Die gute alte Zeit kommt nicht wieder
Die CDU/CSU muss aus ihrem außenpolitischen Schlaf erwachen
Die CDU/CSU leidet in der Außenpolitik vor allem unter drei Problemen: dass sie seit über 40 Jahren nicht den Außenminister stellen konnte, dass die Beziehungen zu den USA schwierig sind und dass das Verhältnis in ihren Reihen zwischen Außenpolitikern mit globalem bzw. europazentrischem Ansatz nicht geklärt ist. Diese Probleme haben Auswirkungen auf die Auswahl und Präsentation des politischen Personals sowie auf die Meinungsführerschaft in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Man kann nicht behaupten, dass die Union diese besitzt, auch wenn Angela Merkel zwischen Spätherbst 2006 und Sommer 2007 vor allem als Außenpolitikerin das öffentliche Bild prägte.
Lange stand die Union für Transatlantisches, für Freundschaft zu den USA, für eine enge Beziehung zu Frankreich, für einen klaren Kurs in der Sicherheitspolitik. Helmut Kohl ging höchstes Risiko ein, als er bei seinem Amtsantritt 1982 von Helmut Schmidt das Nachrüstungsthema übernahm und es mit Hilfe der Amerikaner und dem Einsatz von Mitterrand zu einem guten Ende brachte. Aber schon mit Beginn der neunziger Jahre, mit Erreichen der vollen Souveränität für das wiedervereinigte Deutschland, wurde das Bild der Union in der Außen- und Sicherheitspolitik diffus. In gewisser Weise schwankte sie zwischen Amerika-Treue und einer weiterhin vorsichtigen Außenpolitik, die von der letzten Generation mit Kriegserfahrung, den „Flakhelfern“, geprägt war.
Kohl wie Genscher wollten im Grunde ihres Herzens Deutschland bis zum letzten Augenblick davor bewahren, seine Soldaten an die neuen Krisenherde der Welt zu schicken. Es waren dann auch nicht die Parteien im Deutschen Bundestag, sondern das Bundesverfassungsgericht, welches mit mehreren Entscheidungen dafür sorgte, dass sich die Bundeswehr im Rahmen von UN und NATO auf ein Terrain vorwagen durfte, das die Kohl-Generation am liebsten versiegelt hätte. Genscher trat bezeichnenderweise in dem Moment ab, als sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, mit dem Golf-Krieg und dem Bürgerkrieg auf dem Balkan mit geschätzten 300 000 Toten ein neues und zugleich altes Zeitalter abzeichnete. Binnen weniger Monate kehrte nach dem Ende des Kalten Krieges, wenn auch in anderer Form, der Krieg nach Europa zurück. Seitdem sind die Außen- und Sicherheitspolitiker der Union die Getriebenen. Sie müssen Antworten auf jene Ereignisse finden, die mit dem 11. September 2001, dem 11. März 2004 oder dem 7. Juli 2005, den Anschlägen auf U-Bahnen in Madrid und London, verbunden sind. Es kann sein, dass die Begegnung Europas mit dem militanten Islam, die Bekämpfung des weltweiten Terrorismus, Generationen andauern wird.
Die deutsche öffentliche Meinung stellte sich nur zögerlich auf diese Entwicklung ein. Sie zog es vor, in den Denkfiguren der Genscher-Zeit zu verharren. Und da die Vorgehensweise der Supermacht unter George W. Bush alles andere als populär war und ist – man muss im Gegenteil von einem latent vorhandenen Antiamerikanismus in Deutschland sprechen – befindet sich die Union in einem Dilemma. Ihre Amerika-Treue zahlt sich nicht aus. Edmund Stoiber scheiterte an Gerhard Schröder im Wahlkampf auch deswegen, weil er ein deutsches Engagement im Irak signalisiert hatte. Geflissentlich wurde damals wie heute in Deutschland übersehen, dass die alten europäischen Seemächte die USA im Irak militärisch unterstützten, dass dies auch Polen tat und vor allem jene kleinen europäischen Staaten im Westen und Norden des Kontinents, die starke sozialdemokratische und zivilgesellschaftliche Traditionen haben. Die Amerikaner im Verein mit Blair allein waren es jedenfalls nicht, wie selbst in Unionskreisen mittlerweile die Einschätzung und Rechtfertigung wegen der deutschen Irak-Abstinenz lautet.
