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01. Okt. 2006

Eine neue nukleare Ordnung?

Die orthodoxe Rüstungskontrollschule ist nicht mehr zeitgemäß

Das Iran-Problem ist mit seinem Status als Ölexporteur verknüpft, Pakistan wird als Partner im Antiterrorkampf gebraucht, Indien ist geopolitisch bedeutsam: Wie lassen sich neue realpolitische Notwendigkeiten mit klassischen Nichtverbreitungsprinzipien in Einklang bringen? Diese Frage stellt sich auch für Rüstungskontrollpuristen.

Am Ende seiner klassischen Studie über das europäische Staatensystem des frühen 19. Jahrhunderts zog Henry Kissinger eine ernüchternde Bilanz. Historisch gewonnene Erfahrungen seien letztlich ohne Belang, wenn man die Gegenwart nicht korrekt zu interpretieren vermag. So hätten die handelnden Staatsmänner jener Zeit zwar die Konsequenzen einer revolutionären Lage durchaus verstanden, doch da sie selbst nicht in einer revolutionären Epoche zu leben glaubten, erwiesen sich ihre Erfahrungen als wertlos. Die große Herausforderung für die politische Führungskunst sei daher, so Kissinger, zunächst einmal die eigene Epoche richtig einzuordnen.1

Wie groß diese Herausforderung ist, zeigt sich exemplarisch an der Diskussion über die Zukunft des nuklearen Nichtverbreitungsregimes. Die in dieser Debatte verwendeten Begriffe scheinen dem politischen Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts entlehnt zu sein. Viel ist da von etablierten Regimen die Rede, von deren Legitimität oder Illegitimität, von Emporkömmlingen, die die Privilegien anderer für sich selbst reklamierten, von revolutionären Kräften, die die bewährte Ordnung herausforderten, und von der Anarchie, die unweigerlich drohe, falls dem umstürzlerischen Treiben nicht rechtzeitig Einhalt geboten werde. Es ist die Sprache einer Umbruchszeit.

Dass sich das Nichtverbreitungsregime im Umbruch befindet, ist unbestritten. Das Scheitern der Überprüfungskonferenz des Atomwaffen-Sperrvertrags (Nonproliferation Treaty - NPT) im Mai 2005 und vor allem die Dauerkrise um das iranische Nuklearprogramm lassen keinen anderen Befund zu. Mehr noch: Während die internationale Staatengemeinschaft dem Iran, einem Mitglied des NPT, unter Hinweis auf dessen dubioses Verhalten das Recht zur Anreicherung von Uran abzusprechen versucht, vereinbarten die USA im März 2006 die nukleare Zusammenarbeit mit Indien - einem Land, dass sich außerhalb des NPT befindet. Die Krise der nuklearen Nichtverbreitung könnte deutlicher nicht sein. Bei der Frage jedoch, wer diese Krise verschuldet hat und wie sie überwunden werden könnte, stehen sich zwei Denkschulen unversöhnlich gegenüber.

Für die Anhänger der liberalen Rüstungskontrollschule ist der Fall eindeutig. Sie halten das Nichtverbreitungsregime für prinzipiell erfolgreich und zukunftsfähig. In ihren Augen ist die gegenwärtige Krise in erster Linie Ergebnis des Unwillens der Kernwaffenstaaten, ihren Teil des im NPT vereinbarten Tauschhandels - umfassende nukleare Abrüstung - ernsthaft zu verwirklichen. Vor allem die widersprüchliche Politik der USA trage die Verantwortung für die Erosion des Nichtverbreitungsregimes. Die amerikanische Weigerung, das umfassende Teststopp-Abkommen zu ratifizieren, eine ans Irrationale grenzende Fixierung auf “rogue states“, der Krieg gegen den Irak, das fortgesetzte Streben nach nuklearen militärischen Optionen, aber auch das Abkommen mit Indien hätten das Nichtverbreitungsregime in eine massive Glaubwürdigkeitskrise geführt, die den Umgang mit den (wenigen) Vertragsverletzern erschwerten. Nach Ansicht dieser Denkschule bedarf es vor allem eines sicherheitspolitischen Kurswechsels der USA, um die Krise der Nichtverbreitung zu beenden.2

