Buchkritik

05. Jan. 2018

Der Westen am Ende?

Drei Bücher erkunden die neue Weltunordnung – die so neu gar nicht ist

Raus aus der Ohrensessel-Behaglichkeit, aber ohne in Hysterie zu verfallen: Aus der Masse der jüngst erschienenen Abgesänge auf das westliche Modell ragen drei Neuerscheinungen heraus. Sie plädieren für weniger Untergangstremolo und mehr demokratisches Selbstbewusstsein, für ein Neudenken des Marktliberalismus und einen „luziden Optimismus“.

Katastrophen- und ­Abschiedsbücher scheinen zurzeit Konjunktur zu haben: die Welt am Abgrund und der Westen am Ende. Genregemäß braucht es dafür alarmistische Redefiguren wie etwa „Noch nie zuvor …“ oder „Bislang undenkbar, dass …“; Wendungen, die vor allem von der ahistorischen Betrachtungsweise ihrer Verfasser zeugen. Wurden „wir“ tatsächlich erst gestern aus der Idylle herausgerissen? Ein wenig erinnert solche Rhetorik an jenes Spiegel-­Gespräch mit Theodor W. Adorno, das – im Jahre 1969 – die Hamburger Journalisten mit diesem Satz einleiteten: „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung …“ Daraufhin der 1953 nach Deutschland reemigrierte Sozialphilosoph: „Mir nicht!“

Die gelungeneren Veröffentlichungen der gegenwärtigen Welle vermeiden deshalb das Tremolo, ohne allerdings weichzuzeichnen. „Ein luzider Optimismus muss von der Möglichkeit des Schlimmsten ausgehen“, schreibt der 1970 geborene Historiker Philipp Blom, dem bereits zahlreiche profunde Veröffentlichungen etwa zur Aufklärung, zum Vorabend des Ersten Weltkriegs, die Zwischenkriegszeit und die Konsequenzen des Kalten Krieges zu verdanken sind.

Alles andere als beruhigend

Die Illusionen der Gegenwart zu sezieren ist freilich eine andere Herausforderung als die Blindheiten der Vergangenheit Revue passieren zu lassen. In seinem Buch „Was auf dem Spiel steht“ untersucht Blom Phänomene wie Wasserknappheit, Klimawandel und Digitalisierung auf ihre gesellschaftlichen Folgen – und die Schlussfolgerungen sind alles andere als beruhigend.

Wie können wir verhindern, dass Kriege künftig (wieder) um Wasserressourcen geführt werden, Migrantenströme gesellschaftliche Balancen erschüttern, „freigesetzte“, de facto also pauperisierte Arbeitermilieus noch weiter in Richtung Xenophobie driften und die technologische Transformation unser ganzes bisheriges Sein unterminiert?

Blom ist Realist genug, die gemeinhin angepriesenen Gegengifte namens „Zivilgesellschaft, neue Energiegewinnung, Bildung, Achtsamkeit, Recycling, lokale Bioproduktion“ etc. mit Skepsis (wenngleich mit Sympathie) zu betrachten. Schon gar nichts abgewinnen kann er wortmächtigen Revolten gegen die Moderne; mit deren Erfinder geht er hart ins Gericht: „Heute wäre der rastlose Narzisst und Apokalyptiker Jean-Jacques Rousseau, wenn er regelmäßig seine Medikamente einnehmen würde, vielleicht Herausgeber einer rechten Nachrichtenseite.“

Aber auch den vermeintlich hyperrealistischen Marktliberalen bescheinigt er heuchlerisches Salbadern angesichts der gegenwärtigen Probleme, ja Katastrophen. Was also könnte helfen? Ein Neudenken eben jener Markt-Idee, sagt Philip Blom, ein Nicht-Abstrahieren von komplexer Realität, ein Abschied von ökonomistischem Gesundbeten und eine Hinwendung zum emanzipatorischen Potenzial, das dem Freihandel ja trotz allem noch immer eigen ist. Freilich müssten dann auch die bislang Ausgeschlossenen in die Lage versetzt werden, mit anderen friedlich zu konkurrieren, um nicht zum Opfer einer „digitalisierten Oligarchie“ zu werden.

