Der Status quo bröckelt
Der Streit zwischen Japan und Südkorea über die gemeinsame Geschichte hat eine neue Qualität. Er signalisiert: In der politischen Architektur Nordostasiens stehen große Veränderungen bevor. Und Washington fällt als Führungsmacht aus.
Um Handel geht es nicht beim „Handelsstreit“ zwischen Japan und Südkorea, beim Kollaps der Zusammenarbeit ihrer militärischen Geheimdienste auch nicht um Sicherheitspolitik. Es sind bloß Symptome ihres immer wieder aufflackernden Zankes um die gemeinsame Geschichte. Doch während sich die beiden Regierungen früher bemühten, ihre Wirtschafts- und Sicherheitsbeziehungen von Konflikten etwa über die sogenannten „Trostfrauen“ abzuschirmen, ist der Streit dieses Mal wieder eskaliert: So schlecht wie heute waren die Beziehungen zwischen Seoul und Tokio seit Jahrzehnten nicht. Und so explosiv.
Wer hinter die Schlagzeilen blickt, kann dafür Gründe erkennen: Der politischen Architektur Nordostasiens steht ein großer Umbruch bevor. Mit dem Sturz von Präsidentin Park Geun-hye 2017 hat für Südkorea eine neue Zeit begonnen. Nordkorea bewegt sich. Japan dagegen verharrt im Status quo. Und die Vereinigten Staaten fallen als Führungsmacht aus.
Im Juli verhängte Japans Premier Shinzo Abe Exportkontrollen über drei Spezialchemikalien, die für die Halbleiterproduktion essenziell sind. Damit drohte er, Südkoreas Wirtschaft in eine Krise zu stoßen. Seither boykottieren die Koreaner Bier aus Japan. Sie kaufen auch keine Kleider von Uniqlo mehr, dem japanischen Discounter. Und reisen nicht mehr nach Japan. Die Zahl der Flüge wurde drastisch reduziert, einige Routen wurden ganz gestrichen.
In Japan hetzen viele Medien gegen die Koreaner. In Shin-Okubo jedoch, Tokios Korea-Viertel, sind die Restaurants und Kosmetikläden so voll wie eh und je. Der Groll über den Konflikt ist ungleich verteilt.
Was ist passiert? Auf dem G20-Gipfel in Osaka im Juni gab Abe sich als Hüter des Freihandels. „Er war der Erwachsene im Raum“, lobten die Kommentatoren. Doch nur zwei Tage später verhängte er jene Exportkontrollen, die Südkoreas IT-Industrie erschütterten und die weltweiten Zulieferketten unterbrechen könnten. Das würde ebenso die europäische Wirtschaft belasten und auf die Dauer auch die Japans. (Allerdings hat Tokio die neu fälligen Bewilligungen bisher umstandslos erteilt.)
In der Folge strichen sich Südkorea und Japan gegenseitig von den Listen jener Länder, denen sie vertrauen. Im August weigerte sich Seoul, das bilaterale Abkommen über eine Zusammenarbeit der Militärgeheimdienste zu erneuern. Das hat Tokio geschockt, zumal Seoul besser über Nordkorea informiert ist.
Aus Abes Sicht verhält sich Südkorea wie ein uneinsichtiges, trotzig-ungezogenes Kind. Japans Nationalisten können nicht akzeptieren, dass Nippons einstige Kolonie wirtschaftlich und politisch erstarkt ist und nun als gleichwertig und -berechtigt behandelt werden will.
Japans Premier versuche sich als Trump, meinte Jeff Kingston von der Temple University in Tokio. Wie dieser wolle er ein politisches Ziel per Handelsstreit erzwingen. Abe, „dessen Eifer in der Außenpolitik stets größer war als seine Fähigkeiten“, so Kingston, belästige Südkorea mit „Methoden, die direkt aus Trumps Playbook stammen“. Doch damit gefährde er die weltweite IT-Wirtschaft.
Streit um Geschichte
Tokio streitet seit Jahrzehnten mit allen seinen Nachbarn über Territorien und Geschichte, auch mit China und Russland (und Taiwan). Freilich versuchte der damalige Kabinettssekretär Yohei Kono schon 1993, den Konflikt über die sogenannten „Trostfrauen“ – jene Zehntausende Koreanerinnen, die im Zweiten Weltkrieg als Sexsklavinnen in Japans Feldbordelle verschleppt wurden – mit seiner „Kono-Erklärung“ beizulegen. Er räumte Nippons Schuld ein. Doch vielen Koreanern ging das nicht weit genug, zumal die Erklärung nur vom Kabinettssekretär kam. Kein japanischer Regierungschef hat je unmissverständlich Reue über das Leid, die Gräuel und Verbrechen ausgedrückt, die Japan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über seine Nachbarn brachte. Nur der zurückgetretene Kaiser Akihito. Seinem Vater Hirohito hatte die Regierung das Wort „Reue“ in den 1950er Jahren explizit verboten.
Die Koreaner haben (wie die Chinesen) vergeblich auf eine Demutsgeste wie jene Willy Brandts gewartet, der die Polen 1970 in Warschau mit einem Kniefall um Vergebung bat. Den japanischen Nationalisten ging jedoch schon Kono zu weit. Die halbherzige Versöhnung war deshalb von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Vor vier Jahren zwang US-Präsident Barack Obama die koreanische Präsidentin Park und Abe zu einem neuen Versuch, den Streit „endgültig beizulegen“. Auch dieser ist geplatzt.