Der Befund, amerikanische Doppelmoral sei letztlich die Ursache der Nichtverbreitungskrise, fällt umso leichter, als kein Staat - und schon gar nicht eine globale Ordnungsmacht - eine völlig widerspruchsfreie Außen- und Sicherheitspolitik für sich reklamieren kann. Unterstellt man ferner, dass den Vereinigten Staaten als stärkster Militärmacht der Welt eine Art Treuhänderschaft für das Nichtverbreitungsregime obliegt, so wiegen Widersprüche im amerikanischen Verhalten besonders schwer. Doch steht diese Interpretation, die die USA in der Rolle eines Herausforderers einer etablierten Ordnung sieht, noch im Einklang mit der nuklearen Wirklichkeit? Oder handelt es sich hier vielmehr um ein Beispiel für eben jenes Phänomen, das Kissinger so eindringlich beschrieb: die Weigerung, eine revolutionäre Lage als solche zu erkennen und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen?

Für diejenigen jedenfalls, die zu der Überzeugung gelangt sind, es heute mit einer qualitativ neuen Situation zu tun zu haben, ist die aktuelle Sicherheitspolitik der USA nicht Ursache der Nichtverbreitungskrise, sondern vielmehr eine Reaktion darauf. Für diejenigen, die sich in einem neuen, “zweiten“ nuklearen Zeitalter wähnen, in demdie Normen und Verhaltensweisen der bipolaren Epoche nur noch eingeschränkt Anwendung finden, hat das klassische Nichtverbreitungsregime und der ihm zugrunde liegende rüstungskontrollpolitische Ideenhaushalt sein goldenes Zeitalter längst hinter sich.

Zu viel hat sich nach Auffassung dieser Denkschule verändert, um an einer doppelten Fiktion festzuhalten - an der Fiktion, das unter spezifischen politisch-militärischen Konstellationen entstandene Nichtverbreitungsregime könne seine ordnungspolitische Bedeutung auch im 21. Jahrhundert ohne größere Modifikationen, wie etwa bilaterale Initiativen oder militärische Zwangsmaßnahmen, beibehalten; und an der Fiktion, eine konziliantere, vorbehaltlos auf Multilateralismus setzende amerikanische Politik könne dem angeschlagenen Nichtverbreitungsregime wieder zu neuer Blüte verhelfen.

Strukturelle Probleme des Nichtverbreitungsregimes

Mit inzwischen 187 Unterzeichnerstaaten ist der NPT zwar ein wirklich globales Vertragsregime geworden, doch seine intellektuellen Wurzeln entstammen dem Kalten Krieg. Es war vor allem das gemeinsame Interesse der nuklearen Rivalen USA und UdSSR, keine weiteren Nuklearmächte über die damals existierenden fünf hinaus zuzulassen. Ohne eine umfassende Beschränkung, so glaubte man damals, würden allzu viele Staaten - auch enge Bündnispartner wie Deutschland oder Japan - dem Drang nach nuklearem Prestige nachgeben. Doch wie sollte ein Vertrag aussehen, der nichts Geringeres anstrebte als die einvernehmlich festgeschriebene Ungleichheit zwischen den Nuklearmächten und den “nuklearen Habenichtsen?“ Wie ließ sich ein Rüstungskontrollregime errichten, das, wie manche Kritiker süffisant formulierten, auf ein System der “nuklearen Apartheid“ hinauslief?

Der NPT gab die Antwort. Den nicht-nuklearen Unterzeichnern des Vertrags wurden verschiedene Formen der Kompensation in Aussicht gestellt. Zum einen würden sie Hilfe bei der zivilen Nutzung der Kernenergie erhalten. Zweitens würden die Unterzeichnerstaaten von einem berechenbaren strategischen Umfeld profitieren können. Denn nicht nur würden die Kernwaffenstaaten keine militärisch relevante Nukleartechnologie weitergeben, sie verpflichteten sich außerdem zu nuklearer Abrüstung und dazu, kernwaffenfreie Staaten nicht nuklear anzugreifen. Drittens schließlich war der Vertrag zunächst zeitlich begrenzt, und er enthielt  die Option, ihn angesichts übergeordneter nationaler Interessen aufkündigen zu können.

