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01. Nov. 2013

Die bunten Farben der Macht

In Nicaragua wird Politik theatralisch perfekt inszeniert

Während Nicaraguas Dauerpräsident Daniel Ortega Territorialstreitigkeiten mit Costa Rica und Kolumbien anzettelt, versucht er – zusammen mit seiner omnipräsenten Gattin – die einheimische Bevölkerung mit allerlei Mitteln zu manipulieren und zu vereinnahmen. Zu besichtigen ist eine perfekte Machtperformance.

Wenn es Nacht wird in Managua, erwacht Venezuelas Ex-Comandante Hugo Chávez wieder zum Leben. Mag die nicaraguanische Hauptstadt auch vier Jahrzehnte nach dem zerstörerischen Erdbeben von 1972 düster und architektonisch provinziell geblieben sein (internationale Wiederaufbaugelder hatte sich der damals herrschende Somoza-Clan schamlos einverleibt), die bunt-metallene Installation mit dem Konterfei des im Frühjahr verstorbenen Caudillo leuchtet und blinkt grell inmitten der breiten Avenida Bolívar. 

Freilich erinnert die Light-Show eher an eine pietätlose Freak-Show oder an das Gefunzel einer Vorstadt-Diskothek, sodass für genügend öffentlichen Spott gesorgt ist. Wer will, kann zumindest in Letzterem ein fortwirkend positives Erbe der sandinistischen Revolution von 1979 sehen, eine Meinungsfreude und Angstfreiheit, einhergehend mit einem Bildungsgrad, der in den vergleichbar armen Nachbarländern Honduras, Guatemala oder El Salvador noch immer seinesgleichen sucht. 

Andere Kontinuitäten sind bedenklicher. So regiert der 68-jährige Daniel Ortega – bereits damals nach Somozas Sturz der starke Mann der Revolutionsjunta und dann von 1985 bis 1990 auch offiziell nicaraguanischer Präsident – das Land nun wieder seit 2006. Obwohl seine erneute Kandidatur von 2011 verfassungswidrig war, wurde sie durch eine umstrittene Gerichtsentscheidung ermöglicht – Ortega gewann wiederum, nicht zuletzt aufgrund erheblicher Unregelmäßigkeiten vor und während der Wahlen. 

Es mehren sich somit die Zeichen, dass der Ex-Revolutionär Ortega die populistische Diktatur eines Familienclans anstrebt, der dann jener der Somozas auf beunruhigende Weise ähneln würde. Ironische Pointe: Um Volksnähe zu demonstrieren, empfangen er und seine allgegenwärtige Gattin Rosario Murillo in- und ausländische Gäste nicht etwa im offiziellen Präsidentenpalast, sondern in einem bescheideneren, nach Olof Palme benannten Gebäude. Dabei hatte der schwedische Sozialdemokrat anlässlich einer Nicaragua-Solidaritätsvisite den Sandinisten bereits Anfang der achtziger Jahre ins Stammbuch geschrieben, sie seien gerade dabei, sich durch autoritäres Gehabe von jenem Volk zu entfernen, in dessen Namen sie doch zu regieren vorgaben. 

Kein Zufall deshalb, dass nach der Wahlpleite von 1990, der eine beispiellose, „Pinata“ genannte Finanz- und Landbesitz-Rafforgie der sandinistischen Funktionäre gefolgt war, die Revolutionäre der ersten Stunde mit den Ortegas nachdrücklich brachen. Deren neue Partei, „Movimiento de Renovación Sandinista“, hatte sich nie vom Makel befreien können, lediglich eine hauptstädtisch skrupulöse Intellektuellenvereinigung zu sein. Und doch hätte diese Kraft der demokratischen Linken jene westliche Solidarität wohl viel eher verdient als ihre allzu sehr nach Havanna, Moskau und Ostberlin schielende Vorgängerorganisation. 

Inzwischen haben sich die prominentesten Mitglieder – die auch international bekannten Schriftsteller Gioconda Belli und Sergio Ramírez – längst aus der Tagespolitik verabschiedet und sind zur Literatur zurückgekehrt, in den wenigen verbliebenen, noch nicht über halbprivate Strohmännerfirmen gleichgeschalteten Medien ab und zu resignierte Warnrufe über das Ortega-Regime aussendend. 