Wie sähe eine solche echte „Marktöffnung“ konkret aus? Blom verweist auf unzählige Forschungsprojekte, Expertengespräche und „Manifestationen dieser Entschlossenheit“, die bis dato nur eine Minderheit beschäftigen. Aber standen, so fragt der Historiker nicht ohne Plausibilität, am Anfang großer Reformen nicht immer Einzelne, die weiter dachten? Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht, weshalb er abschließend empfiehlt, besser mit allem zu rechnen: „Einen Satz dürfen wir nie wieder verwenden. Dieser Satz lautet: ‚Das kann nie passieren.‘“

Den Schweiß auf der Stirn

Auch der Publizist Bernd Ulrich, Politik-Chef der ZEIT, warnt in seinem Buch „Guten Morgen, Abendland“ vor einer Ohrensessel-Behaglichkeit, die lediglich Wachstumsdaten vertraut und die Explosivkraft von Emotionen wie Wut und Zorn ignoriert. „Es ist leicht, bei einem wirtschaftlichen Symposium vom Trickle-down-Effekt zu schwärmen, also von der Idee, dass man den Reichen nur genug geben müsse, dann würde für die Armen auch irgendwann was abfallen … Aber wie will man das einem einfachen Arbeiter erklären? Da stocken dann die Argumente, und der Schweiß tritt auf die Stirn.“

Vor diesem Hintergrund wird auch der Wahlsieg Donald Trumps erklärbar – und zum Menetekel: „Die USA nähern sich einem Punkt, an dem China und Russland schon sind: die völlige Verschmelzung von politischer und ökonomischer Macht – mit dem Unterschied, dass sich in Russland und China die politisch Mächtigen reich gemacht haben, während in den USA die Reichen immer unverstellter politische Macht haben.“

Es macht den analytischen, aber auch stilistischen Erkenntnisreiz dieses Buches aus, dass es weder mit moralistischem Schaum geschrieben ist noch die üblichen antiamerikanischen Ressentiments bedient. Umso plausibler ist Ulrichs Analyse jener willkürlichen amerikanischen Außenpolitiken (tatsächlich wohl nur im Plural zu beschreiben, da es zwischen Pentagon und State Department kaum je Übereinstimmung gab), die gleichwohl über die Jahrzehnte hinweg erklärte Feinde und Troublemaker wie Saudi-Arabien oder Pakistan als vermeintliche Verbündete hätschelten.

Diverse Thinktanks, nicht selten geschmiert mit saudischen Öl-Dollars, haben dieser desaströsen Allianz dann auch noch das Gütesiegel besonders smarter Realpolitik verschafft. Darüber hinaus habe Obamas Zickzackkurs gegenüber Syriens Diktator Assad den dortigen Krieg verschärft und Millionen Flüchtlinge nach Europa getrieben, während gleichzeitig der „Fokus auf Asien“ eher Slogan geblieben sei: „Für die Länder Ostasiens gibt es zum hegemonialen Schutz der USA nämlich mehr und mehr eine gar nicht so unattraktive Alternative – den traditionellen Kotau vor China.“

Entsprechend selbstbewusst geben sich inzwischen die autoritär Regierenden auf den Philippinen, in Thailand und Kambodscha. Dem bereits zuvor durchlöcherten universalistischen Werteansatz gibt Trump nun lediglich den Gnadenschuss: „Die USA sind fortan ein Dienstleister ohne missionarischen Anspruch, eine Nation wie jede andere. Nur stärker.“

Ulrich misstraut solch „neuem Realismus“, da dieser einen Wettlauf der Autoritären geradezu provoziere. „Wenn die Liberalen keine bessere Welt mehr wollen, können sie die Welt, wie sie ist, auch nicht bewahren.“ Plädiert wird deshalb für mehr statt weniger demokratisches Selbstbewusstsein, das sich von der temporären Stärke solcher Staaten wie Russland oder der Türkei nicht einschüchtern lässt: „Sie sind zu sehr auf uns fixiert. Unsere Nervosität macht sie sicher, unsere Angst gibt ihnen Kraft.“

Trumps schon jetzt katastrophale Präsidentschaft markiert dennoch nicht das (böse) Ende der Geschichte. Das demografisch schwächelnde Russland wird nicht auf Dauer von hohen Rohstoffpreisen profitieren, und auch Erdogans derzeit erfolgreich scheinender Mix aus Aggressivität und Sozialpaternalismus wird irgendwann an sein Ende kommen. „Das zentrale Paradox nationalistischer und autoritärer Politik: Sie holt die Menschen ab, die sich vor Veränderungen und Ungewissheiten fürchten – nur um ihnen noch mehr Veränderungen und Ungewissheiten zu bringen, als es die Liberalen je gewagt haben.“

