IP

01. Juni 2003

Die transatlantische digitale Kluft wird größer

Nicht nur zwischen der Ersten und der Dritten Welt klafft eine digitale Lücke, sondern auch innerhalb der Gruppe der Industrieländer. Der Medienexperte Glotz konstatiert einen Vorsprung der USA in der Informationstechnik, den die Europäer nur aufholen können, wenn sie gezielt ihre Hochschulen fördern und europäische Gemeinschaftsprojekte ernsthaft angehen.

Die digitale Kluft wird meist als Chiffre für zwei Disparitäten benutzt: erstens die Unterversorgung von Entwicklungsländern (zum Beispiel Schwarzafrikas) mit Informations- und Kommunikationstechnik und zweitens für den Rückstand der Unterschichten der Informationsgesellschaft. Dieser Rückstand bezieht sich zumeist nicht auf die Hardware, sondern auf die Fähigkeit der Menschen, Medien und Computer effektiv zu nutzen. Nun sind solche Klüfte bei der Einführung neuer Kulturtechniken unvermeidlich; sie waren bei Herausbildung der Gutenberg-Galaxis noch weitaus größer. Auch kann man mittelfristig mit Aufholprozessen der Benachteiligten rechnen, teils initiiert durch politische Förderprogramme, teils durch den Generationswechsel. Dabei sind die Chancen des unteren Drittels Europas allerdings deutlich besser als die der erdrückenden Mehrheit in den weniger entwickelten Gesellschaften.

Aber auch auf der „Sonnenseite“ des Planeten gibt es eine digitale Kluft. Die beim Irak-Krieg viel beklagte Übermacht der Vereinigten Staaten beruht vor allem auf ihrem Vorsprung im fünften Kondratieff-Zyklus,1 im Informations- und Kommunikationszeitalter. Diese digitale Kluft verdrängen die Europäer gern.

Man kann das Informationszeitalter und die Amerikanisierung der Welt im Gleichlauf sehen. Die politische Grundthese lautet: Die Kommunikationsrevolution läuft auf Individualisierung, also die Ermächtigung des Einzelnen hinaus. Das ist der amerikanische Traum. Da in den USA während der letzten 150 Jahre vielfältige technische Entwicklungen angestoßen worden sind, lässt sich diese These mit allerhand Erfolgsgeschichten und Jahreszahlen belegen.

Nichts ist typischer als die Debatte zwischen dem Konzept des „information highway“ (das der ehemalige demokratische Vizepräsident Al Gore erfand) und den Verteidigern der Herrschaftslosigkeit des Netzes (in der Electronic Frontier Foundation und der Progress & Freedom Foundation), die vom „cyberspace“ schwärmen. Die „anarchischen“ Tendenzen der zweiten Gruppe wurden interessanterweise auch von Newt Gingrich unterstützt, dem Protagonisten eines neokonservativ-republikanischen Amerikas.

So berühren sich die Extreme: Der Hass von Netzpionieren wie John Perry Barlow auf den ordnungswütigen Staat und geldgierige Konzerne trifft auf die Deregulierungsideen von Konservativen wie die Zukunftsforscher George Gilder und Alvin Toffler, deren Netzpublikation „Cyberspace and the American Dream: A Magna Carta for the Knowledge Age“ schon 1994 gewaltigen Staub aufwirbelte.2

Nun kann man sich natürlich über die nationale Legendenbildung eines Mannes wie Gingrich, der das „Informationszeitalter“ (was immer das sein mag) auf die amerikanischen Gründerväter zurückführt, lustig machen. Man darf sich aber nicht in die eigene Tasche lügen: In der Tat gibt es eine technische Traditionslinie, die mit Samuel F. B. Morses Telegrafen beginnt, in den technischen Höchstleistungen der Digitalisierung in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihren bisherigen Höhepunkt findet und darauf hinausläuft, den Einzelnen zu aktivieren oder auch – um ein modisches Kunstwort zu gebrauchen – zu interaktivieren. Es mag ein bisschen übertrieben sein, diese Traditionslinie als „amerikanische Technik“ zu bezeichnen. Dass die Individualisierung, die mit der Mikroelektronik möglich wird, in Europa aber auf tiefer gehende Widerstände trifft als in den Vereinigten Staaten, ist ganz unbestreitbar.