Tokio und Seoul streiten freilich nicht nur über ihre Geschichte, sondern auch über zwei Felsen im Meer, die von Südkorea kontrolliert werden, die Japan aber für sich reklamiert. Und sogar über den Namen dieses Meeres.
Alle diese Konflikte sind schon bisher periodisch aufgebrochen, Botschafter wurden einbestellt, Protestnoten ausgetauscht, aber der politische und wirtschaftliche Alltag kaum beeinträchtigt. Ohnehin ging es nie um die jeweilige Sachfrage, sondern ums Ganze: Japans Umgang mit seiner Geschichte, die es nie „zu bewältigen“ versuchte, wie man in Deutschland sagt. Große Teile der politischen Elite Japans verharmlosen oder leugnen die Kriegsverbrechen der japanischen Armee und ignorieren Koreas Narben der Kolonisation. Und Japans Schulbücher stellen Japan nur als Opfer des Zweiten Weltkriegs dar, nicht auch als Täter.
Im Jahre 1965 nahmen Japan und Südkorea mit ihrem Normalisierungsabkommen diplomatische Beziehungen auf. Tokio zahlte Reparationen und gewährte Aufbaukredite. Damit seien, so der Vertragstext, alle Forderungen abgegolten. Doch Südkorea war damals eines der ärmsten Länder, es hatte kaum Verhandlungsspielraum. Zudem regierte damals in Seoul mit Militärdiktator Park Chung-hee ein ehemaliger Kollaborateur und hoher Offizier der japanischen Armee.
Dennoch hat Abe recht, die Zusammenarbeit wurde von diesen Konflikten früher kaum beeinträchtigt. Aus Sicht Südkoreas jedoch hat er, der vermeintlich Erwachsene im Raum, dieses Tabu mit seinen Handelskontrollen als Erster durchbrochen – zumindest potenziell: Er verhängte ja nur Kontrollen, die sich bisher kaum auf den Nachschub der Substanzen auswirken. Abe rechtfertigte seine Maßnahmen anfänglich mit Urteilen des Obersten Gerichts Südkoreas, das japanische Firmen dazu verurteilte, ehemaligen koreanischen Zwangsarbeitern bescheidene Entschädigungen zu zahlen. Sollten sie sich weigern, könnten ihre Ableger in Südkorea enteignet werden.
Weil die WTO solche Handelshemmnisse aus politischen Motiven verbietet, hat Tokio Abes Begründung revidiert; es erklärt die Kontrollen nun mit „Sicherheitsbedenken“. Seoul könnte die Substanzen, die auch in der Giftgasproduktion Verwendung finden, an Nordkorea weiterreichen – was absurd ist. In jener Qualität, die es für Giftgas braucht, sind die Fluor-Verbindungen in Russland frei erhältlich. Und viel billiger als in der hohen Reinheit, die die Elektronikindustrie benötigt.
Ende der Nachkriegsordnung
Nach dem Urteil der koreanischen Richter forderten die Ex-Zwangsarbeiter keine Nachzahlung von Löhnen, sondern Entschädigungen für die Verletzung ihrer Menschenrechte. Das könne mit dem Staatsvertrag nicht abgegolten worden sein, so die Richter. Genau darauf aber beharrt Tokio: Japan habe seine Schulden bezahlt. Taro Kono, bis September Japans Außenminister, schimpfte, die Urteile zerstörten die Nachkriegsordnung. Das ist übertrieben, aber nicht ganz falsch. Aus Sicht Seouls ist diese Ordnung ohnehin überholt und steht vor dem Zerbrechen. Südkorea ist in Bewegung, Japan wirkt erstarrt.
Vielleicht wäre der Konflikt nie so eskaliert, wenn die Regierung von Moon Jae-in die Richter beeinflusst oder die Urteile korrigiert hätte, wie Kono de facto verlangte. Frühere koreanische Präsidenten haben das getan, auch in Japan soll es vorkommen. Moons Regierung jedoch berief sich auf die Gewaltentrennung. Das war für sie nicht nur einfacher, sondern auch innenpolitisch opportun.
Washington garantiert die Sicherheit von Japan, Südkorea und auch Taiwan. Doch diese Garantie scheint zu bröckeln. Nicht erst seit Trump zweifeln viele Südkoreaner an der Bereitschaft der Amerikaner, für sie in den Krieg zu ziehen. Trump beschleunigt diesen Vertrauensschwund. Er hat in diesem Konflikt komplett versagt: Er flirtet mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un, ist aber nicht in der Lage, die engen Verbündeten der USA zur Ordnung zu rufen.
Zumal auch er keine Lösung für Nordkorea findet, dieses verarmte, brutalisierte Überbleibsel des Kalten Krieges. Bisher haben alle Seiten die Kim-Diktatur als kleinstes aller möglichen Übel hingenommen. Doch das Regime braucht Wirtschaftswachstum, um sich an der Macht zu halten. Und Chinas Aufstieg verkompliziert diesen Umbruch Nordostasiens weiter. Dessen Ordnung wird sich grundlegend verändern, nur weiß noch niemand, wie.
Christoph Neidhart lebt in Tokio und war bis September 2019 Ostasien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 12-14