IP

01. Sep 2002

Welche Regierung für Europa?

Viele Bürger interessieren sich kaum mehr für die Vorgänge in Brüssel und kritisieren mangelnde Effizienz und Transparenz. Damit die EU auch künftig politisch handlungsfähig bleibt und ihre Strukturen gleichzeitig demokratischer werden, fordert das Mitglied des Konvents zur Zukunft Europas eine ehrgeizige Reform des „Regierungssystems“ der Union.

Mit der Erweiterung auf 25 und mehr Mitgliedstaaten kommt die Europäische Union dem Ziel sehr nahe, eine Gemeinschaft für den gesamten, ehemals geteilten Kontinent zu sein. Der „immer engere Zusammenschluss der europäischen Völker“ wird aber dadurch auch heterogener und komplexer. Wie können wir sicherstellen, dass unterschiedliche Interessen zwischen dem Baltikum und der Atlantik-Küste nicht zur Regierungsunfähigkeit Europas führen?

Das gegenwärtige Gefüge der Union stößt mit der Erweiterung an seine Grenzen. Die wichtigsten Kritikpunkte sind: unklare Aufgabenverteilung zwischen der europäischen Ebene und den Mitgliedstaaten, unübersichtliche Entscheidungsverfahren, Koordinierungsdefizite zwischen den verschiedenen Politikbereichen und ein wenig transparentes System der europäischen Gewaltenteilung. Dies hat zu dramatischen Legitimationsdefiziten geführt. Viele Bürger interessieren sich kaum mehr für die Vorgänge in Brüssel, sehen nicht den Wert der Wahlen zum Europäischen Parlament, das in ihren Augen noch nicht über die demokratischen Steuerungs- und Kontrollmechanismen verfügt, die einem Parlament angemessen sind. Damit die Union politisch handlungsfähig bleibt und ihre Strukturen gleichzeitig demokratischer werden, muss das „Regierungssystem“ der Union einer ehrgeizigen Reform unterworfen werden.

Als Mitglied des Konvents setze ich mich für drei fundamentale Reformmaßnahmen als Teil eines kohärenten Gesamtkonzepts ein:

1. Eine klare vertikale Gewaltenteilung zwischen der europäischen Ebene und den Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Regionen und Kommunen. Wir brauchen eine transparente, nachvollziehbare Aufgabenzuweisung. Viele Herausforderungen benötigen europäische Antworten. Dies gilt sowohl für Fragen der inneren und äußeren Sicherheit, als auch für eine bessere wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung nach Vollendung der Währungsunion. Auch muss die Union das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts gewährleisten. Die deutsche Wirtschaft hat ein starkes Interesse hieran.

Gleichzeitig müssen wir aber auch sicherstellen, dass Aufgaben, die effizienter auf nationaler bzw. regionaler Ebene ausgeübt werden, bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Letztlich geht es darum, ein klares System der Kompetenzzuweisung zu schaffen und den Prinzipien der Aufgabenausübung – u.a. Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität – eine größere Durchschlagskraft zu verleihen. Der Konvent prüft zusätzlich verfahrensrechtliche Mechanismen, demokratische „checks and balances“, die die Aufgabenteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten einer ständigen Kontrolle unterwerfen sollen.

2. Horizontale Gewaltenteilung: Überall in Europa stützen wir unsere demokratischen Systeme auf die Trennung zwischen exekutiver und legislativer Gewalt. Dies muss auch für die europäische Ebene gelten. Die Akzeptanz Europas als politische Union hängt davon ab. In einer erweiterten Union brauchen wir für europäische Aufgaben eine starke europäische Exekutive. Ansonsten nehmen die zentrifugalen Kräfte überhand. Die Kommission ist prädestiniert, sich zu einer europäischen Regierung weiterzuentwickeln. Als Voraussetzung benötigt sie allerdings eine bessere demokratische Legitimation. Zusammen mit weiteren 40 Konventsmitgliedern habe ich daher eine Initiative zur Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament in den Konvent eingebracht.

Daneben muss das Europäische Parlament insbesondere bei der Verabschiedung europäischer Gesetze gestärkt werden. Ich befürworte die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens auf alle Legislativbereiche. Der Rat muss seinerseits bei der Wahrnehmung legislativer Aufgaben öffentlich tagen.

Damit die Union außenpolitisch mit einer Stimme sprechen kann, habe ich zudem empfohlen, die beiden Ämter des Hohen Vertreters für die Außenbeziehungen und des Außenkommissars einer einzigen Person zu übertragen, die sich auf einen leistungsfähigen europäischen diplomatischen Dienst stützen können sollte, bestehend aus der mit Außenbeziehungen befassten Generaldirektion der Kommission, einer eigenständigen außenpolitischen Einheit und EU-Außenvertretungen, aufbauend auf den bestehenden Kommissionsdelegationen.

Die Idee von Tony Blair, José Maria  Aznar und Jacques Chirac, einen Präsidenten des Europäischen Rates zu wählen, halte ich nur für richtig, wenn sichergestellt ist, dass seine Aufgabe mit der des demokratisch legitimierten Kommissionspräsidenten vereinbar ist. Es muss klar sein, dass der Kommissionspräsident der Chef der europäischen Exekutive ist.

3. Um Transparenz, Demokratie und Rechtssicherheit zu verankern, sollten die Verträge, die sich historisch – und damit unübersichtlich – entwickelt haben, neu in einer europäischen Verfassung zusammengefasst und vereinfacht werden. Die Union sollte dabei auch eine einheitliche Rechtspersönlichkeit erhalten. Als Wertegemeinschaft sind wir es uns schuldig, die in Nizza proklamierte Grundrechtecharta in das Vertragswerk zu integrieren. Die Verfassung muss klar herausstellen, dass die Union auf den Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Effizienz beruht.

Der Konvent hat die historisch einmalige Chance, ein effizientes und demokratisches europäisches Regierungssystem auf den Weg zu bringen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2002, S. 25 - 26.

Teilen