Dieses komplexe Tauschgeschäft schuf die Grundlage für den NPT, der 1968 abgeschlossen wurde und zwei Jahre später in Kraft trat. Wirklich zufrieden stellen konnte er nie. Dafür waren die strukturellen Probleme von Anfang an viel zu offen-sichtlich. So existierte mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zwar ein Instrument, um die Einhaltung des Vertrags zu kontrollieren, doch Sanktionsmechanismen bei Vertragsbrüchen waren nicht vorgesehen. Der Charakter des Vertrags als zunächst zeitlich begrenztes Übereinkommen half zwar, die durch ihn zementierte Ungleichheit zu ertragen, machte den Vertrag zugleich jedoch äußerst verwundbar gegen Veränderungen der internationalen politischen Großwetterlage. Vor allem aber war absehbar, dass die allgemeine Abrüstungsverpflichtung der Nuklearmächte von den anderen Staaten früher oder später eingeklagt werden würde - sei es aus echter Überzeugung oder als Alibi, um sich selbst den Weg zur Nuklearmacht zu ebnen.

Als Achillesferse des Vertrags erwies sich jedoch seine energiepolitische Dimension. Der NPT verhinderte die militärische Proliferation, indem er die zivile Proliferation förderte. Da sich jedoch die zivile Kerntechnologie von ihrer militärischen Nutzung nur marginal unterscheidet, warnten einige Experten schon bei der Unterzeichnung des Vertrags vor einer Lage, wie sie heute im Iran Wirklichkeit zu werden droht: Ein Staat konnte sich über sein vertragskonformes ziviles Nuklearprogramm bis an die Schwelle zur Atommacht herantasten. Lediglich die letzten Schritte zur Herstellung von Nuklearwaffen wären ihm untersagt - Schritte, die ein entschlossenes Regime dann eben unmittelbar nach seinem kurzfristigen Ausstieg aus dem NPT vollziehen würde.3

Trotz dieser allseits bekannten Schwächen entwickelte sich der NPT zunächst zu einem echten Erfolg. Nach und nach traten fast alle Staaten dieser Welt dem Vertrag bei. Für die meisten Staaten überstiegen die politischen und wirtschaftlichen Kosten einer Kernwaffenoption deren strategischen Nutzen. Nukleare Nichtverbreitung schien sich sogar zu einer globalen Norm zu entwickeln. So stellte Südafrika auf dem Weg zur Demokratisierung sein Nuklearwaffenprogramm in den späten achtziger Jahren ein. Und als kurz darauf der Kalte Krieg endete, übergaben die neuen unabhängigen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ihre Nuklearwaffen an die Russische Föderation und traten dem NPT als kernwaffenfreie Staaten bei. Der Höhepunkt dieser positiven Entwicklung war die zeitlich unbefristete Verlängerung des NPT im Mai 1995.

Die Erosion der Nichtverbreitung

Dieser scheinbare Triumph des globalen Nichtverbreitungsregimes konnte gleichwohl bereits damals nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass sich die Zeiten geändert hatten. Zum einen war mit dem Ende des Ost-West Konflikts auch die strukturbildende Rolle zu Ende gegangen, die nukleare Waffen während des Kalten Krieges im Rahmen eines Systems der wechselseitigen Abschreckung gespielt hatten. Zum anderen begannen sich nun die Auswirkungen der Globalisierung auch sicherheitspolitisch immer deutlicher abzuzeichnen. Das Ergebnis war eine Reihe von Entwicklungen, die das Nichtverbreitungsregime inzwischen auf das Äußerste strapaziert haben.