Ein weiteres Argument kommt hinzu: Die „digitale Technologie“ ist nach 1945 in der Tat weitgehend in den Vereinigten Staaten entwickelt worden. Das ist ja die Hypothek, die die Europäer derzeit nicht loswerden können. Die Nazis vertrieben die kreativsten Köpfe der deutschen und europäischen Physik, zum Beispiel Albert Einstein, den Ungarn John von Neumann oder den aus Wien stammenden Kurt Gödel, die dann am Institute for Advanced Study in Princeton aufgefangen wurden. Nach Hitlers Kapitulation war nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa für einige Jahre durch den „Braindrain“ ausgeblutet und auf die Wiederherstellung der einfachsten Lebensgrundlagen konzentriert. Dann wurde nicht genügend Geld in den Wiederaufbau der deutschen Spitzenuniversitäten investiert – und jetzt ist man bei der wichtigsten Technologie des frühen 21. Jahrhunderts offenbar ein für alle Mal ins Hintertreffen geraten.

Deutschland ist ein erfolgreiches (und mit diesem Erfolg auch wohlhabend gewordenes) Land: erfolgreich im Automobilbau, in der Großchemie, in der Elektrotechnik, im Maschinenbau. Bei den modernen, schnellen Industriebranchen und Dienstleistungsfeldern aber ist und bleibt man ein Anwendermarkt. Dazu kommt die Unfähigkeit des kontinentalen Europas, rasch neue Unternehmen zu gründen und zu internationaler Bedeutung zu bringen. „Venture Capital“ wird in Deutschland mit „Risikokapital“ übersetzt – und das Risiko fürchten viele tonangebende Kräfte.

Europas Anteil

Dabei sind die geistigen Grundlagen der Computergeschichte zu großen Teilen in Europa entwickelt worden. Blaise Pascal (1623–1662) erfand die „Pascaline“, eine Additionsmaschine, die mit fünfstelligen Zahlen rechnen konnte. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)schuf die erste Rechenmaschine mit Staffelwalzen. Es folgten eine lochkartengesteuerte Webmaschine, 1745 von Jacques de Vaucanson erfunden,unddas berühmte Projekt einer Differenzmaschine von dem Engländer Charles Babbage (1791–1871). Nimmt man noch Hermann Holleriths (1860–1929) Lochkarten-Lesegerät, Alan Turings kreative Spekulationen – besonders seinen bahnbrechenden Aufsatz „On Computable Numbers“ von 1936 – und Konrad Zuses ersten funktionierenden und programmierbaren binären Rechner, den Z3, dann kann man sagen, dass die Europäer einen beträchtlichen Anteil an der Entwicklung jener Technologie hatten, die heute die Welt verändert. Dann aber – nach 1945 – riss der Faden ab.

Das hängt zum einen mit der Struktur der europäischen Industrie zusammen, die noch heute von alten, in der Gründerzeit nach 1870 gegründeten Banken und Unternehmen bestimmt wird, die in der Regel von Sechzigjährigen geleitet werden. Ganz anders die Tradition, die sich in der amerikanischen Computerindustrie herausgebildet hat. Man nehme drei höchst unterschiedliche Unternehmerfiguren: Robert N. Noyce, der 1957 an der Gründung von Fairchild und 1968 an der Gründung von Intel beteiligt war, Steve Jobs, der den Apple Macintosh vorantrieb, Bill Gates, der sich mit Microsoft ein Imperium schuf. In der amerikanischen Computerindustrie sind der Wagemut, die Bereitschaft zum Glücksspiel, die Geschwindigkeit und die Marktorientierung weit kompromissloser als in Europa. Im Übrigen engagierte sich in den USA der Staat immer wieder mit beispiellos umfangreichen Programmen des Verteidigungsministeriums und der Weltraumbehörden. In den Vereinigten Staaten entsteht die neue Wissensökonomie – Highknowledge statt Hightech. Die großen Innovationen (und die großen Gewinnbringer) der digitalen Technologie seit 1945 fanden in den USA statt.

