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01. Apr. 2007

Von Erbfreunden und Eliten

Buchkritik

Wie steht es in einem Jahr, in dem mit den Präsidentschaftswahlen und dem Abgang von Jacques Chirac eine Ära zu Ende geht, um Frankreich und um die deutsch-französischen Beziehungen? Fünf Neuerscheinungen zum Thema ziehen Bilanz, wagen einen Ausblick und stellen zwei der Präsidentschaftskandidaten vor.

„Erbfreunde“ – so lautet der schöne Titel eines Sammelbands zu den deutsch-französischen Beziehungen, der aus einer Ringvorlesung an der Universität Erfurt hervorgegangen ist und von Wolfgang Bergsdorf herausgegeben wird, einem ehemaligen engen Mitarbeiter Helmut Kohls.

Corine Defrance bringt in ihrem Beitrag über die soziokulturelle Beziehung der beiden Länder die aktuelle Situation auf den Punkt, wenn sie von einer freundschaftlichen Gleichgültigkeit im bilateralen Verhältnis während der letzten zehn Jahre spricht. Die Verhältnisse auf staatlicher Ebene seien exzellent, doch beide Gesellschaften ignorierten sich, so die Tageszeitung Le Monde. Eine der Ursachen hierfür liege im Rückgang der Schülerzahlen, die die Sprache des Partners lernen, meint Frank Baasner, Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg. Baasner stellt fest, dass in Frankreich Verwunderung über die kampflose Kapitulation der Deutschen vor dem Siegeszug des Englischen herrsche, und er fordert, der Frage, welche Rolle „die großen kulturell prägenden Sprachen“ innerhalb Europas und in der Welt spielen sollten, mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Weitere Beiträge des lesenswerten Bändchens befassen sich mit dem osteuropäischen, nämlich polnischen Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen, der Zusammenarbeit Frankreichs mit der DDR, dem gescheiterten Verfassungsreferendum, der französischen Familienpolitik und mit den „lieux de mémoire“ beider Länder. Der Historiker Etienne François skizziert eindringlich die deutsch-französischen Zukunftsaufgaben: Das Sprachproblem müsse angegangen werden, Deutsche und Franzosen sollten sich zu ihren Unterschieden bekennen. Die Zweierbeziehung sei schließlich kein Selbstzweck, sie stelle lediglich ein Mittel dar und finde ihre Bestimmung dann am besten, „wenn sie sich selbst überschreitet“.

Markus Kerber, Verfasser eines originellen, aber auch ziemlich unstrukturierten Buches über die deutsch-französischen Beziehungen, könnte diesem Befund sicherlich zustimmen. Bei seinem Parforceritt durch die politische und kulturelle Geschichte Frankreichs sowie durch Währungsunion und Vertrag von Maastricht handelt es sich im Grunde genommen um die Geschichte einer enttäuschten Liebe. Der Jurist und Privatdozent an der Berliner Technischen Universität absolvierte u.a. die École Nationale d’Administration (ENA) und ist ein intimer Kenner Frankreichs. Trotzdem erging es ihm am Ende so wie wohl vielen deutschen Frankreich-Liebhabern: Begeisterung schlägt in Enttäuschung um, wenn man trotz bester Sprachkenntnisse an der arroganten, selbstbezogenen Pariser Hauptstadtelite förmlich abprallt. Kerber liefert hervorragende Insider-Beobachtungen dieser etwa 10 000 Köpfe zählenden Oligarchie und ihrer Netzwerke. Er schildert Verrat und Intrigen und prangert die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz und die Käuflichkeit der französischen Intellektuellen an. Bedenkenswert ist auch seine Kritik an der deutschen Politik und Diplomatie, ihrer „Liebedienerei“ gegenüber den Franzosen, die sich in aller Regel durchsetzten, wenn es etwa um wichtige Personalentscheidungen gehe. Im Zorn geht der Autor so weit, die Frage aufzuwerfen, ob sich Europa weiter zusammen mit den Franzosen ausbauen lasse oder ob man sie vorübergehend isolieren sollte. Er sieht Frankreich in einer Systemkrise, die sich jederzeit gewaltsam entladen könne.

