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13. Juni 2004

Das Völkerkonglomerat

Joschka Fischers Wende vom Kerneuropa zum strategischen Europa

Außenminister Joschka Fischer, der sich in allen Phasen seiner politischen Entwicklung um eine theoretische Untermauerung seines realpolitischen Handelns bemüht hat, ist dabei, in einer Serie von Interviews das von ihm in seiner Rede vor der Humboldt-Universität im Mai 2000 selbst entwickelte Konzept von einer „Finalität Europas“ zu verändern. Vordergründig sind das Versuche, die Entscheidung Bundeskanzler Gerhard Schröders, für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union einzutreten, konzeptionell zu unterfangen. Schröder pflegt aus seinem (beachtlichen) politischen Instinkt heraus zu handeln. Fischer will, wie Henry Kissinger, nicht nur handelnder Politiker, sondern auch historischer Publizist sein, er sucht die überwölbenden Begründungen. Im Prinzip kann das Deutschland nur helfen; der derzeit größte Staat der EU tut gut daran, nicht nur der Logik der Macht zu folgen, sondern Zielvorstellungen zu entwickeln, in die alle Betroffenen eingebaut werden können. Im konkreten Fall allerdings läuft Fischer Gefahr, deutschen Interessen zuwider zu handeln, obwohl das zweifellos nicht seine Absicht ist.

Das in außenpolitischen Debatten ungeübte Deutschland hat Fischers Absichten bisher nicht klar genug begriffen. In der SPD, in der es zu Zeiten Willy Brandts nicht nur hoch erfahrene außenpolitische Condottieri (wie Hans-Jürgen Wischnewski oder Hans Koschnick) gab, sondern auch strategische Denker wie Brandt selbst, Egon Bahr oder Horst Ehmke, herrscht heute Grabesstille. Für die FDP gilt das nach dem Rückzug Otto Graf Lambsdorffs auf den Ehrenvorsitz sowieso. Nur in der CDU sind mit Wolfgang Schäuble und Karl Lamers zwei einsame Rufer übrig geblieben. Aber Lamers ist aus dem Kreis aktiver Politiker ausgeschieden und Schäubles Bedeutung im System Angela Merkels wird durch den Prozess der Auswahl eines Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten trüb beleuchtet. Die grüne Außenpolitik besteht aus Fischer; andere wichtige Akteure gibt es nicht. Deswegen wird die prinzipielle Wende, die Fischer verlangt, nur von ein paar verstreuten Beiträgen außenpolitisch interessierter Journalisten begleitet. Eine für die USA, Frankreich oder Großbritannien undenkbare Situation.

Vordergründig hat Joschka Fischer sich einer notwendigen Aufgabe unterzogen: Er hat die Illusion, dass man die Verabschiedung des Verfassungsentwurfs des Konvents durch die Drohung „Kerneuropa“ beflügeln könnte, zerstört. An der aktuellen Politik Ungarns oder der Tschechischen Republik kann man sehen, dass mit dieser Drohung nichts zu erreichen war. Ein – von Schäuble und Lamers vor zehn Jahren erwogenes – Kerneuropa, das sich (zum Beispiel im Kreis der Gründerstaaten der EWG) gegenüber den „applicant states“ verschließen würde, ist realpolitisch natürlich nicht mehr durchsetzbar. Ein Kerneuropa aber, das aus Deutschland, Frankreich, den Benelux-Staaten und eben der Tschechischen Republik, Ungarn, der Slowakei und noch ein paar Neuankömmlingen bestünde, wäre ein Wechselbalg. Wie die Eurozone oder das SchengenAbkommen zeigen, hat die EU längst vernünftige Instrumente der Gravitation entwickelt. Der Konvent sprach von „strukturierter Zusammenarbeit“. Nizzaverliebte Staaten wie Polen lassen sich durch die Drohung, Deutschland und Frankreich könnten die Initiative zu einem „Kerneuropa“ ergreifen, nicht verschrecken. Also ist es auch nicht schade, wenn dieser Begriff – genauer gesagt: diese Benutzung des Kerneuropa-Begriffs – aufgegeben wird. Der Regierungswechsel in Spanien macht diesen Knüppel endgültig überflüssig.

