Die WG der Welterklärer
Eine Art Carrera-Bahn für Atome: der "Large Hadron Collider"
2008 soll der Large Hadron Collider an den Start gehen. Bringt er uns neues Wissen über uns und unser All?
Es ist wohl die bislang gewaltigste Maschine, die je aus purer Neugier gebaut wurde. Eine Carrera-Bahn für Atome, 27 Kilometer lang, in einem großen, runden Tunnel. Ein Drei-Milliarden-Ding, ein eiskaltes Supraleiter-Monstrum – Betriebstemperatur: –271,3° Celsius. Sogar im All ist es eine Spur wärmer. Dieser Riesenkühlschrank läuft mit 130 Tonnen flüssigen Heliums und 10 000 Tonnen flüssigen Stickstoffs. Allein die Apparatur für das „Atlas“-Experiment wiegt so viel wie der Pariser Eiffelturm. Rund 1800 Forscher an 150 Universitäten in 34 Ländern haben daran gefeilt.
Wozu das Ganze? Um den größten Teilchenbeschleuniger der Welt zu schaffen, den Large Hadron Collider (LHC). Genau genommen: Zwei Teilchenbeschleuniger. Weil die Teilchen ja in entgegengesetzter Richtung auf Touren gebracht werden müssen, um sodann mit maximalem Wumm ineinander zu krachen. Protonen sollen mit einer Energie von 14 Teraelektronenvolt (TeV) zusammenprallen (= 14 x 1012 Elektronenvolt). Klingt nach einem Spiel für Jungs. Übrigens: Die Bildröhre des klassischen TV-Apparats ist auch ein Teilchenbeschleuniger. Allerdings einer, der unsere Erkenntnisse nur selten vertieft. Wir stutzen, wenn die Physiker uns begreiflich zu machen versuchen, was hier für Energien im Spiel sind. 1 TeV, sagen sie, sei gerade so viel, wie ein Moskito zum Fliegen braucht. Wenn man die Hände zusammenschlägt, um ihn zu meucheln, sei die Kollisionsenergie schon größer als die der Protonen im LHC. Klingt lächerlich. Andererseits verdichtet das Genfer Teilchenkarussell solche Energie auf winzigstem Raum (viele Millionstel eines Moskitos). Auch werden dort Billionenschwärme von Teilchen unterwegs sein. Die Wucht eines solchen Strahls kann man mit der eines 400-Tonnen-Zuges bei 150 km/h gleichsetzen. Bei ihren Versuchen, meinen die Forscher, könnten gar winzige schwarze Löcher entstehen.
Der LHC soll Bedingungen erzeugen, die dem Zeitpunkt etwa 0,00000000000001 Sekunden nach dem Urknall entsprechen. Um endlich weiter zu kommen bei der Suche nach den Urbröseln, die unsere Welt im Innersten zusammenhalten, zum Beispiel jenen geheimnisvollen Higgs-Bosonen, die bisher nur in langen mathematischen Formeln existieren. Aller Raum, sagen die Theoretiker, sei gefüllt mit einem „Higgs-Feld“, Teile gewännen Masse überhaupt erst durch Interaktion mit diesem Feld. „Teilchen Gottes“ nennen sie das Higgs-Boson ein wenig spöttisch. Wenn Gott das Higgs-Feld plötzlich ausknipsen würde, phantasierte einmal der Physiker Ugo Amaldi, „wäre im selben Moment alles und jedes im Universum verschwunden. Weil alle Partikel, aus denen wir selbst gemacht sind, aus denen Sterne und Planeten bestehen, augenblicklich masselos wären und mit Lichtgeschwindigkeit auseinanderfliegen würden.“ Bislang aber ist Higgs flüchtig geblieben. Genau wie jene supersymmetrischen Teilchen, die Susys, die als Partner zu den bekannten Teilchen angenommen werden. Der LHC soll sie endlich finden helfen und so das berühmte „Standardmodell“ untermauern, den elementaren Ideenbaukasten, der das Innerste von Allem und dessen Entstehung erklären will. Es sei „eine Reise“, sagen die Physiker. Wenn sie nicht bald etwas entdecken, seufzen sie, würde ihre ganze Deutungswelt furchtbar ins Wanken geraten.
Als ich einmal zu Besuch im Genfer CERN war, beeindruckten mich diese Leute zutiefst: Tausende Teilchenphysiker, die nach den Urkräften und den allerkleinsten Elementen unseres Seins suchen. Wissenschaftliche Trümmermänner und -frauen, die mit enormem Aufwand und sagenhafter Geduld ein Leben lang Elementarteilchen aufeinander hetzen, schneller, immer schneller, dann das Unfallgeschehen mit Riesenrechnern in Millionstelsekunden-Schritten rekonstruieren, auf das Fragment hoffend, das ihre atemraubenden Gedanken bestätigt. Oder sie zu neuen beflügelt. Eine Wohngemeinschaft der Welt-erklärer, die tagsüber in die Riesenröhre guckt und nachts weit hinaus ins All. Und eines Tages vielleicht weiß, wie alles mit allem zusammenhängt.
Was wir in der Schule gelernt haben, ist ja nur grobes Zeug: Elektronen, Protonen, Neutronen. Die Damen und Herren dagegen reden von Up-, Down- und Anti-Bottom-Quarks, Neutrinos, B-Mesonen und anderen Exotika. Und wir kommen kaum mit. Wer kann sich das alles vorstellen. Etwa die Elektron-Neutrinos aus dem Kosmos, die, sagen uns die Physiker, so massenhaft unterwegs sind, dass etwa 200 Milliarden davon pro Stunde durch unseren Kopf fliegen. Sie reden von Quantenfluktuation. Wir sträuben uns. Weil unsere simple Alltagswelt doch nur aus oben/unten, vorne/hinten, links/rechts besteht. Plus der immer viel zu knappen Zeit. Bis die Theoretiker kommen, die uns erzählen, dass es da wohl noch zusätzliche Raumdimensionen gibt. Dass die Gesamtenergie des Universums am Ende vielleicht Null ist, alles Seiende nur eine Schwankung im eigentlich Nichtseienden. Ein intergalaktisches Nullsummenspiel. Es wird für den Normalmenschen dann immer sehr schnell sehr kompliziert. Und oft wird ihm irgendwie schwer um Hirn und Herz.
Doch so mühsam es für unsere Köpfe auch sein mag: Der Reiz ist riesig. Wenn die acht Sektoren des neuen Riesenrings im Frühjahr oder Sommer kalt und startklar sind, wird nicht nur die Physikerwelt den Atem anhalten. Ein bis zwei Zeilen Menschheitsgeschichte sind da durchaus drin.
TOM SCHIMMECK, geb. 1959, schreibt als freier Journalist über Politik und Wissenschaft für Zeitungen, Magazine und fürs Radio.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 128 - 129