Kerber provoziert mit seinen Überlegungen, doch seine Provokation ist wichtig und notwendig. Das Buch zeigt, dass die deutsch-französischen Beziehungen auch darunter leiden, dass sie sich in den Händen von elitären Grüppchen befinden. Trotz mancher Redundanz, trotz einiger Ausflüge in Gebiete, in denen der Autor nicht sattelfest ist, lohnt sich die Lektüre des Buches.

Wer im Anschluss an Kerber eine Biographie des bekannten französischen Journalisten Franz-Olivier Gies-bert über Jacques Chirac liest, wird dort eine Fülle von Belegen für das abgehobene Dasein der Pariser Oligarchie finden, die Frankreich seit 40 Jahren beherrscht und kontrolliert. Giesbert, der mit dem Präsidenten über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren immer wieder zu Vieraugengesprächen zusammentraf, ist ein ungeheuer dichtes und präzises Portrait der politischen Klasse Frankreichs gelungen. Das von ihm gezeichnete Bild geht weit über die Person des amtierenden Präsidenten hinaus und umfasst pikanterweise die meisten gegenwärtigen Akteure, einschließlich des Präsidentschaftskandidaten Sarkozy. Giesbert erzählt die faszinierende und zugleich abschreckende Geschichte eines Hofes, dessen Personal von einer Intrige zur nächsten jagt. Mittendrin: das gefängnisartige Büro des Präsidenten, der ein Sklave seines Berufs, ein Gefangener des Amtes sei. An anderer Stelle vergleicht Giesbert Chirac mit einem Menschenfresser, der alles mit der gleichen Gier verschlinge: Männer, Frauen, Ideen, Kilometer, Liebschaften, Niederlagen und deftige Gerichte. Alles folge demselben Kreislauf: Nahrungsaufnahme, Verdauung, Ausscheidung. Nichts behalte er bei sich, nicht einmal seine Freunde.

Vielleicht liegt hier, in diesen drastischen Bildern, im Kampf gegen die Einsamkeit und die eigenen charakterlichen Schwächen, der Schlüssel zu der außergewöhnlichen Beziehung zwischen den beiden Männern. Denn Chirac hat Giesbert in einer Weise vertraut, wie dies zwischen einem Spitzenpolitiker und einem Journalisten kaum denkbar erscheint. In Deutschland jedenfalls gibt es kein vergleichbares Buch über das Innenleben der Macht. Giesbert sieht in seinem Protagonisten eine etwas derbere und nicht ganz originalgetreue Neuauflage Mitterrands, mit einem entscheidenden Unterschied: Mitterrand war ein Mann der Rechten, der die Linke verkörperte, Chirac ein Linker, der die Rechte verkörpert. Auch mit dem eigenen Land geht der Autor hart ins Gericht – und Kerber würde schmunzeln: Die Franzosen, so Giesberts Urteil, hätten „ein Faible für die Händler der Illusionen“.

In deutlicher Abgrenzung zur Pariser Elite und zu seinem politischen Ziehvater Chirac positioniert sich Nicolas Sarkozy in seinem Präsidentschaftswahlkampf. Mit dessen politischer Kommunikationsstrategie als einen hochinteressanten Aspekt des französischen Wahlkampfs befasst sich eine Studie von zwei französischen Medienwissenschaftlerinnen, Claire Artufel und Marlène Duroux. Sarkozy, Sohn eines ungarischen Vaters, der sich die französische Staatsbürgerschaft in der Fremdenlegion buchstäblich erdiente, begann im politischen Geschäft als Außenseiter, ohne je eine Eliteschule zu besuchen. Viel näher am Puls der Gesellschaft als seine Konkurrenten, arbeitet der amtierende Innenminister in der Öffentlichkeitsarbeit mit Weggefährten zusammen, die ihn seit seinen politischen Anfängen als Bürgermeister von Neuilly begleiten. Seine mediale Botschaft, so die Autorinnen, sei einfach, aber wirkungsvoll: „Apprendre, comprendre, anticiper pour maitriser“ – lernen, verstehen, vorausschauen, um die Lage zu beherrschen.