Während von den einstmals so lautstarken und vor allem auch in Deutschland aktiven „Nicaragua-Solidaritätskomitees“ im Grunde seit 1990 nichts mehr zu hören ist, sind es nun vor allem jene enttäuschten Altvorderen wie der im Lande noch immer populäre Revolutionsbarde Carlos Mejía Godoy, welche die Ortegas des hemmungslosen Falschspiels zeihen: Aufpeitschende, gegen Costa Rica und Kolumbien gerichtete Reden für die Erweiterung des nicara­guanischen Land- und Wasserterritoriums, dagegen im Inneren trotz antikapitalistischer Rhetorik nicht der Hauch einer fairen Steuerreform, die endlich auch einmal die weiterhin mächtigen Großfamilien des Landes zur Kasse bitten würde. 

Theatralischer Regierungsstil

Stattdessen gibt es jene „Boni“-Almosen für Arme, die bis zu Hugo Chávez’ Tod aus Venezuela flossen und nun von der Regierung selbst bezahlt werden müssen, was riesige Haushalts­löcher verursacht. Gerade auch um von diesem Desaster abzulenken, werden die Erweiterungsarbeiten am Atlantik-Zufluss des Rio San Juan weiter forciert, inklusive der provokativ militärgesicherten Baggeraktivitäten auf jener Grenzinsel, die nach Einschätzung der Vereinten Nationen zu Costa Rica gehört. 

Der vermeintliche Nebenschauplatz – eigentlich, so könnte man meinen, völlig unnütz in einem Land mit nach wie vor immensen Armutsproblemen – enthüllt jedoch pars pro toto das kalkuliert Theatralische von Ortegas Regierungsstil. Nicht allein, dass mit dem Verweis auf das angeblich arrogante (da seit Jahrzehnten kapitalistisch sozialstaatlich prosperierende) Costa Rica patriotische Gefühle geweckt werden können, denen die aus den korruptionsgeschüttelten Regierungsjahren 1990 bis 2006 in denkbar unguter Erinnerung gebliebene „liberal-konservative“ Opposition nichts entgegenzusetzen hat. 

Im hoffnungslos personalisierten Politzirkus Nicaraguas sichert vor allem die charismatische Figur des Edén Pastora, seines Zeichens Koordinator für die Erweiterung des Río San Juan, Ortegas innenpolitisch auf autoritären Konsens, „Versöhnung“ und Umarmung rekurrierende Machtstrategie. Einst als eitel-gutaussehender „Comandante Cero“ der eigentliche Held des Anti-Somoza-Kampfes, Anfang der achtziger Jahre dann einer der erbittertsten und auch militärisch aktiven Ortega-Gegner, stand der wuselige Charismatiker Pastora im Jahre 2006 vor der beruflichen Pleite – und wurde von seinem nunmehr erneut zum Präsidenten gewordenen Freundfeind nicht nur finanziell gerettet, sondern auch zur Vorzeigefigur einer angeblich allen Zwist der Vergangenheit hinter sich lassenden „nationalen Einheit“ gemacht. 

Bewegung und Wiederkehr

Womit wir – als wäre es ein Roman, geschrieben im arbiträr episodenprallen Stil des lateinamerikanischen Synkretismus – auch wieder bei der anfangs erwähnten, so verwegen blinkenden Hugo-Chávez-Installation wären. Daniel Ortegas Gattin, die weniger für ihre Kunst, denn für ihren Machiavellismus berühmt-berüchtigte Lyrikerin Rosario Murillo, ist nämlich auf den Gedanken verfallen, dem knallbunten Machwerk gleich noch ein Ensemble ebenso geschmacklos quittegelber Metallbäume beizugeben. Während jenseits der Avenida Bolívar ein riesiges Feld für Aufmärsche und Massenkundgebungen entstanden ist – es sprechen, das heißt brüllen dort zumeist der Präsident samt Gattin –, sind auf dem Trottoir die altehrwürdigen, Schatten spendenden Bäume abgeholzt worden, um dem spiralförmigen Metall Platz zu machen. 

Reichlich skurril und doch kein Zufall, sagen Kritiker, die freilich die Cleverness der polyglotten Señora Murillo anerkennen müssen: Die geschwungene Kurvenform erinnert an alte, im kollektiven Bewusstsein noch immer präsente und positiv besetzte indigene Symbole für Bewegung und Wiederkehr, die somit assoziativ auf das Präsidentenpaar umgeleitet werden. Hatten – so etwa in den Kolonialstädten Granada und León – nicht schon bereits die Spanier just an den vorherigen Kultstätten der Einheimischen ihre neuen Kathedralen errichten lassen? Nun flattert von Granadas altem hispanischen Fort nicht nur die blauweiße Landesflagge, sondern auch die rotschwarze Fahne der Regierungspartei FSLN, die selbstverständlich ganz auf die Ortegas eingeschworen ist. 