Was bisher in Deutschland aber kaum diskutiert wurde, ist die Tatsache, dass Fischer in seinen Interviews über diese (sinnvolle) Revision des Kerneuropa-Begriffs weit hinausgeht. Indem er eine „strategische Dimension“ des europäischen Einigungsprozesses hervorhebt, relativiert er die Notwendigkeit, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu einer inneren Einheit zusammenzuschweißen. Zwar betont er die Notwendigkeit, dass die EU den Verfassungsentwurf des Konvents (an dem er ein Jahr selbst mitgearbeitet hat) beschließen müsse. So hält er – verbal – an der Notwendigkeit einer „Vertiefung“ der Europäischen Union fest. Gleichzeitig attackiert er diese Vertiefung aber auch. „Ich frage mich“, sagt er im bedeutungsvollsten Interview zu diesem Thema in der FAZ vom 6. März, „ob wir mit der alten EU-Devise ‘erweitern und vertiefen’ nicht den selben Fehler machen, dass wir unser Einfamilienhaus EU-West weiterbauen und die anderen kommen dazu – aber wir bauen einfach weiter.“ Das ist ein mehr oder weniger eindeutiger Hinweis darauf, dass der bewegliche Realpolitiker Fischer erkannt hat, dass die alte Formel: „Erweiterung und Vertiefung sind kein Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig“ eine Phrase war, von der man abrücken muss. Die mitteleuropäischen Staaten, die über fünf Jahrzehnte unter sowjetischer Hegemonie litten, wollen die Kompetenzen, die sie vor einem guten Jahrzehnt von Moskau zurückerhielten, noch nicht an Brüssel delegieren. Fischer sagt uns heute: Das ist bedauerlich, aber es ist so, und also müssen wir damit leben. Und er fügt listig hinzu: Wenn das aber so ist, können wir auch die Türkei noch aufnehmen. Was macht das schon?

Natürlich würde er diese Interpretation niemals unterschreiben. Er gibt sich getrieben von „historischen Zäsuren“. Leopold vonRanke hat nicht einmal die Französische Revolution für eine „Weltkrise“ gehalten. Unsere Zeitgenossen erklären jedes größere Attentat, jeden Massenmord für eine „Weltkrise“, eine „Zäsur“. Bei so vielen Zäsuren ist eine kontinuierliche Außenpolitik natürlich schwierig.

In der Tat geht Fischer von „heiligen Daten“ aus. Als guter Feuilletonist (der er auch ist) spielt er mit den Jahreszahlen. Am 9.11. (1989) fiel der Eiserne Vorhang. Am 11. September 2001, in amerikanischer Zitierweise 9/11, ermordeten islamistische Terroristen 3000 Amerikaner. Fischer setzt geschickt auf die sentimentale Beeindruckbarkeit seines Publikums und sagt: Nach diesen beiden „welthistorischen Daten“ musste die Politik der Vereinigung Europas prinzipiell umgestellt werden. Wieso eigentlich?

