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01. Okt. 2005

Die Rückkehr des Religiösen

Was die Kirche wirklich kann: Normen für alle und Selbstkritik für die Welteliten

Mit dem Spenglern kommt das Frömmeln. Die Eliten des Westens sind erschlafft, seine Massen verfettet und verglotzt, Europa ist in Gefahr, von den fleißigen Have-Nots auf dem Weltmarkt zu Boden konkurriert zu werden. So die Diagnose, die dieser Tage nicht nur vom wütenden Kulturkritiker Meinhard Miegel (in seinem jüngsten Buch „Epochenwende“), sondern auch vom angestrengt wilden Romancier Matthias Politicky („Weißer Mann – was nun?“, DIE ZEIT vom 1.9.2005) gestellt wird. Während Miegel etwas bieder nach „Werten“ ruft – mehr arbeiten und weniger konsumieren unten, ein wenig weniger Gier oben –, die doch von der Dynamik, die er mit ihnen entfachen will, chronisch zerrieben werden, findet Politicky: „Politische Mittel reichen nicht mehr.“ Und da ihn nicht nur der Weltbeherrschungswahn asiatischer Manager, sondern auch die überbordende Wut und Potenz braunhäutiger Männer beunruhigen, und ihn überdies gerade die mit echtem Blut und nicht mit Messwein getränkten Voodoo-Rituale auf Kuba gestärkt haben, ist er gierig – nach Religion: „Wirtschaftswachstum – innere Sicherheit – Vollbeschäftigung? Nein, Glaube – Liebe – Hoffnung, darunter scheint’s auch bei uns nicht zu gehen.“

Ach, die „Rückkehr des Religiösen“ ist so neu nicht: Die Sehnsucht nach einem „Gefühl des Glaubens“ begleitet die Moderne, seit die kompakten Volksreligionen verblassten. In jeder Wirtschaftskrise stürmen flatternde Seelen die Tempel mannigfacher Kleingötter: ob nun Nirwana-Spezialisten, Bachblüten-Priesterinnen, Trance-Schamanen, Kristallpropheten oder Jesus-People – mittelständische Heilsunternehmer für plurale Selbst-Erdungen in unsicheren Zeiten.

Auch angesichts neuerlicher wirtschaftsbedingter Widrigkeiten frömmelt es wieder in den Feuilletons. „Wie zur Strafe für Gottlosigkeit“, so Wolf Lepenies kürzlich, seien uns die „weltlichen Glaubensgewissheiten abhanden gekommen“, zuletzt „der große Irrtum der europäischen Aufklärung, der Glaube an das Ende der Religion“. Im Kleinergedachten kommt unter der Parole „Mehr Gott wagen“ dann die pragmatische Nachfrage nach einer Kirche, die sich auf ihr Kerngeschäft besinnen soll – wir lesen wirklich: „Kerngeschäft“ – und das sei nun einmal der „Glauben“ (Jan Roß), sprich ein individuell ansetzender Kontingenzdämpfer, da wir nicht mehr auf ein gutes Welten-Ende im globalen Sozialstaat hoffen können. Im Kern wünschen sich die Feuilleton-Theologen vor allem eine solide Dienstleistungsagentur: mit freundlichen Krankenschwestern, Kindergärten und Konfessionsschulen, die ein gesundes „Elitebewusstsein“vermitteln.