Schon kurz nach dem Ende des Kalten Krieges geriet ein Pfeiler des Nichtverbreitungsregimes ins Wanken. Als die USA unmittelbar vor dem Golf-Krieg im Frühjahr 1991 einen irakischen Giftgaseinsatz gegen die Koalitionstruppen befürchten mussten, warnten sie Saddam Hussein, ein solcher Schritt würde das Ende seines Regimes bedeuten. Diese weithin als implizite Nukleardrohung verstandene Warnung war zwar keine formale Aufkündigung der negativen Sicherheitsgarantien, die den Einsatz von Kernwaffen gegen einen kernwaffenfreien Staat untersagen. Doch die Episode machte deutlich, dass biologische und chemische Massenvernichtungswaffen in die nukleare Gleichung einbezogen werden mussten. Eine globale Ordnungsmacht wie die USA, die davon ausgehen musste, es künftig auch mit chemisch und biologisch bewaffneten Gegnern zu tun zu haben, konnte auf nukleare Drohungen - zumindest rhetorisch - nicht verzichten.

Unmittelbar nach dem Golf-Krieg von 1991 folgte bereits die nächste Enttäuschung. Nun stellte sich heraus, dass der Irak über viele Jahre ein umfassendes militärisches Nuklearprogramm betrieben hatte, das nur noch wenige Monate von der Herstellung eines einsatzfähigen Atomsprengkopfs entfernt gewesen war. Für die Internationale Atomenergiebehörde erwies sich der Fall Irak als Fiasko. Trotz jahrelanger regelmäßiger Kontrollen hatte man das Programm nicht bemerkt. Die Staatengemeinschaft reagierte. Ein Zusatzprotokoll zum NPT erweiterte die Kompetenzen der IAEA, die nun auch Verdachtsinspektionen durchführen konnte. Doch bis heute bleiben Zweifel an der prinzipiellen Überprüfbarkeit des Nichtverbreitungsregimes. Dies umso mehr, als die entscheidende Frage, ob und wie man Vertragsverletzungen benennen und ahnden soll, nach wie vor höchst umstritten ist.

Zu den Herausforderungen im Nahen Osten gesellten sich schon bald Probleme in Südostasien. 1994 gelang es den USA durch massiven diplomatischen Druck, das nordkoreanische Atomprogramm vorläufig einzufrieren, doch die Krise um Nordkorea, das 2003 aus dem NPT austrat, dauert bis heute an. Im Frühjahr 1998 versetzten die Nukleartests Indiens und Pakistans, zwei der wenigen Staaten, die dem NPT nicht beigetreten waren, dem Nichtverbreitungsregime einen weiteren schweren Schlag. Asien entwickelte sich offenkundig zum neuen Brennpunkt der Proliferation. Geopolitische Rivalitäten, agressiver Nationalismus und nukleares Drohpotenzial verbanden sich hier in einer Weise, die Fehlkalkulationen begünstigte.4 Zugleich warfen diese Entwicklungen die Frage auf, wie mit Staaten verfahren werden sollte, die sich außerhalb des NPT befanden. Sollte man sie dauerhaft ächten, um so die Bedeutung der Nichtverbreitungsnorm zu unterstreichen? Oder sollte man sie als offizielle Nuklearmächte anerkennen, um ihnen so den Beitritt zum NPT und seinem Kontrollregime schmackhaft zu machen? Bis heute entzweit diese Frage die Experten.

9/11 und die Folgen

Die Anschläge vom 11. September 2001 haben eine neue Dimension des Nichtverbreitungsproblems ins Bewusstsein gerückt: Nuklearterrorismus. Die Aussicht, dass sich nichtstaatliche Akteure in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen könnten, bedeutet für das zwischenstaatlich angelegte Nichtverbreitungsregime eine weitere massive Herausforderung. Selbst bei so genannten Schurkenstaaten kann man davon ausgehen, dass der nationale Selbsterhaltungstrieb letztlich zur nuklearen Zurückhaltung mahnen wird. Auf Al-Qaida und rund ein Dutzend anderer Terrororganisationen, die nachweislich nukleares Material zu beschaffen versuchen, treffen derlei Annahmen jedoch nicht zu. Selbst die Auffassung, es bleibe aus technischen Gründen für Terroristen nahezu unmöglich, an Nuklearwaffen heranzukommen, ist mittlerweile ins Wanken geraten. Das kurz nach 9/11 diskutierte Szenario einer „Talibanisierung“ Pakistans erwies sich zwar als unbegründet. Doch eine Lage, in der Fanatiker die Waffen nicht stehlen, sondern selbst die Regierungsgewalt –  und damit die Verfügungsgewalt über das nukleare Arsenal eines Staates – übernehmen, lässt sich nicht mehr ausschließen.

