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01. Okt. 2007

Das Ende der Symbolpolitik

Neue politische Konstellationen: Berlin muss endlich Position beziehen

Außenpolitisch sind die Tage, als Kanzlerin Angela „Miss World“ Merkel neben vielen lahmen Enten auf der Weltbühne brillierte, vorüber. Nicolas Sarkozy und Gordon Brown setzen eigene nationale Akzente. Für Deutschland könnte sein halbherziges internationales Engagement – etwa bei den Auslandseinsätzen – bald zum Problem werden.

„Die schönen Tage von Aranjuez sind nun zu Ende“, könnte man in Anlehnung an ein berühmtes Zitat aus Schillers „Don Carlos“ zur deutschen Außenpolitik anlässlich der Halbzeit der Legislaturperiode sagen. Denn was noch vor wenigen Wochen nach Führungsstärke und Verhandlungsgeschick der Bundeskanzlerin aussah, wenn man an den G-8-Gipfel von Heiligendamm zurückdenkt oder an den Verfassungskompromiss beim EU-Gipfel in Brüssel, droht der Kanzlerin nun unter den Händen zu zerrinnen.

Denn die außen- und sicherheitspolitischen Alleingänge großer Partnerländer Deutschlands nehmen zu. Bei wichtigen anstehenden Personalentscheidungen in supranationalen Institutionen gab es im Frühsommer keinerlei Abstimmung; Berlin wurde übergangen. Die Hoffnungen, dass der europäische Einigungsprozess nach den Regierungswechseln in Großbritannien und Frankreich an Fahrt aufnehmen könnte, haben sich schon jetzt zerschlagen. Berlin muss im Gegenteil mit einem stärkeren internationalen Auftritt von Großbritannien und Frankreich rechnen. Hinzu kommen die Probleme mit Polen, die sich allerdings mildern könnten, wenn in Warschau demnächst eine neue Regierung zum Zuge kommt. Auch mit Russland ist die Zeit des Honeymoon vorbei. Die militärischen Drohgebärden der einstigen Supermacht nehmen zu. Es wäre fahrlässig, sie als Propaganda im russischen Wahlkampf abzutun. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass die Russen tatsächlich den Versuch unternehmen, ihren Einfluss in der Weltpolitik zu verstärken – mit unübersehbaren Auswirkungen für die Nationen an ihrer Peripherie. So gesehen setzte Außenminister Frank-Walter Steinmeier ein wichtiges Signal, als er zu Beginn des Sommers die baltischen Staaten bereiste – wenige Wochen nachdem der Streit um ein Kriegerdenkmal in Tallinn die öffentliche Meinung im Baltikum aufgewühlt hatte.

Der Abgang von Tony Blair brachte keinen Kurswechsel in der Außenpolitik Großbritanniens. Zwar hat die neue britische Regierung unter Premier Gordon Brown den schleichenden Abzug aus dem Irak fortgesetzt. An der Sonderrolle als wichtigster Juniorpartner der USA hält Brown jedoch fest. Der Schotte ist auch als Privatmann ein Freund Amerikas. Dem Rückzug aus dem Irak, den die USA mit Sorgen und gelegentlicher beißender Kritik verfolgen, steht die Aufstockung des britischen Kontingents in Afghanistan gegenüber. Es wird demnächst 7700 Soldaten zählen und damit mehr als doppelt so stark wie das deutsche Kontingent sein. Ähnlich wie die Kanadier und große Teile der 18 000 Mann starken Interventionstruppe der USA sind die Briten vorrangig im umkämpften Süden Afghanistans stationiert.

Der Druck auf Deutschland, mehr bei Auslandseinsätzen zu leisten, auch militärische Risiken in Kauf zu nehmen, nimmt unverkennbar zu. Der Zusammenhalt der NATO, die ausgerechnet Afghanistan zum Testfall ihrer Bündnisfähigkeit erklärt hat, ist in Gefahr. Und zu den großen Wackelkandidaten gehört – auch wenn dies in Berliner Regierungskreisen nicht eingestanden wird – Deutschland. Nicht von ungefähr richten sich seit kurzer Zeit terroristische Angriffe und Geiselnahmen in Afghanistan gegen Bundeswehrsoldaten, Polizeibeamte und deutsche Staatsbürger. Die Drahtzieher solcher Aktionen beobachten die Innenpolitik jener Staaten, die über ihr Engagement bei Auslandseinsätzen unsicher sind, genau. Noch kritischer als in Deutschland ist die Situation übrigens in Kanada, das bei seinem Afghanistan-Einsatz mittlerweile 71 Soldaten verloren hat (Stand: 30.8.2007). Die Regierung sah sich während der Sommerpause genötigt, eine umfassende Kabinettsumbildung vorzunehmen. Wenn sich in Afghanistan keine Wende zum Besseren abzeichnen sollte, könnte Kanada im Sommer 2009 das erste Land sein, das nach einer Entscheidung des Parlaments seine Soldaten aus dem Gebirgsland am Hindukusch abzieht.