„Religiosität“, als Spiritualität-Light zur Gefühlsstabilisierung; Rückgriffe auf phylogenetisches Erbe zur Aufrechterhaltung zivilisatorischer Wünschbarkeiten – das alles sind sentimentale und funktionalisierende Hilferufe nach Korrektiven für verwackelte Seelen und driftende Gesellschaften. Religion als Korrektiv einer zu weit gegangenen Aufklärung – so auch der Tenor der Diskussion zwischen Papst Benedikt XVI., damals noch Kardinal Ratzinger, mit Jürgen Habermas im vergangenen Jahr. Das Projekt der Moderne, so unisono Philosoph und Papst, droht zu entgleisen. Die Ökonomie zerreibt das normative Unterfutter der Zivilisation, und die Wachstumswissenschaft Biologie zerstört die schwachen Reste fragloser Menschenbilder. Selbst in diesem Gipfelgespräch wird die Religion als Kompensationsmittel zum Zweck gerufen, „Wertedefizite“ der kapitalistischen Moderne auszugleichen; unverzichtbar, so Ratzinger, sei andererseits die europäische Rationalität: gegen den totalen – vulgo: terroristischen – Anspruch nicht durch Theologie modernisierter Religionen oder ihre Reprimitivierung (etwa im Kreationismus amerikanischer Evangelikaler). Und er plädiert für eine Kooperation von (westlicher) Vernunft und christlicher Religion, weil diese beiden „die Weltsituation in einem Maße bestimmen wie keine andere kulturelle Kraft“.

Aber selbst dieser tastende Vorschlag einer weltgeschichtlichen Komplementarität ruft nicht nach einer kraftvollen „Rückkehr der Religion“, in diesem Fall der christlichen. Denn was wäre das: ein christlich angewärmter „mitteleuropäischer Fundamentalismus“, nach dem sich ungestüm Verzweifelnde wie Politicky sehnen? Eine ernst gemeinte „Rückkehr der Religion“ ins wissenschaftliche Zeitalter müsste sich rückbesinnen auf den Ursprung der historischen Ausdifferenzierungen der Moderne, die wir nun als destruktive Spaltungen erleben, weil das Zusammenschießen der zwei weltumspannenden Subsysteme (westliche) Technik und (westlicher) Kapitalismus die lebenserhaltenden Universalien – das Bewusstsein von der Bruderschaft aller Menschen und der Verletzlichkeit der Welt – zur Ohnmacht niedergewirtschaftet hat. Die Kirche müsste die Weichen noch einmal zurückstemmen, die sie in der Renaissance folgenreich für Jahrhunderte gestellt hat, als sie, weltverwoben, „Integristen“ aus den eigenen Reihen wie Campanella oder Giordano Bruno verketzerte, weil diese die Universalität der Katholischen Kirche mit den Erkenntnissen der neuen Wissenschaft und der Forderung von Volksaufklärung und Volkssouveränität vereinigen wollten, Dogma, Ewiges Gericht und Hölle in Frage stellten und so den Boden bereiteten für eine Heiligung des Irdischen. Sie müsste die Aufklärung, die doch in den Klöstern entstand und sich in der Neuzeit in die Systeme des Rechts, der Ökonomie, der Technik und der Kunst auseinander differenzierte, als ihr legitimes Kind betrachten und Verantwortung nicht ihr gegenüber, sondern in ihr übernehmen.

Sie müsste sich weltlich vollenden in dem Umfang, den Friedrich Nietzsche so umriss: „Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im großen leite und, trotz aller Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen … wenn die Menschlichkeit sich nicht durch eine Gesamtregierung zugrunde richten soll.“ Religion, das wissen wir seit Hegel, kann nicht „zurückkehren“, sie kann sich nur in ihre Ausdifferenzierungen „aufheben“. Und als Kirche zweierlei tun: „die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen“ (Ratzinger) freilegen; und, aus dem „mea culpa“ von Johannes Paul II., seiner Bitte um Vergebung für alle historischen Verbrechen der Kirche, die Kraft ziehen, auf den Foren der Welteliten eine ähnliche Selbstkritik der Vernunft, der Macht, der Ökonomie einzufordern. Weltpolitisch hieße das heute vor allem: ein Schuldbekenntnis und eine – wie auch immer symbolische – Wiedergutmachung des Kolonialismus. Das wäre eine Grundlage, auf der wir ein wenig von unserer Angst vor chinesischen Exporteuren und virilen Arabern verlieren könnten.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 84 - 85

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