Vor dem Hintergrund von 9/11 wird besonders deutlich, weshalb die amerikanische Bewertung des Proliferationsproblems alarmistischer ausfällt. An Art und Umfang der Verbreitung dieser Waffen mag sich durch 9/11 zwar objektiv nichts geändert haben, doch die amerikanische Toleranz gegenüber bestimmten Proliferateuren hat sich dramatisch verringert (axis of evil). Aus diesem Grund geht auch der gut gemeinte Hinweis, eine Entschärfung des Problems bedürfe in erster Linie der Konzentration auf die politischen Wurzeln des Terrorismus, ins Leere. Um einen solchen Ansatz zum Erfolg zu führen, braucht es Jahrzehnte - Zeit, die angesichts der akuten Herausforderung durch den Nuklearterrorismus nicht zur Verfügung steht. Diese neue Qualität der Bedrohung erklärt nicht nur die größte Umstrukturierung der amerikanischen Sicherheitsbürokratie seit Ende des Zweiten Weltkriegs im Sinne einer umfassenden “homeland defense“. Sie erklärt auch den außenpolitischen Aktivismus der USA, der im “regime change“ bei nuklearen Schwellenländern seinen ebenso makabren wie konsequenten Höhepunkt findet. Im “zweiten nuklearen Zeitalter“ darf nichts mehr dem Zufall überlassen bleiben.

Die Erkenntnisse über das im Februar 2004 offiziell aufgedeckte Schmuggel-Netzwerk von A. Q. Khan haben dem bereits angeschlagenen Nichtverbreitungsregime seinen bislang letzten schweren Schlag versetzt. Der “Vater der pakistanischen Atombombe“ hatte einen schwunghaften Handel mit nuklearem Know-how betrieben und damit Nordkorea, Iran, Libyen und vielen anderen Staaten bei der Verwirklichung ihrer nuklearen Ambitionen geholfen. Durch diesen quasi privaten Markt ist eine weitere Grundannahme des Nichtverbreitungsregimes hinfällig geworden. Ein Staat mit nuklearen Ambitionen ist heute nicht mehr zwingend auf die Hilfe der klassischen Nuklearmächte angewiesen. Jede neue Nuklearmacht birgt somit das Risiko einer weiteren Beschleunigung der Proliferation.

Verstärkt wird diese Tendenz zur Autarkie durch die große Zahl von im Westen und der ehemaligen Sowjetunion ausgebildeten Kernphysikern sowie durch die Einfuhr von zivil wie militärisch nutzbaren Dual-use-Gütern, die viele Industrieländer trotz Exportkontrollen nach wie vor zu liefern bereit sind. Die Tatsache, dass die Gruppe der bekennenden Kernwaffenstaaten bislang recht klein geblieben ist, stimmt daher nur begrenzt optimistisch. Denn die Anzahl der “turnkey states“, die in der Lage wären, ihr ziviles Nuklearprogramm nach nur kurzer Vorbereitungszeit in ein militärisches zu verwandeln, wird steigen.

Eine neue energiepolitische Gleichung?

Aus diesen Gründen wird deutlich, warum es mit der Verschärfung einzelner Klauseln des Nichtverbreitungsvertrags nicht getan ist. Zwar existieren hierzu zahlreiche Vorschläge, etwa die Erschwerung des Ausstiegs aus dem Vertrag oder strengere Verifikationsverfahren, doch sie alle können nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass das Nichtverbreitungsregime in letzter Konsequenz nicht von formalen Regelungsmechanismen abhängt, sondern von internationalen politischen Konstellationen. Dies zeigt sich immer wieder an der unterschiedlichen Interessenlage im UN-Sicherheitsrat. Auch wenn dem NPT in der einschlägigen Fachliteratur gelegentlich der Status eines objektiven, jenseits nationaler Interessen existierenden Regelwerks verliehen wird, so handelt es sich am Ende um nichts anderes als einen von den Vereinten Nationen verwalteten Mechanismus, an dessen Spitze der Sicherheitsrat steht. Dort entscheidet sich letztlich, wie der Vertrag ausgelegt und Vertragsverstöße geahndet werden. Und es sind die politischen Kräfteverhältnisse im Sicherheitsrat, die die Politik in allen Suborganisationen der UN, einschließlich der IAEA und seines Gouverneursrats, prädisponieren.