Europas Versäumnis

Das größte Versäumnis Europas liegt dabei zweifellos in der Vernachlässigung seiner Spitzenuniversitäten. Ein einziger Blick auf die Bildungsgänge der Pioniere der digitalen Technologie zeigt das: Vannevar Busch, Robert N. Noyce, Robert Metcalfe kamen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Robert E. Kahn von Princeton, Vinton G. Cerf von Stanford, Douglas Engelbart von Berkeley, Dennis Ritchie und Ted Nelson von Harvard. Den ruhmreichsten Lebenslauf hat Ted Nelson: einen Bachelor von Swarthmore, dem besten Undergraduate College der USA nahe Philadelphia, danach ein Soziologiestudium in Harvard. Es bleibt das Geheimnis der deutschen (oder auch französischen, italienischen, spanischen) Politik, warum sie nie versucht hat, ihre besten Universitäten auf MIT-Niveau zu bringen.

Joseph S. Nye, in der Regierung des ehemaligen amerikanischen Präsidenten, Bill Clinton, ein wichtiger Mann im Verteidigungsministerium und heute Dekan der Kennedy School of Government in Harvard, hat – gemeinsam mit William A. Owens, einem früheren Admiral der amerikanischen Streitkräfte  – schon 1996 in Foreign Affairs geschrieben: „Wissen ist Macht, mehr denn je. Dasjenige Land, das die Informationsrevolution am besten anführen kann, wird mächtiger sein als jedes andere. Für die vorhersehbare Zukunft sind dies die Vereinigten Staaten von Amerika. Amerika ist sichtlich stark auf dem Feld militärischer Macht und demjenigen wirtschaftlicher Produktion. Der subtilere Vorsprung dieses Landes aber ist seine Fähigkeit, Informationen zu sammeln, zu verarbeiten, auf Grund ihrer zu handeln und sie zu verbreiten. Dieser Vorsprung wird sich fast sicher im nächsten Jahrzehnt noch vergrößern.“3

Amerikas Überlegenheit

Vordergründig redet Nye über „command“, „control“, „communications“ und „computer processing“, wahrscheinlich auch über Geheimdienste und Propagandaagenturen. Diese militärischen Begriffe sind aber nur ein Ausdruck der amerikanischen Überlegenheit bei den Schlüsseltechnologien der Kommunikationstechnik. Das Selbstbewusstsein dieses Mannes gründet nicht auf der CIA, sondern auf der überlegenen Stärke seines Landes in der wichtigsten Wachstumsbranche des frühen 21. Jahrhunderts. Und er nimmt auch kein Blatt vor den Mund: „In Wahrheit“, so formuliert er weiter, „wird sich nicht das 20., sondern das 21. Jahrhundert als die Periode größter amerikanischer Überlegenheit herausstellen. Information ist die neue Münze im internationalen Geschäft, und die Vereinigten Staaten sind besser positioniert als jedes andere Land, seine Stärken bei ‚harten‘ wie ‚weichen‘ Machtressourcen durch Informationen zu vervielfachen.“4

Diese Analyse ist richtig. Man kann sich alle paar Monate davon überzeugen, gerade wieder beim Krieg gegen das Regime Saddam Husseins. Die Frage, welche Argumente sich durchsetzen, bestimmt die amerikanische Medienmacht. Längst orientieren sich die intelligentesten Nachwuchskräfte der europäischen Eliten am American Way of Life, den sie in den amerikanischen Spitzenuniversitäten aufnehmen. So entfremden sich die Europäer ihre eigenen Führungskräfte.