Eine über weite Strecken enttäuschende Biographie von Sarkozys Konkurrentin Ségolène Royal hat Heiko Engelkes, langjähriger ARD-Fernsehkorrespondent in Frankreich, vorgelegt. Engelkes zufolge begreift sich die französische Präsidentschaftskandidatin als Figur in einem weltpolitischen feministischen Prozess, der am Ende dazu führen könnte, dass immer mehr Frauen Führungspositionen in Staat und Gesellschaft einnehmen. Wegbereiterinnen für die Kandidatur Royals seien die chilenische Präsidentin Bachelet und Bundeskanzlerin Merkel gewesen.

Den Schlüssel zu Royals politischem Werdegang sieht der Autor in Kindheit und Elternhaus: Die heute 53-Jährige wird als eines von sieben Geschwistern im Senegal geboren und verbringt den Großteil ihrer Kindheit und Jugend in den französischen Kolonialgebieten. Vom Vater in heute kaum vorstellbarer Weise herumkommandiert, ist die hochbegabte Soldatentochter nach Aussage von Mutter und Geschwistern dennoch Liebling des Vaters. Von ihm habe sie den unbedingten Durchsetzungswillen geerbt. Royal genießt dank umsichtiger Lehrer und Förderer eine ausgezeichnete Ausbildung, die sie schließlich zur Eliteschmiede ENA führt. Im Paris der siebziger Jahre knüpft sie jene Kontakte, die den politischen Aufstieg der Sozialistin in den vergangenen Monaten erklären. Sie arbeitet für Mitterrand, stößt in den inneren Kreis der Macht vor und wird wie Merkel Umweltministerin. Rednerisch schwache Wahlkampfauftritte, so Engelkes, gleiche die vierfache Mutter durch geschickt inszenierte Medienauftritte aus, notfalls auch im Bikini.

Trotz einiger interessanter Einblicke präsentiert Engelkes Buch vorrangig Füllmaterial über Wahlkämpfe der achtziger und neunziger Jahre. Der Autor kennt seine Protagonistin nicht wirklich: Er hat sie sozusagen vorbeihuschen gesehen. Als partieller Ausweg hätte sich unter solchen Umständen eine Analyse ihrer öffentlichen Auftritte und politischen Aussagen angeboten. Doch nach Passagen, in denen Ségolène Royals Vorstellungen über die deutsch-französischen Beziehungen, über Europa, über Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik systematisch dargelegt werden, sucht man vergeblich.

Wolfgang Bergsdorf (Hrsg.): Erbfreunde. Deutschland und Frankreich im 21. Jahrhundert. Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2007, 167 Seiten, 10,80 €

Markus C. Kerber: Europa ohne Frankreich? Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006, 222 Seiten, 9,50 €

Franz-Olivier Giesbert: Jacques Chirac. Tragödie eines Mannes und Krise eines Landes. Econ Verlag Berlin 2006, 399 Seiten, 17,95 €

Claire Artufel und Marlène Duroux: Nicolas Sarkozy et la communication. Editions Pepper Paris 2006, 253 Seiten, 17,00 €

Heiko Engelkes: Ségolène Royal. Eine Frau auf dem Weg zur Macht. Aufbau Verlag Berlin 2007, 155 Seiten, 12,95 €

Dr. Jochen Thies, geb. 1944, arbeitet als Sonderkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion beim DeutschlandRadio Kultur in Berlin. Von 1986 bis 1992 war er Chefredakteur dieser Zeitschrift.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2007, S. 130 - 133.

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