Im aktuellen Fall des Iran ist es zwar bisher gelungen, eine gemeinsame Position der Ständigen Fünf herzustellen; als bedeutender Öllieferant Chinas und als enger Wirtschaftspartner Russlands genießt der Iran jedoch das Wohl-wollen einiger Sicherheitsratsmitglieder, was massive Sanktionen unwahrscheinlich macht. Der Fall Iran könnte damit die paradoxe Umkehr der energiepolitischen Gleichung markieren, die dem Nichtverbreitungsvertrag einst zugrunde lag. Hier geht es nicht mehr darum, einem Land durch Hilfe bei der zivilen Nuklearenergie aus eigenen Energienöten herauszuhelfen. Es geht vielmehr darum, einem an fossilen Energien reichen Land eine unkalkulierbare nukleare Option zu eröffnen, um weiterhin an seinen Rohstoffen teilhaben zu können.

Es kann angesichts dieser Entwicklungen kaum verwundern, dass sich die Vereinigten Staaten auf der Seite der “Proliferations-Pessimisten“ wiederfinden. Natürlich hält man am formalen Nichtverbreitungsregime fest, das den juristischen Rahmen liefert, um unerwünschtes Verhalten gegebenenfalls zu sanktionieren. Den Optimismus derer, die glauben, das System durch Reformen dauerhaft stabilisieren zu können, teilt man jedoch nicht. Denn auch wenn es beharrlicher amerikanischer und britischer Diplomatie im Dezember 2003 gelungen ist, Libyen zur Aufgabe seines Nuklearprogramms zu bewegen, so wirkt die normative Kraft des Faktischen in der Politik tendenziell gegen das Nichtverbreitungsprinzip.

So wie die Frage Iran heute unauflöslich mit dessen Status als Ölexporteur verknüpft ist und Pakistan als Partner im Antiterrorkampf gebraucht wird, so ist auch die geopolitische Bedeutung eines kooperativen Indiens schlicht zu groß, um die attraktive Option der zivilen nuklearen Kooperation dauerhaft auszuklammern.

Das amerikanisch-indische Abkommen, das Indien den kontrollierten Zugang zu ziviler Nukleartechnologie erlaubt, aber zugleich die Weitergabe an Dritte erschwert, ist daher ein möglicher Weg, um klassische Nichtverbreitungsprinzipien mit neuen realpolitischen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Nicht ohne Grund hat der Leiter der IAEA, Mohamed el-Baradei, das Abkommen begrüßt.

Negativer Militarismus

Dass ein solcher selektiver bilateraler Ansatz die Rüstungskontrollpuristen nicht zufriedenstellen kann, versteht sich von selbst. Doch wenn es zutrifft, dass das “zweite nukleare Zeitalter“ bereits begonnen hat, so muss sich auch die orthodoxe Rüstungskontrollschule fragen, ob ihr Ansatz noch zeitgemäß ist. Große Teile dieser Denkschule bleiben noch immer einer Konzeption verhaftet, die sich in erster Linie von Hoffnungen auf eine Restauration globaler Rüstungskontrollregime leiten lässt. Wer hingegen, wie die USA, die Wirksamkeit des Systems anzweifelt und bereit ist, mit der nuklearen Realität auch auf andere Weise umzugehen, wird gleichsam zum Verräter an der globalen Sache, und damit zum eigentlichen Sicherheitsrisiko.