Natürlich bedeutet der 9.11.1989 – der ungleich bedeutender ist als das Attentat am 11. 9. 2001, dem noch viele folgen dürften – die Notwendigkeit, die alteuropäischen Staaten aus Mitteleuropa erneut als Europa zu akzeptieren. „Die flache Karte an der Wand wird wieder zum Relief“, hat Willy Brandt 1989 gesagt. Prag, Budapest und Warschau sind europäische Städte. Aber die Notwendigkeit, die Handelsstrukturen umzustülpen, enge kulturelle Fäden zwischen West- und Mitteleuropa (und Osteuropa) zu ziehen und dabei mitzuhelfen, dass die Verwüstungen, die der Kommunismus in Mitteleuropa angerichtet hatte, repariert wurden, hätte nicht das euphorische Konzept einer „Vollmitgliedschaft“ von acht mittel- und nordeuropäischen Staaten verlangt. An dieser Entscheidung gibt es jetzt nichts mehr zu deuteln. Das alte Westeuropa muss versuchen, die zehn jetzt akzeptierten Staaten voll zu integrieren; Bulgarien und Rumänien, denen rechtsgültige Zusagen gemacht wurden, kommen noch dazu. Dass man aber mit diesem Konzept nicht beliebig weiter machen kann, liegt auf der Hand. Die Menschen in den aufzunehmenden Staaten interessieren sich natürlich zu allererst dafür, dass die EU ihnen eine wirtschaftliche Entwicklung garantiert, die mit dem Lebensstandard im Westen Europas einigermaßen vergleichbar ist. Kulturelle Kontakte wären ja auch ohne eine Vollmitgliedschaft in der EU möglich gewesen. Die Kohäsionskraft der EU in wirtschaftlicher Hinsicht ist aber keineswegs so groß, dass eine Angleichung der ökonomischen Zustände in Polen an die in Portugal oder Griechenland rasch erreichbar wäre, von der Türkei gar nicht zu reden. Das wird eine wachsende politische Widerborstigkeit der betreffenden Staaten erzeugen. Das heißt: Selbstverständlich musste Europa auf den 9. 11. 1989 durch eine neue Politik reagieren. Der Big Bang, die Vollmitgliedschaft von zehn Staaten, war aber keineswegs alternativlos. Man hätte das Zusammenwachsen West- und Mitteleuropas auch behutsamer organisieren können.

Der verbrecherische Anschlag auf die Twin Towers in New York ist nun ganz und gar keine Rechtfertigung für eine eilfertige Veränderung der Architektur Europas. Es ist eine Fehlkalkulation, dass sich das religiös wie sozial motivierte Gewaltpotenzial des Islamismus durch uferlose Erweiterungen der EU stilllegen ließe. Die EU muss durch eine Kooperation mit den Vereinigten Staaten, aber auch wichtigen Regionalmächten außerhalb der EU, den islamistischen Terror bekämpfen. Dass dies am Besten dadurch geschehen könne, indem man einzelne dieser Staaten – zum Beispiel die Türkei – als Vollmitglied in die EU aufnähme, ist vollständig unbewiesen. Die Türkei ist schon heute Mitglied in allen größeren Sicherheitsorganisationen, wie zum Beispiel den UN, der NATO oder der OSZE. Die Türkei ist auch Teil aller Vereinbarungen über Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen. Es ist absolut sinnvoll, diese Zusammenarbeit durch die „neue Nachbarschaftspolitik“, wie sie im Verfassungsentwurf des Konvents entwickelt ist, weiter zu vertiefen. Warum es aber notwendig sein soll, die Türkei, die durch ihre geographische Lage nahe an 21 von 23 möglichen Konflikt- und Krisenherden liegt, wie sie die NATO definierte, in die EU als Vollmitglied aufzunehmen, bleibt das Geheimnis der derzeitigen Bundesregierung. Wenn Europa uneingeschränkte Handlungsoptionen hätte, hätte dieses Konzept noch eine gewisse Logik. In Wirklichkeit aber sind diese Handlungsoptionen durch die Entscheidungen des Welthegemons USA höchst begrenzt. Wir können – was die EU durchaus wollte – eben nicht sagen: Lasst uns den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern durch konstruktive Lösungen beenden; dann wird der internationale Terrorismus abnehmen. Die Macht der EU, die Konflikte zwischen Ariel Sharon und Yasser Arafat und den hinter ihnen stehenden Strukturen zu beenden, sind trotz der Entwicklung vielfältiger Konzepte durch die EU nahe null. Entscheidend sind letztlich die Amerikaner, niemand sonst. Welchen Sinn macht es in dieser Situation, mit dem Begriff der „strategischen Dimension“ die Aggressionen aus der arabischen Welt nun auch noch auf Madrid und übermorgen auf Köln, München, Brüssel oder Rotterdam zu lenken?