Indirekt trägt Deutschland zu diesem Trend bei, weil die Bundesregierung den in Nordafghanistan stationierten Bundeswehreinheiten untersagte, kanadischen Verbänden in einer kritischen Gefechtssituation im Sommer 2006, die zahlreichen Soldaten bei Kämpfen mit den Taliban das Leben kostete, zu helfen. Das ist in NATO-Kreisen nicht vergessen, es war Bestandteil erregter Debatten bei einer Parlamentarierkonferenz in Kanada.

Die NATO-Verbündeten werden diese Haltung auf Dauer nicht hinnehmen. Denn die Bundeswehr ist auch andernorts nur symbolisch an Antiterroreinsätzen und friedenserhaltenden Operationen beteiligt. Am Horn von Afrika sucht die Bundesmarine auf hoher See nach Schiffen, die Waffen transportieren. Währenddessen befördern arabische Dhaus auf ihren Routen vom Roten Meer nach Süden innerhalb der Hoheitsgewässer der Anliegerstaaten jede Menge Kriegsmaterial in die Krisengebiete. Der aufwendige deutsche Einsatz verpufft. Mit gezielten Schlägen aus der Luft versuchen die Amerikaner unweit des Einsatzgebiets der deutschen Schiffe von Zeit zu Zeit, vermutete Terroristennester zu zerschlagen. Abgestimmt wirkt dies nicht.

Ähnlich sieht es im Libanon aus. Kein Mensch kommt dort auf die Idee, Waffen über See zu schmuggeln, sodass der aufwendige Einsatz der Bundesmarine auch hier ins Leere geht – was die soeben beschlossene Verlängerung nicht ändert. Denn entscheidend – wie überall auf der Welt – ist der Einsatz am Boden, um militärische Entwicklungen, den Schmuggel von Waffen, das Einsickern von Untergrundkämpfern oder Terroristen zu verhindern. Aber noch zieht es die Bundesregierung vor – wohl weil die öffentliche Meinung eine generelle Skepsis gegenüber Auslandseinsätzen an den Tag legt – mit Symbolpolitik über die Runden zu kommen.

Diese Strategie könnte nun vor allem deshalb an ihr Ende gelangt sein, weil Frankreich unter dem neuen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy den erwarteten Kurswechsel in seiner Außen- und Sicherheitspolitik vollzogen hat. Der scharfe Konfrontationskurs gegen die USA seit dem amerikanischen Einmarsch im Irak wurde beinahe über Nacht aufgegeben. Wie Gordon Brown, privater Dauergast in den USA, verbrachte auch Sarkozy seinen Sommerurlaub in Neuengland und wurde auf den Familiensitz der Bushs in Kennebunkport eingeladen. Etwa zur gleichen Zeit reiste Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner in den Irak und hielt sich drei Tage lang in Bagdad auf. Amerikanische und britische Spitzenpolitiker belassen es bei ihren nicht angekündigten Blitzbesuchen in der Regel bei wenigen Stunden. Kouchners Aufenthalt in der „Grünen Zone“ war hingegen zumindest zwei Tage lang öffentlich bekannt – eine mutige Geste.

Natürlich stellte auch Kouchners Visite zunächst nicht mehr als eine symbolische Handlung dar. Aber sie zeigt dreierlei an: Frankreich hat politische und wirtschaftliche Interessen in der Region und ist willens, diese wahrzunehmen. Es ist ferner bereit, den USA bei einem allmählichen Rückzug aus dem Irak zu helfen, also zur Gesichtswahrung der Supermacht beizutragen. Und Paris eröffnet mit der Initiative Kouchners den Vereinten Nationen die Chance, in den Irak zurückzukehren, nachdem der in Bagdad ansässige UN-Repräsentant Color de Mello, ein persönlicher Freund Kouchners, dort im August 2003 bei einem Bombenanschlag getötet und mitsamt seiner Institution förmlich weggebombt worden war.