Es ist diese Grundeinstellung, die erklärt, weshalb in zahlreichen Publikationen der westlichen Friedensforschung den nuklearen Ambitionen des Iran inzwischen mit größerem Verständnis begegnet wird als den amerikanischen und europäischen Forderungen nach einem Ende des iranischen Programms. Vertragsverstöße werden zwar problematisiert, zugleich aber stets relativiert, indem man auf die mangelnde Abrüstungsbereitschaft der Nuklearmächte verweist. Wenn schließlich Nuklearwaffen gar als “Faustpfand“ kleinerer Mächte gegen eine drohende amerikanische Intervention gerechtfertigt werden,5 dann läuft die liberale Rüstungskontrolle Gefahr, den fatalen Fehler zu wiederholen, der sie bereits am Ende des Kalten Krieges ins politische Abseits geführt hatte. Auch damals hatte man sich auf militärischtechnische Fragen kapriziert und so den politisch-ideologischen Charakter des Ost-West-Konflikts ausgeklammert. Eine detailversessene, auf militärische Symmetrie ausgerichtete Rüstungs- und Rüstungskontrolldiskussion hatte die Demokratiefrage aus dem Blickfeld gedrängt. Die Frage nach der Legitimität des politischen Systems der Sowjetunion wurde nicht gestellt - während die amerikanische Demokratie als Verursacher des “Rüstungswettlaufs“ und folglich als der eigentliche Friedensstörer ausgemacht wurde.

Diese  Denkschule scheiterte schließlich, weil ihr Credo - der militärische Strukturwandel in Europa sei Voraussetzung für den politischen Strukturwandel - durch das Ende des Kalten Krieges umfassend widerlegt wurde. Der politische Wandel in der Sowjetunion kam weder durch Veränderungen im westlichen Rüstungsdispositiv zustande, noch war er das Ergebnis einer konzilianteren amerikanischen Politik. Die Sowjetunion zerbrach an ihren inneren Widersprüchen - und damit genau an jenen Faktoren, die die Rüstungskontrollschule prinzipiell nie problematisieren wollte. Es war der politische Wandel, der schließlich weitreichende Abrüstungsschritte ermöglichte - und nicht umgekehrt. In ihrer Obsession mit militärischen Details war die liberale Rüstungskontrollschule das Opfer ihres eigenen negativen Militarismus geworden.

Bei aller Fragwürdigkeit historischer Vergleiche: Die Parallelen zur aktuellen Nichtverbreitungsdiskussion sind augenfällig. Die Tendenz, die USA pauschal für unliebsame Entwicklungen verantwortlich zu machen, ist ebenso deutlich erkennbar wie der unerschütterliche Glaube in das traditionelle Instrumentarium der Rüstungskontrolle. Und obwohl die größten Erfolge der Nichtverbreitung - wie etwa in Südafrika oder der Ukraine - letztlich Demokratisierungserfolge waren, weigert man sich auch weiterhin, den Rüstungskontrollprozess durch das Stellen der Demokratiefrage zu belasten. Doch so wie der Schlüssel zum Ende des Ost-West-Konflikts nicht in weniger Waffen, sondern in mehr Demokratie lag, wird Demokratie auch der Schlüssel zum Frieden in einer multinuklearen Welt sein. Verweigert sich die liberale Rüstungskontrollschule erneut dieser Realität, so wäre es das zweite Mal, dass man, um mit Kissinger zu sprechen, die eigene Politik auf eine falsche Einschätzung der eigenen Epoche gegründet hätte.

MICHAEL RÜHLE, geb. 1959, ist Leiter des Planungsreferats in der Politischen Abteilung der NATO. Der Verfasser vertritt hier ausschließlich seine persönliche Meinung.

  • 1 Vgl. Henry A. Kissinger: Großmachtdiplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs, Düsseldorf/Wien 1980 (Orig. 1962), S. 380.
  • 2 Vgl. William Walker: Weapons of Mass Destruction and International Order, London 2004 (IISS Adelphi Paper 370).
  • 3 Vgl. Albert Wohlstetter: Spreading the bomb without quite breaking the rules, Foreign Policy, Nr. 25, Winter 1976/77.
  • 4 Vgl. Paul Bracken: Fire in the East. The Rise of Asian Military Power and the Second Nuclear Age, New York 1999.
  • 5 So etwa Rolf Mützenich: Die atomare Gefahr wächst, Frankfurter Rundschau, 26.6.2006.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 86‑94

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