Die Vereinnahmungsstrategie setzt sich selbst auf jenen Plakaten fort, die eigentlich nur darüber informieren, in welcher Stadt und welchem Dorf die Regierung in die Verbesserung der Infrastruktur investiert. Auch hier darf das obligatorische Bild Daniel Ortegas nicht fehlen (oder auch des gemeinsam in visionäre Ferne lächelnden Präsidentenpaares), während ein erster Slogan behauptet, nun sei das Volk an der Macht, und ein zweiter das inzwischen zum Mantra Gewordene herausschreit: „Nicaragua, Cristiana, Socialista, Solidaria – Vamos Adelante!“ 

Das Übermaß an Buntem und Eingekreiseltem, an Groß- und Kleingedrucktem mag wiederum an die Offerten wenig seriöser Unternehmen erinnern, doch tut die Gehirnwäsche ihre Wirkung. Die katholische Kirche ist als Kritikerin der Ortegas längst neutralisiert, wird jedoch beim fortwährenden Verbot der Abtreibung vom pseudolinken Regime gehätschelt, während – ein offenes Geheimnis – der illegitime Sohn des emeritierten Erzbischofs in seiner Position bei der staatlichen Wahlkommission wiederum beim reibungslosen Machterhalt hilft. 

Man könnte all dies nun als typisch lateinamerikanische Seifenoper bezeichnen oder mit vox populi die angeblich auf Kuba erlernte schwarze und weiße Magie der erklärten Tarrot-Kartenleserin Rosario Murillo zur Erklärung herbeirufen – nicht zufällig nennt man die erste Dame mehr oder weniger heimlich „la bruja“, die Hexe. Schließlich war sie es auch, die durch die ostentative Unterstützung ihres Mannes sogar die eigene Tochter hatte mundtot machen können. Diese hatte 1998 ihren Stiefvater Daniel Ortega angeklagt, sie seit 1978 mehrfach sexuell missbraucht zu haben. Das Politikerpaar (von dem gemunkelt wird, es teile längst nur noch Kabinettstisch, aber nicht das Bett) hielt trotz erdrückender Indizien und Beweise sogar diese Belastungsprobe aus, bis endlich eine gerichtliche Entscheidung in ihrem Sinne fiel: Einstellung des Verfahrens aufgrund der Verjährung des mutmaßlichen Delikts. 

Nun sollte das permanente Tohuwabohu allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbstverständlich auch Nicaraguas Politik rationalen Vorgaben folgt – wenn auch lediglich im machttechnischen Sinne. So wie einst der „liberale“ Präsident Arnoldo Alemán in seiner Amtszeit 1997 bis 2002 zielgerichtet zehn Millionen Dollar in die eigenen Taschen geleitet hatte, jedoch von seinem Nach-Nachfolger Ortega zwecks Machtsicherung nur mit Samthandschuhen angefasst wurde, so greift nun die autoritäre Regierungshand absolut effektiv nach dem gesamten Land. 

Man bezeichnet sich in sermonartiger Wiederholung als „Regierung der Versöhnung und nationalen Einheit“, schafft Arbeitsplätze im öffentlichen oder semiprivaten, regierungsverbandelten Sektor, stockt den weiterhin niedrigen Lohn mit oben erwähnten „Boni“ auf – und erwartet im Gegenzug, dass die Angestellten ihre Dankbarkeit auf Massenkund­gebungen und bei Wahlen entsprechend zeigen. 

Läuft etwas schief, wie etwa im Juni dieses Jahres der Protest aufgebrachter Rentner, werden auch schon mal die jugendlichen Schlägertrupps der „Juventud Sandinista“ losgeschickt. Freilich soll derlei nach dem Willen der Ortegas die Ausnahme bleiben, ist es doch auf längere Sicht viel effektiver, das einst in den achtziger Jahren in Pro-Sandinisten und „Contras“ zersplitterte Volk nun gemeinsam zum ursprünglichen John-Lennon-Song des „Give peace a chance“ mitschunkeln zu lassen, den Rosario Murillo mit „Reconciliación“ sogar eigenhändig neu getextet hat: „Alles, was wir wollen, ist Versöhnung.“ 

Mag der altgediente Revolutionssänger Carlos Mejía Godoy auch dem jetzigen Regime wiederholt untersagen, seine eigenen Anti-Somoza-Songs für sich zu reklamieren – die Vereinnahmungsmaschine läuft unverdrossen weiter, und was bereits bei John Lennon ziemlich heranschmeißerisch klang, wird unter den Ortegas nun zur perfekten Machtperformance.

Marko Martin ist Berliner Schriftsteller und Publizist, reist regelmäßig durch Lateinamerika und veröffentlichte soeben „Die Nacht von San Salvador. Ein Fahrtenbuch“ (Die Andere Bibliothek).

 
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 102-106

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