zu mildern. All dies wird schmerzhaft für Moskau – gerade in einer Zeit, in der die wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsperspektiven Russlands alles andere als rosig sind. Offenbar hat sich Russland mit der Annexion der Krim einen Bärendienst erwiesen und gegen eigene Interessen gehandelt – oder besser, gegen das, was in der NATO und der EU für die Interessen Russlands gehalten wurde.
Prüfung der Glaubwürdigkeit
Mit Blick auf mögliche künftige Szenarien und Gefährdungen ist dies alles andere als beruhigend. Es zeigt nämlich, dass der russische Präsident sein eigenes Kosten-Nutzen-Kalkül verfolgt und eventuell noch größere Risiken eingehen könnte, als die einer militärischen Aktion gegen die Ukraine oder gegen Georgien im Jahr 2008.
Das bislang gültige Axiom, Russland würde nicht gegen einen NATO-Staat vorgehen, da der eigene Schaden den möglichen Gewinn weit übersteigen würde, wird in Osteuropa nicht mehr als gegeben angesehen. Stattdessen fragt man sich, ob Ähnliches nicht auch im Baltikum passieren könnte. Die russischstämmige Bevölkerung in Estland etwa könnte gegen eine vermeintliche Unterdrückung oder Benachteiligung protestieren, was wiederum die estnischen Sicherheitskräfte auf den Plan rufen würde. Die daraus folgenden Auseinandersetzungen könnten vom russischen Geheimdienst gezielt angeheizt und zu Gewaltausbrüchen auf beiden Seiten geführt werden. Dies wiederum würde Moskau einen Vorwand liefern, russische Pässe an die Protestierenden zu verteilen, um dann zum Schutz der russischen Bevölkerung auf estnischem Boden aktiv zu werden.
Dies würde zu einer existenziellen Krise der NATO führen. Die Ablehnung militärischer Mittel, wie im Fall der Ukraine aus gutem Grund verkündet, wäre in diesem Fall nicht haltbar, würden doch russische Truppen auf estnischem Territorium einen Angriff auf das gesamte Bündnisgebiet gemäß Artikel 5 des Washingtoner Vertrags darstellen. Schreckten die Mitgliedstaaten aber vor einer militärischen Verteidigung Estlands zurück, so wäre das Ende der NATO als glaubwürdiges Sicherheitsbündnis besiegelt.
Um nicht in diese Zwangslage zu kommen, muss die NATO eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, die eine zweifache Botschaft aussenden: ein Zeichen der Entschlossenheit an einen möglichen Angreifer, dass eine Aggression gegen ein NATO-Mitglied nicht hingenommen würde, und ein Signal der Glaubwürdigkeit an die Mitglieder in Osteuropa, dass die Allianz zu ihren Verpflichtungen steht. Hierfür sind mehrere Schritte vorstellbar, die nicht alle unmittelbar umgesetzt, aber zumindest diskutiert werden müssen – wofür der kommende Gipfel eine gute Gelegenheit bietet.
Verteidigungswille und Solidarität
Zunächst ist es wichtig, die bestehende NATO-Ukraine-Partnerschaft nicht abreißen zu lassen. NATO-Militärstellen haben bereits den Auftrag erhalten, weitere Optionen für die Zusammenarbeit mit den ukrainischen Streitkräften zu entwickeln. Auch sollten Streitkräfte verschiedener NATO-Staaten möglichst häufig oder gar permanent auf das Territorium der osteuropäischen Mitglieder verlegt werden. Dadurch würde genau die angesprochene Doppelbotschaft vermittelt: Verteidigungswille gegenüber einem Angreifer und sichtbare Solidarität mit den betroffenen NATO-Staaten. Bereits heute fliegen Kampfflugzeuge der Bundeswehr abwechselnd mit anderen Bündnispartnern regelmäßige Patrouillendienste – sogenanntes Air Policing – über den baltischen Staaten, da diese über keine eigene Luftwaffe verfügen. Diese sollten künftig auch dauerhaft amerikanische Militärflugzeuge einbeziehen. Gleichzeitig sollten die in der Krise aufgenommenen Flüge von AWACS-Aufklärungsflugzeugen verstetigt werden.
Bislang hat es bereits mehrfach NATO-Manöver in Osteuropa gegeben. Um eine permanente Präsenz zu erreichen, könnten Teile der NATO-Kommandostruktur auf den Boden der nach 1999 beigetretenen Staaten verlegt werden. Zuvor müsste die NATO erklären, dass sie sich an ihre 1997 gegenüber Russland gegebene Selbstverpflichtung, keine größeren Militäreinheiten dauerhaft in Osteuropa zu stationieren, nicht mehr gebunden fühlt. Auch müssten Verfahren eingeübt werden, amerikanische Streitkräfte im Bedarfsfall rasch nach Europa zu verlegen. Zu Zeiten des Ost-West-Konflikts gab es die regelmäßigen Reforger-Manöver (Return of Forces to Germany), in denen das US-Militär auf bereits in Europa gelagertes Großgerät zurückgreifen konnte.