Das Ganze ist aber nicht nur ein machtpolitisches, sondern vor allem ein wirtschaftliches Problem. Im digitalen Kapitalismus sind das Management, die Qualität und die Übertragungsgeschwindigkeit von Information mitentscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes oder eines Kontinents. Informations- und Kommunikationstechnologien beeinflussen die Wirtschaft eines Landes auf nahezu allen Ebenen. Eine Aufholjagd gegenüber den Amerikanern traut man sich nicht zu.

Die Deutschen haben zwar den größten europäischen Markt bei den vier Wertschöpfungsstufen Inhalte, Netze, Bauelemente/Komponenten und Endeinrichtungen, aber sie haben nur einen Marktanteil von 8,4 Prozent, während die USA 50 Prozent beherrschen. Das aber heißt: Die Deutschen (und mit ihnen die meisten Europäer) geraten in die Gefahr, bei einer der Schlüsselindustrien der nächsten 30 Jahre ein Anwendermarkt zu werden, der zwar über ein paar schöne, wettbewerbsfähige Produkte (zum Beispiel DSL = Digital Subscriber Line) und auch über das eine oder andere kräftige Unternehmen (zum Beispiel Bertelsmann, Deutsche Telekom oder auch SAP) verfügt, im Übrigen aber immer drei oder vier Jahre hinter den Amerikanern herhinkt.

Ängstliche Paranoia

Nun ist die ängstliche Paranoia des „alten Europas“ verständlich. Das vergangene Jahrhundert war eine Katastrophe für diesen Kontinent. Er verlor nicht nur seine Macht. Er verlor über dem Hin- und Hermorden, an dem die Deutschen die größte Schuld trugen, auch sein Selbstbewusstsein. Deswegen versteigt sich ein großer Teil der kulturellen Eliten in den Gestus der Beendigung. Was wird nicht alles gefeiert – das Ende der großen Utopien, das Ende der großen Erzählungen, das Ende der Geschichte, das Ende der Philosophie. Das ist die eine Seite: Die Kulturkritik von Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger kehrt auf dem französischen Umweg (und oft genug seltsam kostümiert, zum Beispiel grün) in ihr Heimatland zurück. So verbreitet sich Weltendämmerungsmelancholie.

Die andere Seite ist von falscher Tagespolitik bestimmt. Die steuerliche Förderung von Start-Ups ist so unzureichend wie die Investitionen der oft genug überschuldeten Gemeinden in Informations- und Kommunikationstechnik, die die Voraussetzung für E-Government wäre. Die deutsche Wirtschaft verzettelt sich in unterfinanzierten Business Schools, während der Staat (das Land Berlin) eine der besten Universitäten, die Humboldt Universität, mit Sparauflagen würgt. Ein europäisches Satellitensystem steckt immer noch in der Planung und eine entschlossene europäische Industrie- und Standardisierungspolitik auf dem Kommunikationssektor ist bisher ein französischer Wunschtraum geblieben.

So vergrößert sich die digitale Kluft zwischen Amerika und Europa eher, als dass sie geringer wird. Nicht Jammern hilft aus dieser Misere, sondern nur Problembewusstsein, Konzentration der Kräfte und eine zielstrebige Aufholjagd.

Anmerkungen

1  Nikolai D. Kondratieff hat in den zwanziger Jahren ein Zyklusmodell entwickelt, nachdem die Weltwirtschaft sich in Zyklen von ungefähr 50 Jahren grundlegend verändert. Der fünfte Kondratieff-Zyklus beendet das Industriezeitalter.

2  Vgl. Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth und Alvin Toffler, Cyberspace and the American Dream: A Magna Carta for the Knowledge Age, Release 1.2, 22.8.1994, im Netz unter: <http://www.pff.org/position. html>.

3  Joseph S. Nye und William A. Owens, America’s Information Edge, in: Foreign Affairs, März/April 1996, S.20–36, hier S. 20.

4  Ebenda, S. 35.