Die Gesamtentwicklung im Mittleren Osten führte dazu, dass auch Angela Merkel vorsichtig wurde. Sie wartete für Erste einmal ab, auch als der Druck der Bush-Administration, den deutschen Afghanistan-Beitrag zu erhöhen, Anfang 2008 deutlich zunahm. Anscheinend honoriert Bush, dass die Kanzlerin in Wirklichkeit anders denkt und hinter verschlossenen Türen dies auch sagt, auf den schwierigen Koalitionspartner SPD verweist und auf die Bundestagswahlen im Jahr 2009 vertröstet. Das schwer gestörte deutsch-amerikanische Verhältnis auf der Ebene der Spitzenpolitiker wurde repariert. Aber die Unionspolitiker wie die Außenpolitiker der anderen deutschen Parteien wären gut beraten, sich auf überraschende Entwicklungen in den USA einzustellen. Das Nein zu Bushs Antiterrorkrieg, nach innen leicht zu vermitteln, wird bei der neuen US-Administration kaum Gehör, geschweige denn „Ablass“ finden. Im Falle eines Wahlsiegs des Republikaners McCain würde der Antiterrorkampf vermutlich noch in Richtung auf Pakistan erweitert werden. Aber auch ein Wahlsieg der Demokraten würde mit Sicherheit darauf hinauslaufen, dass sich Europa im Nahen und Mittleren Osten militärisch und finanziell stärker engagieren muss. Keine Partei, auch die Union nicht, wagt dem Wähler dies zu sagen.
Dass die führenden Außenpolitiker der Union hinsichtlich der gegenwärtigen Rolle der USA nicht viel anders als ihre Kollegen in den Reihen der SPD denken, hängt auch damit zusammen, dass das Weltbild der deutschen Konservativen während der letzten Jahre und sogar Monate empfindlich gestört wurde. Noch bis zum Beginn dieses Jahrtausends sah es so aus, als wenn der alte Traum der Union Wirklichkeit werden könnte und ein europäischer Bundesstaat im Begriff sei zu entstehen. Außen- und Sicherheitspolitik würden dann nach Brüssel abgetreten werden können. Aber dazu wird es nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge nicht kommen. Großbritannien und vor allem Frankreich, ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat und Atommächte, denken nicht daran, auf ihre Rolle als Ordnungsmächte in kritischen Situationen der Weltpolitik an der Seite der USA zu verzichten. Paris ist unter Sarkozy auf eine proamerikanische Politik umgeschwenkt. Eine prononciert kritische deutsche USA-Politik ist unter solchen Umständen noch schwieriger und noch kostenreicher als bisher durchzuhalten. Frankreich hat seit Jahresbeginn 2008 seinen Einsatz noch gesteigert und dies offenkundig, ohne sich mit dem Partner abzustimmen. Die Regierung beschloss, in Reichweite des Iran und in der Nachbarschaft von Israel und Saudi-Arabien in Abu Dhabi einen Militärstützpunkt zu errichten. Anscheinend ist Sarkozy auch bereit, mehr Kampftruppen nach Afghanistan zu entsenden. Gleichzeitig nehmen die Abstimmungsprobleme zwischen Paris und Berlin zu. Die veränderte Haltung Frankreichs, wozu auch die entschlossene Intervention im Tschad gehört, werden die USA nicht nur registrieren, sondern bei passender Gelegenheit bestimmt auch belohnen.
Dieser Politikwechsel, gepaart mit ungewohnter Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit, trifft vor allem die Union als Hüterin der deutsch-französischen Freundschaft ins Mark. Denn den Außenpolitikern der CDU/CSU gehen mit Sarkozys Alleingängen, zu denen auch eine forcierte -Nuklearexportpolitik in Krisengebiete gehört, wichtige Spielräume verloren. Aber noch bleibt die Union die in europäischen Angelegenheiten am besten vernetzte deutsche Partei, wofür stellvertretend der Abgeordnete des Europäischen Parlaments Elmar Brok und Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering genannt werden können sowie der ehemalige Bundestagsabgeordnete Karl Lamers. Lamers war in der Tradition der Unions-Gaullisten der sechziger Jahre so etwas wie der Vater einer politischen Schule, die auf Frankreich und den europäischen Integrationsprozess setzte, die aber schrumpfte, als die Regierung aus Bonn nach Berlin kam und sich die politische Geographie des Landes nach Osten und Norden verschob.
Vielleicht hing diese Entwicklung auch mit den globalen Prozessen zusammen, auf die die Union – abgesehen von der Klimadebatte – noch keine rechte Antwort gefunden hat. Sie ist gedanklich noch immer eine westeuropäische Partei, die auf eine enge Zusammenarbeit mit den USA setzt, mit der übrigen angelsächsischen Welt, aber auch mit den Staaten Mittel- und Osteuropas gewisse Berührungsängste hat. Die Union hängt der Welt vor 1989 nach.
Währenddessen stieg in Berlin der Stellenwert der deutsch-russischen Beziehungen. Der enge Draht zwischen Schröder und Putin wurde nicht nur von der Union mit Argwohn verfolgt; sie zögert jedoch, die Probleme zwischen Berlin und Moskau in der Öffentlichkeit mit der erforderlichen Deutlichkeit anzusprechen. Denn die Russland-Begeisterung, die mit dem Fall der Mauer ausbrach, hält in Deutschland weiterhin an, die alte Russland-Romantik erlebt eine Renaissance. Der offenkundige Rückzug der Demokratie in Russland wurde und wird weiterhin ausgeblendet. Im Vergleich zur Kritik an den USA herrscht hinsichtlich Russland ein Doublestandard.