Darüber hinaus dürfte Osteuropa darauf drängen, dass die NATO ihre Verteidigungsplanung der neuen Lage anpasst – die baltischen Staaten hatten eine solche Anpassung schon einmal nach der Georgien-Krise durchgesetzt. Bislang gibt es nur wenige und eher allgemein gehaltene Planungen – so genannte Contingency Plans – für die Verteidigung besonders exponierter Regionen wie die Türkei, Polen, Griechenland und Nordnorwegen. Diese müssten mit Blick auf mögliche Artikel-5-Bedrohungen konkretisiert werden. Pläne, die einst für Szenarien wie die „Geiselnahme“ Hannovers durch sowjetische Streitkräfte oder begrenzte Aggressionen gegen West-Berlin entwickelt wurden, sind zwar nicht auf heute übertragbar, zeigen jedoch, dass Überlegungen für Fälle ähnlich der Annexion der Krim bereits angestellt wurden.
Gleiches gilt für die politischen Grundlagendokumente der NATO. Das gültige Strategische Konzept bedarf noch keiner Anpassung, weil die überragende Bedeutung der Bündnisverteidigung gemäß Artikel 5 darin bereits festgehalten ist. Die nachgeordneten Dokumente aber, wie etwa die Politischen Leitlinien, sollten überprüft werden. Die EU und ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) könnten ebenfalls nutzbar gemacht werden, um die seit Langem im Tiefschlaf verharrende NATO-EU-Kooperation zumindest mit etwas Leben zu füllen. Würden die EU-Battlegroups regelmäßig in Osteuropa üben, könnten Nicht-NATO-Mitglieder wie Schweden oder Finnland einbezogen werden, die wiederum besondere Beistandsverpflichtungen gegenüber dem Baltikum eingegangen sind. Moskau wird jeden dieser Schritte sofort als Eskalation brandmarken und der NATO unterstellen, Öl ins Feuer zu gießen. Derartiges gehört allerdings zum Propagandageschäft und unterschlägt geflissentlich, dass sich diese Maßnahmen lediglich auf das NATO-Bündnisgebiet beschränken. Es liegt im Wesen einer Verteidigungsallianz, Pläne und Vorkehrungen für die möglichen Sicherheitsgefährdungen zu entwickeln.
Kein neuer Kalter Krieg
Führt die Ukraine-Krise zurück zu den Mechanismen des Kalten Krieges? Angesichts der seit Jahren zu beobachtenden Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Russland und der NATO könnte dieser Eindruck entstehen. Dennoch ist die Analogie unzutreffend und verkennt wichtige Unterschiede.
Zum einen ist Russland militärisch, politisch und wirtschaftlich heute deutlich schwächer als die Sowjetunion auf der Höhe des Ost-West-Konflikts. Selbst wenn russische Streitkräfte besser ausgebildet sind als während der Georgien-Krise, decken sich Moskaus imperiale Vorstellungen bei Weitem nicht mit der Realität eines Landes, das auch zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer noch keine weltmarktfähigen Produkte zu bieten hat – außer Rohstoffe und Waffen. Langfristig sinkende Energiepreise und die sich anbahnende Autonomie Nordamerikas bei Gas und Öl machen es für Russland nicht einfacher.
Zum anderen ist die aktuelle russische Politik vor allem eine Politik Putins. Das legt die Vermutung nahe, dass ein Nachfolger – wann immer und auf welchem Wege er an die Macht kommen wird – erkennt, dass an einer Modernisierung Russlands kein Weg vorbeiführt und man hierfür den Westen braucht. Gerade deshalb ist es richtig, bei aller Notwendigkeit eines entschiedenen Auftretens gegenüber Moskau, nicht alle Verbindungen und Kontakte zu kappen.
Schließlich bedeutet die Krise auch nicht das Ende der Zusammenarbeit auf Feldern von beiderseitigem Interesse. Gemeinsame Probleme etwa in der Antarktis und ihren eisfreien Schiffsrouten können auch gemeinsam angegangen werden. Träume einer „strategischen Partnerschaft“ oder einer „gemeinsamen Sicherheit“ mit Russland sind aber fürs Erste ausgeträumt.
Dr. Karl-Heinz Kamp ist Direktor Weiterentwicklung an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
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