Joschka Fischer hat natürlich Recht, dass Europa nicht so tun kann, als sei es eine Art unbeteiligtes Paradies. Das lässt schon der Hegemon nicht zu. Früher sagte man: mit gefangen, mit gehangen. Inzwischen muss man das weniger zynisch ausdrücken. Aber dass ein Staatenverbund wie die EU, der zwar fähig werden muss, die Probleme im eigenen Hinterhof zu erledigen, auch so tun sollte, als habe er die Macht, ein entscheidendes Wort im Nahen Osten oder gar in Asien mitzusprechen, ist falsch. Erschüttert zu behaupten, der 11. September 2001 zwinge uns zu solcher Selbstüberschätzung, führt nirgendwo hin.

Diese Argumentationskette soll weder auf „feigen“Rückzug von der Front der molekularen Gewalt, auf „appeasement“ und Flucht noch auf die prinzipielle Weigerung Europas hinauslaufen, sich mit arabischen oder asiatischen Problemen auseinander zu setzen. Aber erstens ist bei dem Versuch Europas, mitzuspielen, ein einiges Europa wirksamer als ein gespaltenes. Das hat der Irak-Krieg nun wirklich gezeigt. Und vielleicht sollten sich die Europäer – zweitens – zuerst einmal hinlängliche Transportkapazitäten zulegen, bevor sie „strategisch“ werden? Derzeit sind sie militärisch so schwach, dass sie die Grundentscheidungen des Hegemons kaum beeinflussen können. Das gilt auch für Tony Blairs Vereinigtes Königreich, trotz der viel beredeten „special relationship“.

Europa sollte sich vielmehr klar machen, dass seine Macht nicht dadurch wachsen kann, dass es sich zum unregierbaren Völkerkonglomerat erweitert. Die EU wird nicht zum großen Spieler, indem sie immer mehr Staaten in sich hineinfrisst. Wer in der Weltliga spielen will, muss handlungsfähig sein, nicht einfach nur groß. Fischers Einwände gegen diese Argumentation lauten so: „Wenn wir uns für einen Moment ein Kleineuropa vorstellen, in dem die Entscheidungen einfacher sind, wie würde sich dann der Rest Europas organisieren? Als Hinterhof? Oder würden nicht sofort Antihegemonialreflexe wirksam? Dann wären wir unter erweiterten Bedingungen wieder im alten europäischen Staatensystem – mit all seinen Reibungsverlusten. Die erhöhte Entscheidungsfähigkeit eines kleinen Europas würde sich also als Schein erweisen.“

Dieses Argument ist nicht stichhaltig. Natürlich wird keine Macht der Welt die Polen oder Tschechen daran hindern, sich an Amerika zu orientieren. Das ergibt sich aus ihrer Geschichte. Sie waren viele Jahrhunderte von zwei Mächten bedroht: von Deutschland und Russland. Gleichzeitig waren sie – vielleicht aus falschen Gründen – höchst unzufrieden mit der Integration in einen Vielvölkerstaat, der von Wien aus regiert wurde. Also fürchten sie, dass aus Brüssel Wien werden könnte und orientieren sich nach Amerika. Das wird in den nächsten Jahrzehnten so bleiben. Ein handlungsfähiger europäischer Kern wäre nicht dadurch geschwächt worden, dass die Tschechische Republik oder Estland abweichende Meinungen vertreten hätten. Inzwischen muss man solche Fragen nicht mehr diskutieren. Estland und die Tschechische Republik sind Mitglieder der EU; und es kann jetzt nur noch darum gehen, diese – am 1. Mai endgültig Gestalt annehmende – EU politisch zu gestalten. Die Behauptung aber, dass der machtpolitisch noch über viele Jahrzehnte zweitrangige Spieler Europa alle Probleme schultern müsse, die noch so bizarre amerikanische Administrationen (wie die von George W. Bush) provozieren, ist Heldentum am falschen Platz.

Literaturhinweise

Fischer hat sein neues Konzept am deutlichsten in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.3.2004 (s. dazu S. 128 ff.) erläutert.Über die türkische Position wird man kundig informiert von Mehmet Ali Irtemcelik, „Die Türkei als Regionalmacht“ in den Südosteuropamitteilungen, 6/2003. Das beste Buch über Hegemonie stammt immer noch von Heinrich Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten; 2. Neudruck, Aaalen 1974. Vgl. auch Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2004, S. 25-30

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