Anders sieht es im deutsch-polnischen Verhältnis aus, eine Herzensangelegenheit der Kanzlerin, bei der die eigene Biografie stark ins Spiel kommt. Durch den Regierungswechsel in Warschau erlitt das deutsch-polnische Verhältnis nicht die befürchteten Langzeitschäden, sondern es befindet sich wieder auf dem Pfad, der in den neunziger Jahren eingeschlagen wurde, getragen von einem Allparteienkonsens, der bis zum heutigen Tage vom Kniefall Willy Brandts geprägt wird. Selbst das Vertriebenenthema scheint sich nach dem unlängst erfolgten Besuch von Staatsminister Neumann in Warschau auf eine für beide Seiten akzeptable Lösung zuzubewegen.
Die mit dem Abgang von Kohl eingetretene Zäsur für die Außenpolitiker der Union, die erforderliche Wachablösung, ist nach wie vor nicht vollzogen. Es herrscht eine Zwischenzeit. Noch immer spielen zwei beamtete außenpolitische Berater Kohls in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle, vor allem Horst Teltschik, der lange Jahre die Münchner Sicherheitskonferenz leitete, aber auch Joachim Bitterlich, sein Nachfolger. Die Abgänge von versierten Außenpolitikern in den Reihen von CDU/CSU konnten bislang nicht annähernd kompensiert werden, wenn man an Volker Rühe, Manfred Wörner, Karl-Heinz Hornhues, Karl Lamers, Rudolf Seiters, Theo Waigel, Rita Süssmuth, Brigitte Baumeister, Michaela Geiger, Christian Schwarz-Schilling und Friedbert Pflüger denkt, aber auch an Kurt Biedenkopf und Walther Leisler Kiep. Von den 21 jungen Abgeordneten, die Ende der neunziger Jahre ein Gemeinschaftswerk mit dem Titel „Außenpolitik im 21. Jahrhundert“ veröffentlichten, ist bislang kaum jemand so recht vorangekommen, allenfalls Andreas Schockenhoff und Eckart von Klaeden. Alte Schlachtrösser wie Wolfgang Schäuble und der in den USA bestens vernetzte brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm bleiben als „Außenpolitiker“ für die Union weiterhin unentbehrlich. Die CSU hat sich derweilen, sieht man vom neuen Brüsseler Engagement Stoibers ab, von der Außenpolitik weitgehend verabschiedet. Dabei hat sie Talente in ihren Reihen, u.a. den Bamberger Abgeordneten Thomas Silberhorn.
Unter Angela Merkel – die sich auf den Rat ihres für Außenpolitik zuständigen Abteilungsleiters im Bundeskanzleramt Christoph Heusgen verlässt, einem vorsichtig operierenden, jungenhaft wirkenden Diplomaten, der zuvor Solana beriet – ist wenig Raum für die nachrückenden Außenpolitiker vorhanden. Das Außenamt bleibt für die Union weiterhin versperrt. Und es gilt ein Wort Volker Rühes, wonach man zehn Jahre benötigt, um den Aufgaben auf internationaler Bühne gewachsen zu sein.
Vieles, was in der Union außenpolitisch offen ist, wird zurzeit geschickt moderiert von Abgeordneten wie Ruprecht Polenz, einem bedächtigen Münsteraner, der Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags ist. Mit seinen 61 Jahren ist er ein Mann des Übergangs, keine Gefährdung für die Kanzlerin. Aber es wird Zeit, dass die Union aus ihrer außenpolitischen Ermattung, aus dem von Genscher verursachten Schlaf erwacht. Sie muss, wie es Schmidt während seiner Kanzlerschaft beinahe täglich tat, dem Wahlvolk die Welt erklären, auf die dynamischen Prozesse hinweisen, die am Ende auch zu militärischen Antworten führen können. Keine der deutschen Parteien, auch die CDU/CSU nicht, ist bislang in der Welt angekommen, die sich nach den vergleichsweise sehr ruhigen neunziger Jahren darbietet: eine Welt atemberaubender Veränderungen, die ein Denken in globalen Bezügen verlangt, gepaart mit Mut und Führungswillen. Beides kann man einem europäischen Politiker dieser Tage trotz aller begangenen Fehler und Peinlichkeiten nicht absprechen. Er heißt Nicolas Sarkozy.
Dr. JOCHEN THIES, geb. 1944, ist Sonderkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion bei DeutschlandRadio Kultur. Von 1986 bis 1992 war er Chefredakteur dieser Zeitschrift. Im Januar 2008 hat der Autor in der IP bereits über die SPD und ihre Außenpolitik geschrieben.
Internationale Politik 4, April 2008, S. 84 - 87