Auch an diesem Vorgang zeigt sich, dass die deutsche Außenpolitik künftig mit französischen Alleingängen rechnen muss. Die in den Tagen des Irak-Kriegs vielbeschworene deutsch-französische Achse existiert nicht mehr. Das gegen die USA gerichtete Bündnis war taktischer Natur, die französische Haltung beim Nein gegen den Irak-Krieg viel weniger prinzipiell, als es die deutsche Außenpolitik und die deutsche Öffentlichkeit wahrhaben wollten. Merkel und Steinmeier müssen nun zusehen, wie sie dem Land erklären, dass Machtfragen nicht nur in der Innenpolitik eine Rolle spielen, sondern weiterhin auch in der Außenpolitik. Denn es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die wichtigen europäischen Partner Deutschlands daran denken, ihre Außen- und Sicherheitspolitik zu vergemeinschaften. Dies bleibt ein schöner Traum.

Das weltpolitische Szenario der nächsten zwei, drei Jahre – weiter in die Zukunft lässt sich kaum schauen – sieht so aus, dass China und Indien politisch und ökonomisch weiter an Gewicht zunehmen werden und Russland wenig berechenbar bleibt, wie gerade die Krise um das Kosovo zeigt. Großbritannien und Frankreich werden verstärkt an der Seite Amerikas Ordnungsfunktionen ausüben. Sie geben mittlerweile deutlich mehr als Deutschland für Verteidigung aus und unterhalten ein Mehrfaches an Interventionstruppen im Ausland – bei vergleichbarer Gesamtstärke der Streitkräfte. Großbritannien hat soeben militärische Kräfte freibekommen, die jahrzehntelang in Nordirland gebunden waren. Da Deutschland zu harten Auslandseinsätzen (noch) nicht bereit ist, ist auch das anhaltende Bemühen, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erhalten, aussichtslos. Die USA werden den deutschen Vorstoß nicht unterstützen, solange die Große Koalition an ihrer militärischen Symbolpolitik festhält. Nicht nur die SPD neigt zu ihr, zunehmend auch die CDU. Und dass die CSU einmal passionierte Außenpolitiker in ihren Reihen hatte, hält man heutzutage kaum noch für vorstellbar. An profilierten, strategisch denkenden Außenpolitikern mangelt es im Übrigen allen Parteien.

Daher war es ein Fehler, nach dem Kongo-Einsatz der Bundeswehr genauso überhastet den Rückzug aus Afrika anzutreten, wie der Einsatz von Frau Merkel in den ersten Monaten ihrer Kanzlerschaft beschlossen (und den Franzosen zugesagt) worden war. Denn - Afrika bleibt der Kontinent, der für die Europäer von schicksalhafter Bedeutung ist: wegen der Kolonialgeschichte, die Deutschland einschließt, weil man hier mit limitierten militärischen Mitteln Dinge zum Positiven bewegen kann, vor allem aber wegen des Migrationsdrucks über das Mittelmeer, der anhalten wird. Frankreich und Großbritannien sind sich dessen bewusst.

Daher war die Darfur-Initiative von Sarkozy und Kouchner ein wichtiger Schachzug, bei dem die Bundesregierung weitgehend abseits stand. Großbritannien könnte schon bald als zweiter europäischer Akteur in Afrika in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit treten, nämlich dann, wenn die Krise in Simbabwe vollends außer Kontrolle gerät und die Evakuierung von 20 000 Europäern, vorwiegend Farmern britischer Abstammung, zwingend erforderlich wird. Es ist an der Zeit, dass Deutschland in veränderter Lage in Europa seine außenpolitischen Interessen definiert und die Bundesregierung auch öffentlich sagt, was sie will. Die Symbolpolitik trägt nicht länger. Nur eine Große Koalition hat die Kraft, daran etwas zu ändern.

Dr. JOCHEN THIES, geb. 1944, ist Sonderkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion beim Deutschland-Radio Kultur in Berlin. Von 1986 bis 1992 war er Chefredakteur dieser Zeitschrift.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 100 - 103.

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