IP

01. Sep 2008

Die Zukunft als Zumutung

Feuilleton

In Deutschland ist die Globalisierungsdebatte zum Einschüchterungsdiskurs verkommen – und treibt die Arbeitnehmer in die Arme der Linkspartei

Die Globalisierung ist über die Deutschen vor allem als Debatte gekommen. Die Rede von den künftigen Herausforderungen klingt bei weitem bedrohlicher als die tatsächliche Lage befürchten lässt. Arbeitsplätze sind zwar durchaus verloren worden, aber die Angst vor weiteren Verlusten übertrifft die realen Einbußen bei weitem. Gleichwohl prasselt ein Gewehrfeuer pädagogischer Imperative tagaus, tagein auf den Arbeitnehmer nieder, um ihn fit für die Zukunft zu machen: Sei flexibel! Wechsel den Wohnort! Mäßige deine Lohnforderung! Bilde dich weiter! Sorge fürs Alter! Pflege die Familie! Setze Kinder in die Welt! Schone die Umwelt! Und so weiter.

Es ist, als ob alle Lasten, die gesamtwirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich entstehen, allein auf die Schultern des Individuums gelegt werden sollen. Politiker, die sich dieser Rhetorik befleißigen, sollten sich nicht wundern, wenn die Bürger schon unter der verbalen Last in die Knie gehen, bevor eine der Zumutungen sie überhaupt in der Praxis erreicht. Aber weit entfernt, den Mechanismus zu begreifen, wird dem gepeinigten Bürger vorgehalten, von Zukunftsangst beherrscht zu werden. Diese Zukunftsangst wird aber mehr noch als von den Globalisierungsgegnern von den Globalisierungsfreunden selbst erzeugt.

Der Katalog von Forderungen an die Arbeitnehmer, den sie aufgestellt haben, entfaltet sein Einschüchterungspotenzial vor allem durch Unvereinbarkeiten. Der flexible Angestellte, der bereitwillig den Wohnort wechselt, kann nicht gleichzeitig ein guter Familienvater sein. Wer seine Lohnforderungen mäßigt, kann nicht auch noch privat fürs Alter vorsorgen. Wer Kinder in die Welt setzt, um die Vergreisung der Gesellschaft aufzuhalten, kann erst recht nicht sparen und beliebig irgendwelchen Arbeitsplätzen hinterherreisen. Auch gesamtwirtschaftlich macht die Gleichzeitigkeit der Forderungen keinen Sinn: Man kann nicht die Umwelt schonen und zugleich erfolgreich mit Ländern konkurrieren, die aus dem Raubbau der Umwelt ihre Überlegenheit beziehen.

Den größten Schaden aber hat die Debatte angerichtet, als sie diesem Einschüchterungsdiskurs auch noch das Label „Freiheit und Selbstverantwortung“ verpassen wollte. Worin die Freiheit des Bürgers bestehen sollte, wenn sich der überforderte Staat aus seinen sozialen Schutzaufgaben zurückzieht, war nicht ersichtlich. Es musste sich die zynische Lesart aufdrängen, dass die Freiheit nur die Freiheit der Unternehmen bedeutete, durch Lohnsenkungen und Arbeitsplatzabbau größere, das heißt international konkurrenzfähige Gewinne zu machen, während die Verantwortung allein dem Arbeitnehmer aufgebürdet werden sollte, den damit verbundenen Schaden abzufedern.

Unglücklich war bereits der Wahlkampfslogan, mit dem seinerzeit die Regierung Schröder wiedergewählt werden wollte, um ihre Politik eines Rückzugs des Staates zugunsten einer konkurrenzfähigeren Wirtschaft zu begründen. „Innovation und Gerechtigkeit“ lautete die Parole, die daran krankte, dass schon nach allgemeiner Lebenserfahrung Innovationen selten gerecht sind, jedenfalls in ihren Erträgen nicht gerecht verteilt werden. Hinzu kam, dass in diesem Falle überaus durchsichtig der innovative Verzicht des Staates auf die weitere Förderung sozialer Gerechtigkeit gemeint war; hierin erinnerte der Slogan an die dubiose Initiative „Neue soziale Marktwirtschaft“, bei der das Neue darin bestand, den Abschied vom Sozialen zu verlangen.

Kurzum, der rhetorische Schaden, den die Globalisierungsdebatte in Deutschland angerichtet hat, ist gewiss nicht unschuldig am Aufstieg einer neuen Linkspartei, die sich ihrerseits nicht scheut, einen Katalog unvereinbarer Forderungen, nur mit entgegengesetzter Pointe, aufzustellen. Das alles hat mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität des Landes wenig zu tun; die allermeisten Arbeitsbedingungen, aber auch die Sozialleistungen des Staates sind besser als ihr Ruf. Nur die Angst und das Misstrauen sind freilich erzeugt worden, und ob die Wirtschaft mit eingeschüchterten und verbitterten Arbeitnehmern besser in die Zukunft kommt – die Streiks und überzogenen Trotzforderungen einzelner Gewerkschaften sprechen eher dagegen.

Der Globalisierungsdruck wird von Deutschland nicht weichen, sich wahrscheinlich erst richtig entfalten. Es wäre aber besser, ihn als solchen, einen objektiven und äußeren, zu behandeln, anstatt ihn in einen subjektiven, pädagogischen Glücksfall umzudeuten. Stellen wir uns einen Vater vor, dem in Notzeiten das Brot für die Familie ausgeht. Wäre er gut beraten, seinen Kindern den Hunger als Chance zu erklären? Oder gar, dass das Hungergefühl allein eine Frage der persönlichen Einstellung sei? Die Politiker und Industrielobbyisten, die nach diesem Muster verfuhren, haben es vielleicht gut gemeint. Sie folgten aber einem objektiven Zynismus, der nicht weit entfernt ist von der berühmten französischen Anekdote, in der den Armen, die kein Brot hatten, empfohlen wurde, doch Kuchen zu essen.

JENS JESSEN ist Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2008, S. 20 - 21

Teilen