Duke Ellington in Bagdad

Einen eher reportagehaften Ansatz wählt die ZEIT-Auslandskorrespondentin Andrea Böhm, um den gegenwärtigen Epochenwandel zu beschreiben. In ihrem Buch „Das Ende der westlichen Weltordnung“ bereist sie diverse unwirtliche Orte und beschreibt deren gewalttätigen Alltag packend. Sie folgt dabei einem Dokument, das sie in einem Museum in Venedig entdeckt hatte: Im 15. Jahrhundert zeichnete ein venezianischer Mönch namens Mauro eine Weltkarte, auf der Amerika selbstverständlich noch nicht verzeichnet war und auch die Raumrelationen zwischen den Kontinenten im Vagen blieben.

Das Verblüffende: Jener Bruder Mauro wusste um die Beschränktheit seines damaligen Weltbilds und versah deshalb die Karte mit hunderten Kommentaren und kleinen Geschichten über das, was man seinerzeit bereits wusste über ferne Orte wie Mogadischu, Kanton, Bagdad und das östliche Mittelmeer.

Wie sieht es nun heute dort aus – wissen „wir“ inzwischen mehr über jene Gegenden? Fast scheint es die Autorin ein wenig zu überraschen, dass zwischen Basra und Gaza nicht jedes Dauer-Desaster „dem“ Westen anzulasten ist. Faszinierend jedenfalls, welche Geschichten sie zum Beispiel in Bagdad ausgräbt: Wie Duke Ellington dort 1963 ein begeistert aufgenommenes Konzert gegeben hatte. Gewiss war das Teil einer Soft-­Power-Strategie der amerikanischen Regierung, in das sich Kalkül gemischt haben mochte – jedoch ein Ereignis, das diejenigen, die seinerzeit Augenzeugen waren, noch heute von Freiheit und Lässigkeit träumen lässt.

Im Juli 1979 war dann der gleiche Ort Schauplatz eines per TV übertragenen Massakers: Staatschef Saddam Hussein ließ die Namen anwesender hoher Politiker verlesen, die als vermeintliche „Verräter“ sogleich verhaftet und kurz darauf „demokratisch hingerichtet“ wurden. Gewiss, „der Westen“ hatte Saddam dann in den achtziger Jahren Waffen geliefert, um den Revolutionsexport des Iran zu stoppen. Aber zeigt nicht selbst dies, dass die „westliche Weltordnung“ bereits seit Langem fragmentarisch ist, widersprüchlich agiert und keineswegs permanent „dominiert“?

Aber auch da, wo es heute um Konflikteindämmung geht, folgt das immer seltener westlichen Modellen, wie Andrea Böhm in Somaliland erfährt, dem friedlichen, vom Failed State Somalia abgespaltenen Landesteil. „Vielleicht stehe ich mitten in einem Zukunftsentwurf: Ein Kollektiv von Menschen mit ausgeprägter nationaler und Klan-Identität, alles andere als multikulturell, aber vernetzt mit Exilgemeinden in aller Welt. Somaliland kann sich sogar gegen den Terror abschotten: Klan-Älteste melden, wenn irgendwo Auswärtige in ihren Dörfern auftauchen, wenn jemand nach Waffen fragt oder plötzlich radikale Predigten hält.“

Das ist genauso verblüffend wie die Erfahrung von Guangzhou (dem früheren Kanton), wo sich im Viertel „Chocolate City“ eine afrikanische Händlerkolonie etabliert hat, die u.a. europäische Altkleider und andere Waren über Südchina in den Kongo verschifft. „Doch abgesehen vom Altkleidermarkt kommt der Westen überhaupt nicht vor.“ Was fehlt, ist auch jede Form moralistischer Heuchelei, geht es dem chinesischen Neokolonialismus in Afrika doch erklärtermaßen lediglich um Rohstoffe und Geld – eine Camouflage durch vermeintliche „Werte“ wird gar nicht benötigt. Die Reporterin sieht’s mit Staunen, widersteht jedoch der Versuchung, diesen kühl interessengesteuerten Pragmatismus als neues Modell anzupreisen. Zu offensichtlich die Gefahr, dass wir auf das Zeitalter eines Jeder-gegen-jeden zusteuern, auf eine Rückkehr des Hobbesschen Wolfsmenschen. Umso wichtiger sind heute Bücher, die unsere harmonisierenden Illusionen sezieren anstatt sie einlullend zu nähren.

Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Jüngst ­erschien sein Erzählband „Umsteigen in Babylon“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 134 - 137

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